#foratemer – »Temer raus!«

Generalstreik gegen Sozialabbau und korrupte Eliten in Brasilien

Über eine »Brücke in die Zukunft« wollte Brasiliens Staatschef Michel Temer seine Landsleute führen. Doch sie führt in eine schreckliche Vergangenheit. Mit einem »schlanken Staat« sollte die »Jahrhundertrezession« überwunden und die Wirtschaft wieder in Fahrt gebracht werden.[1]

Dagegen demonstrierten Ende April 40 Millionen Beschäftigte und BürgerInnen in 130 Städten. Sie sind nicht bereit, den Weg eines neoliberalen Roll back, mit dem die Rechtsregierung das Arbeitsrecht schleifen und die Renten kürzen will, mitzugehen.

Gewerkschaften, linken Oppositionskräften und sozialen Bewegungen gelang es, Brasilien mit einem Generalstreik 24 Stunden lang lahm zu legen. Die Kritik an der unternehmerfreundlichen Agenda von Temer habe die Gewerkschaften und die Oppositionellen wieder zusammengeführt, die nach »der Absetzung der gewählten Präsidentin Dilma Rouseff aufgrund von politischen Differenzen auf Distanz zueinander gegangen sind«, erklärt Vagner Freitas, Präsident des Gewerkschaftsdachverbandes CUT.

Nicht nur die Bewegung der Wohnungslosen und der landlosen Arbeiter, MTST und MST, zeigten mit Protestveranstaltungen und Straßensperren in den Millionenmetropolen und im tiefen Hinterland Präsenz, auch in der katholischen Kirche fand der landesweite Streik Fürsprecher, da die geplanten »Reformen« den Menschen Rechte nehmen, die in der Verfassung garantiert sind. Der Erzbischof von Maringa, Anuar Battisti, fordert »Würde für alle, für die Armen und die Ausgeschlossenen«.

 

Brasilien von der Krise gebeutelt

Tatsächlich steckt Brasilien in einer tiefen wirtschaftlichen Krise: Die vom niedrigen Ölpreis und von Exportrückgängen gebeutelte Wirtschaft ist seit Ende 2014 insgesamt um mehr als 7% geschrumpft. Der Internationale Währungsfonds (IWF) rechnet für 2017 mit einer Stagnation (0,2%) und für 2018 mit einem für das Land recht mageren Wachstum von 1,7%. Die offizielle Arbeitslosenquote hat sich seit 2015 mehr als verdoppelt. Offiziell sind rund zwölf Millionen Menschen (13%) arbeitslos, tatsächlich sind es weit mehr.

Für die Krise sollen jene zahlen, deren Einkommen nach mehreren Boom-Jahren bereits deutlich zurückgegangen sind. Mit einer Verfassungsänderung wurden im vergangenen Herbst die Haushaltsausgaben für bis zu zwanzig Jahre gedeckelt, Ausgaben für Bildung, Soziales und Gesundheit in Milliardenhöhe gekürzt. Um diese Schocktherapie durchzusetzen, putschte sich Michel Temer letztes Jahr mithilfe rechtskonservativer Abgeordneter, Senatoren und des Medienkonzerns »Globo« ins Präsidentenamt.

Mitte April verabschiedete das Parlament den von Temer eingereichten Verfassungsänderungsantrag, der die wesentlichen Bestimmungen des seit 1943 in Kraft befindlichen und selbst von der Militärdiktatur unberührt gelassenen Arbeitsrechts (Consolidação das Leis do Trabalho-CLT) annullieren soll. Damit werden die ohnehin schon bescheidenen Rechte der Lohnabhängigen durch die Einführung unbegrenzter Teilzeit- und Heimarbeit weiter ausgehöhlt. »Die Reform gibt den Unternehmen die Freiheit, ohne einen einzigen festangestellten Arbeiter zu operieren«, kritisierte João Caires vom Dachverband der Metallarbeitergewerkschaften CNM.

Die Gewerkschaften sollen künftig bei Verhandlungen über Löhne und Arbeitsbedingungen außen vor bleiben, stattdessen sollen die Verhandlungen zwischen Unternehmen und Beschäftigten direkt geführt werden. Auch bei Entlassungen sollen die Gewerkschaften kein Mitspracherecht mehr haben. Hinzu kommt die Schwächung der Arbeitsgerichtsbarkeit.

Doch mehr noch als die »Arbeitsrechtsreform« erbost die Menschen die geplante »Reform des Rentensystems«. Nach den Plänen der Regierung soll das Renteneintrittsalter auf 65 Jahre steigen. Das würde den Renteneintritt für Männer um fünf und für Frauen um volle zehn Jahre verschieben. Gerade in armen Regionen liegen die von der Regierung vorgeschlagenen Werte jenseits der statistischen Lebenserwartung. Den Regierungsplänen zufolge müssen künftig mindestens 49 Jahre lang Beiträge entrichtet werden, um Altersbezüge in voller Höhe zu erhalten. Für die Gewerkschaften ist dies ein Anschlag vor allem auf die Ärmsten, die für ihr Alter nichts zurücklegen können.

