Besteht somit nach dem Grundsatz »Pacta sunt servanda« (Verträge sind einzuhalten) ein Rechtsanspruch auf Bonuszahlungen, selbst wenn ein Unternehmen ohne staatliche Hilfen zahlungsunfähig geworden wäre? Bundeskanzlerin Merkel hat dazu - weniger juristisch fundiert als ethisch nachvollziehbar - angemerkt, daß Boni ursprünglich für wirtschaftliche Erfolge ausgesetzt worden sind, nicht für Mißerfolge.
Nun enthält das Bürgerliche Gesetzbuch im zweiten Buch über das Recht der Schuldverhältnisse einen Paragrafen zum Grundsatz von Treu und Glauben im Wirtschaftswesen, und der scheint weder den diskutierenden Politikern, Managern und betroffenen Bürgern noch den beratenden Juristen bekannt zu sein. In § 242 BGB heißt es: »Der Schuldner ist verpflichtet, die Leistung so zu bewirken, wie Treu und Glauben mit Rücksicht auf die Verkehrssitte es erfordern.«
Das bedeutet, daß Verträgen auch ohne eine konkrete Vereinbarung eine sogenannte Clausula rebus sic stantibus innewohnt, was zu Deutsch heißt: Bei einer wesentlichen Änderung der Umstände, die für den Vollzug eines Vertrages entscheidend sind, kann die Geschäftsgrundlage gravierend gestört sein oder sogar entfallen, so daß der Vertrag modifiziert oder aufgelöst werden darf. Diese vom Reichsgericht seit 1920 zum »Wegfall der Geschäftsgrundlage« in die Rechtsprechung übernommenen Grundsätze sind 2002 im Rahmen der Reform des Schuldrechts mit dem § 313 BGB Gesetz geworden. Die Details und genaueren Bedingungen sind in jedem Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch nachzulesen.
Übrigens kennt auch das US-amerikanische Recht diesen Grundsatz, nämlich in Form der »doctrine of change in underlying assumptions«. Auch in den USA können Verträge bei wesentlich veränderten Umständen an die neuen Verhältnisse angepaßt oder aufgehoben werden.
Die Konsequenz daraus: Bonuszahlungen, die unter moralischen Gesichtspunkten nicht gerechtfertigt werden können, weil sich die Umstände gravierend geändert haben, sind zu streichen. Denn was wäre in diesem Zusammenhang ein gravierender Umstand wenn nicht eine globale Finanzkrise, die nicht nur Wirtschaftsunternehmen, sondern auch Staaten an den Rand des Konkurses bringt?
Deutsche wie US-amerikanische Firmen hätten also nach geltendem Recht weder Boni zahlen müssen noch zahlen dürfen. Außerdem wäre es in vielen Fällen möglich, Forderungen auf Bonuszahlungen gegen Schadenersatzansprüche aufzurechnen und somit Zahlungen zu verweigern.
Des Weiteren enthält das Aktiengesetz in den Paragrafen 87, 93 und 116 Bestimmungen, wonach der Aufsichtsrat nicht nur berechtigt, sondern verpflichtet ist, die Bezüge von Vorstandsmitgliedern herabzusetzen, wenn deren Weiterzahlung gegenüber der Gesellschaft eine schwere Unbilligkeit wäre. Das ist der Fall, wenn die Gesellschaft nur mit Hilfe des Staates vor der Zahlungsunfähigkeit gerettet werden kann. Bei Vernachlässigung ihrer Pflichten können die Aufsichtsratsmitglieder als Gesamtschuldner in Haftung genommen werden.
Abgesehen von diesen Möglichkeiten nach den Bestimmungen des Privatrechts wären in Fällen, in denen eine Vermögensbetreuungspflicht bestand, nach deutschem Recht Verfahren wegen Untreue gemäß § 266 Strafgesetzbuch einzuleiten. Die zuständigen Staatsanwaltschaften haben also etliche rechtliche Handhaben, von denen sie Gebrauch machen können und müssen. Warum haben sie die zu Gebote stehenden zivil- und strafrechtlichen Bestimmungen bisher vernachlässigt? Aus Gründen der Opportunität?
Selbstverständlich ließe sich ein »Wegfall der Geschäftsgrundlage« auch auf Verträge über Abfindungen oder Ruhestandsvereinbarungen anwenden, beispielsweise auf die 20-Millionen-Zahlung der Post an den vorbestraften Klaus Zumwinkel. Ob solches geschehen kann, ist allerdings nicht allein eine Rechtsfrage, sondern vor allem eine Frage des politischen Willens, der erfreulicherweise unter den Druck der Öffentlichkeit zu geraten scheint.
Wolfgang Bittner, Jurist und Schriftsteller, lebt in Köln