 

Angst vor Sozialabbau und Wut auf korrupte Politiker

Es ist die Angst vor einschneidendem Sozialabbau, die nach der Lähmung durch die endlosen Korruptionsskandale und den parlamentarischen Putsch gegen Präsidentin Dilma Rousseff Mitte vergangenen Jahres zu einem neuen Politisierungsschub geführt hat. Die landesweiten Demonstrationen spiegeln die Wut auf die wirtschaftlichen und politischen Eliten des Landes wider, gegen die die Behörden seit 2014 im Zusammenhang mit Schmiergeldzahlungen von Auftragnehmern des Mineralölkonzerns Petrobas, ermitteln. Einige hochrangige Manager und Politiker wurden bereits angeklagt, gegen mehr als 100 Kongressabgeordnete und Provinzpolitiker wird wegen Bestechlichkeit ermittelt, acht Minister des Temer-Kabinetts stehen unter Korruptionsverdacht.[2]

Nun steht der de-facto-Präsident selbst am Pranger. Doch anders als im Fall Rousseff, bei dem die vermeintliche »Missachtung von Haushaltsgesetzen« die Begründung der Amtsenthebung war, stützen sich die Vorwürfe nun auf »strafrechtlich relevante Delikte«. Der 76-jährige Politiker soll nach Angaben des Medienkonzerns »Globo«[3] mit Schweigegeld-Zahlungen an den Mitwisser in einem Korruptionsskandal einverstanden gewesen sein. Das Internetportal von Globo berichtete über belastendes Tonmaterial, in dem einer der Eigner des Agrarunternehmens JBS,[4] Fleischbaron Joesley Batista, Temer erzählt habe, dass er Eduardo Cunha für dessen Schweigen bezahle. Daraufhin habe der Präsident geantwortet: »Das müssen Sie weitermachen, einverstanden?«

Der frühere Parlamentspräsident Eduardo Cunha und Verbündeter Temers beim Sturz von Dilma Rousseff, dem aus Korruptionsgeldern gespeiste Schwarzgeldkonten in der Schweiz nachgewiesen werden konnten, was ihm über 15 Jahre Haft einbrachte, ließ anscheinend durchsickern, er verfüge über umfangreiche Details über die Verwicklung hochrangiger Politiker in Korruption und Bestechung im Zusammenhang mit dem Petrobas-Skandal.

Zwischenzeitlich hat der Oberste Gerichtshof ein Verfahren gegen den Präsidenten wegen des Verdachts auf Bestechlichkeit, Behinderung der Justiz und Bildung einer kriminellen Vereinigung eingeleitet. Zusätzlich muss Temer getroffen haben, dass sich der Konzern Globo, dem er maßgeblich die Staatsführung verdankt, ohne sich je direkt einer Abstimmung stellen zu müssen, jetzt von ihm abwendet. Hatte doch der rechte Medienkonzern mit seiner manipulativen Berichterstattung die Absetzung von Rousseff öffentlich vorangetrieben mit dem Ziel, dass »ihr« Präsident im Interesse des inländischen Kapitals und ausländischer Inverstoren eine neoliberale Agenda umsetzt. Nun hieß es im Editorial von Globo, Temer sei weder moralisch noch politisch in der Lage, das Land zu führen, d.h. aus Sicht der großbürgerlichen Kräfte und des Agro-Business »nicht mehr in der Lage, Reformen durchzusetzen«.

Um den von der Rechtsregierung eingeschlagenen Weg – Beseitigung von Rechten der ArbeitnehmerInnen, Abbau der Sozialsysteme, Unterordnung Brasiliens unter US-amerikanische Interessen – fortsetzen zu können, halten führende Kapitalkreise einen »Wechsel der Pferde« für unerlässlich. Allerdings klammert sich Temer, der laut Umfragen mittlerweile von 90% der Brasilianer abgelehnt wird, trotz zunehmender Rücktrittsforderungen an sein Amt und sieht sich als »Opfer einer politischen Intrige«. Das ist nicht nur Realitätsverweigerung, sondern vor allem Eigenschutz: Sein Amt garantiert ihm Immunität, er muss sich nur vor dem Obersten Gerichtshof verantworten und ein Amtsenthebungsverfahren ist kaum realistisch, da das Regierungslager bisher noch über eine komfortable Mehrheit im Kongress verfügt.

Würde er dennoch des Amtes enthoben, müssten nach geltendem Recht keine Neuwahlen ausgeschrieben werden, sondern der gegenwärtige Parlamentspräsident Rodrigo Maia würde das Amt übernehmen. Eine absurde Vorstellung, denn auch Maia wurde in den Untersuchungen des Korruptionsskandals »Lava-Jato« mit dem Vorwurf belastet, vom Baukonzern Odebrecht 600.000 Reais (rd. 200.000 Euro) an Bestechungsgeldern erhalten zu haben.

 

Die Opposition fordert: »Neuwahlen jetzt!«

Die parlamentarische Opposition, Gewerkschaften und die sozialen Bewegungen fordern daher sofortige Neuwahlen. Doch nichts fürchten die brasilianischen Eliten derzeit mehr als die Forderung »Diretas Já!« – »Neuwahlen jetzt!«. Das »Gespenst« von Neuwahlen, wie es der Politikwissenschaftler Marcos Nobre treffend formuliert, hat einen Namen und heißt Luiz Inácio Lula da Silva. Der 71-jährige Ex-Präsident (2003-2011) liegt trotz der gegen ihn gerichteten Verleumdungskampagnen in einer aktuellen Umfrage des Meinungsforschungsinstituts CNT/MDA zu den Präsidentschaftswahlen Ende 2018 deutlich vor allen anderen Kandidaten.

Jetzt Neuwahlen abzuhalten, würde für die Betreiber des mit Temer eingeleiteten politischen Kurswechsels die Gefahr einer Rückkehr Lulas und damit die Abkehr von einer neoliberalen Politik bedeuten. Auch deshalb steht Lula im Fadenkreuz der Justiz. Mit allen Mitteln soll seine Kandidatur bei Präsidentschaftswahlen verhindert werden. Mit fragwürdigen Methoden haben ihn die politisch motivierten Ermittler der »Lava Jato«-Taskforce unter Leitung des Untersuchungsrichters Sérgio Moro ins Visier genommen. Beweise haben seine Verfolger nach eigenen Aussagen zwar nicht, dafür aber »Überzeugungen« und Powerpoint-Präsentationen, auf denen alle Pfeile auf den angeblichen »Oberkommandierenden einer kriminellen Organisation« hinweisen.

»Der König ist tot, aber noch nicht begraben«, bringt der Politikwissenschaftler Fernando Abrucio von der Universität Getúlio Vargas in São Paulo die Situation auf den Punkt. »Das Begräbnis könnte im Juni stattfinden«, schreibt Thomas Manz in seinem Artikel »Amtsenthebung reloaded?«[5] Denn das Wahlgericht wird in den kommenden Wochen entscheiden, ob die Wahl von Rousseff und Temer im Jahr 2014 wegen illegaler Wahlkampffinanzierung für ungültig erklärt wird. Dann würde der amtierende Präsident sein Amt umgehend aufgeben müssen. Im Fall des Rücktritts sieht die Verfassung vor, dass der Präsident des Abgeordnetenhauses die Amtsführung übernimmt und innerhalb von 30 Tagen indirekte Wahlen des neuen Staatsoberhaupts abhält – wahlberechtigt sind dann nur die Mitglieder des Abgeordnetenhauses und des Senats.

Damit hätten die Eliten zwar die von ihnen forcierten »indirekten Wahlen« durchgesetzt. Zu recht sagte der Sprecher der Landlosenbewegung MST, Guilherme Boulos: »Dieser Kongress hat mitnichten die moralische Autorität, die Wahl eines Staatsoberhauptes abzuhalten – unabhängig davon, wer kandidiert«. Und eine Politik »Demokratie ohne Wahlen« kann nicht auf Dauer gegen das eigene Volk durchgesetzt werden, vor allem nicht in einer Zeit, in der es wieder die eigne Kraft zur Veränderung der politischen Verhältnisse in Brasilien entwickelt.

 

[1] Vgl. Otto König/Richard Detje: Klassenkampf von oben in Brasilien – Goldgräberstimmung der Rechten, Sozialismus Aktuell v. 23.1.2017.
[2] Erwischt hat es auch Aécio Neves, Parteichef der konservativen Partido da Social Democracia Brasileira (PSDB) und Dilma Rousseffs bei der Präsidentschaftswahl 2014 unterlegener Rivale. Er soll vom Fleischkonzern JBS zwei Millionen Reais gefordert haben. Das Oberste Gericht hat Senator Neves von seinem Amt suspendiert. Ein Haftbefehl des Generalstaatsanwalts liegt den obersten Richtern zur Prüfung vor.
[3] Der private Medienkonzern »Globo« wird als »die vierte Gewalt« in Brasilien bezeichnet. Mit 122 Fernsehstationen, mehr als 80 Radiosendern, 15 Zeitschriften und vier Tageszeitungen hat die Firma ein Medienmonopol. Ihr Netz aus Fernsehkanälen ist das zweitgrößte der Welt, jeden Tag wird »Globo TV« von 91 Millionen Brasilianern – also der Hälfte der Bevölkerung – gesehen.
[4] Auf einer Liste von JBS tauchen 1829 Politiker aus insgesamt 28 Parteien als Empfänger von Schmiergeldern auf. Im Wahlkampf 2014 ließ JBS umgerechnet 100 Millionen Euro illegal in die Taschen von Politikern fließen, um sich eine »Reserve von Entscheidungsträgern« zu halten, erklärte ein JBS-Manager. Als Strafe für ihre Vergehen müssen die Batistas umgerechnet 65 Millionen Euro pro Kopf zahlen. Vom Unternehmen selbst fordert die Staatsanwaltschaft drei Milliarden Euro, die Batistas haben bisher 300.000 Euro angeboten (Der Tagesspiegel, 20.5.2017).
[5] Vgl. Thomas Manz: Amtsenthebung reloaded?, IPG 29.5.2017.