USA initiieren Debatte darüber, ob Mexiko ein failed state ist
Ist Mexiko ein gescheiterter Staat oder steht er kurz davor? Diese Frage bestimmt immer stärker das Verhältnis zum nördlichen Nachbarn. Die Debatte stammt aus den USA, auch wenn Außenministerin Hillary Clinton die Frage verneint.
Mexiko Stadt, 18. Februar,
kurz nach Mitternacht. Am frühen Mittwoch schlägt ein „gescheiterter
Staat“ zurück. Im Nobelviertel Lomas del Pedregal stellen Militärs den
34-jährigen Vicente „El Vicentillo“ Zambada Niebla, seines Zeichens
Sohn und Angestellter von Ismael „El Mayo“ Zambada, einem der
meistgesuchten Drogencapos der Welt. Der Vorfall, wie ihn die
mexikanische Staatsanwaltschaft zwei Tage später der Presse schildert,
entspricht einer Bilderbuchfestnahme. Mutigen Bürgern erschienen „El
Vicentillo“ und seine fünf Leibwächter mit ihren Sturmgewehren
verdächtig und so alarmierten sie die Behörden. Und die Armee ist
anders als die unnütze Polizei sogleich zur Stelle und zwingt die
Drogenhändler mit ihrem überraschenden Auftreten zur sofortigen
Aufgabe. So schön kann der Krieg gegen die Drogen mitunter aussehen.
Zumindest in staatlichen Presseerklärungen.
Überraschend ist jedoch ein anderer Umstand, nämlich dass gegen den
„kleinen Vicente“ in Mexiko nicht ein einziger Haftbefehl vorliegt.
Dafür wird er in den USA gesucht und demnächst auch den dortigen
Behörden übergeben werden. Von „einem Geschenk“ sprach deshalb die
mexikanische Wochenzeitung Proceso – und noch dazu einem zur rechten
Zeit. Denn Tage später stand der Staatsbesuch Hillary Clintons beim
mexikanischen Präsidenten Felipe Calderón auf dem Programm. Und
eigentlich wollten von der „second Lady“ alle nur eins hören, nämlich
ob das von Gewalt, Korruption und Drogenhändlern geplagte Mexiko nun
ein failed state sei oder nicht.
Wie es überhaupt zu dieser Debatte gekommen ist, scheint rückblickend
nicht mehr so klar zu sein. Fest steht, dass der US-amerikanische think
tank Fund for Peace Mexiko im Juli letzten Jahres auf Rang 105
potentiell vom Scheitern bedrohter Staaten gesetzt hatte. Dabei gehört
das Land jedoch lediglich zu 92 Ländern, zu welchen eine „Warnung“
ausgesprochen wird und nicht zum illustren Club jener 35 Staaten die
offiziell zu „Alarm“-Fällen abgestempelt werden.
So wirklich ernst nahm diese „Warnung“ in Mexiko niemand. Lediglich in den Meinungsspalten und Leitartikeln der linken Tageszeitung La Jornada wurde der failed state ab und zu bemüht um das allgemeine Scheitern der landesweiten „Militarisierung“ zu belegen, mit denen die rechts-konservative Regierung dem Verteilungskrieg der Drogenkartelle beikommen will. Erst Joel Kurtzman, Mitbegründer des neoliberalen Milkin Institutes regte mit einem Beitrag im Wall Street Journal Mitte Februar wirklich eine Debatte an, in dem er vor einem „gescheiterten Staat vor der Haustür“ warnt und in Berufung auf US-Verteidigungsplaner über einen „völligen Zusammenbruch der Zivilregierung wie in Pakistan“ spekuliert. Anders als die mexikanische Linke lobt Kurtzman den Einsatz von 45.000 Militärs im „Krieg gegen die Drogen“. Allein, dies reiche nicht aus und wenn die „epidemische Gewalt“ in Mexiko anhalte, dann „sind die USA gezwungen, Personal an die Grenze zu verlegen.“
Wer so etwas sagt, der wird in Mexiko ganz schnell als „Feind der nationalen Souveränität“ gehandelt. Auch wenn der US-mexikanische Krieg 150 Jahre zurückliegt, der damals erlittene Gebietsverlust des dünn besiedelten Wüstenlands im Norden beschäftigt die patriotische Seele vieler MexikanerInnen bis heute. Ohne das Konzept des failed state auch nur ansatzweise zu diskutieren, versicherte die regierende Partei der Nationalen Aktion PAN geschlossen, wider dem Geschrei „katastrophischer Totenvögel“, den Staat im Griff zu haben. Und Präsident Calderón soll sich laut La Jornada dazu entblödet haben, auszurufen „das Gewaltmonopol bin ich“. Die parlamentarische Linke wiederum, zog sich auf eine revanchistische Verschwörungstheorie zurück. „Der mexikanische Staat ist zumindest politisch gescheitert“ erklärte Porfirio Muñoz Ledo, dessen „Breite Progressive Front“ FAP das Ergebnis der umstrittenen Präsidentschaftswahlen 2006 nicht anerkennt. „Die usurpatorische Regierung darf nicht die Nation in den Abgrund stürzen“ fordern andere linke Kritiker weil sie so „der US-Mafia den Weg ebnen, um Mexiko wie den Irak militärisch zu zerstören“.
Solche Vorwürfe mögen absurd klingen, doch gepaart mit der Kritik der US-Heimatschutzministerin Janet Napolitano, die mexikanischen
Drogenkartelle seien „völlig außer Kontrolle geraten“, steht die
Regierung Calderóns unter Handlungszwang. Die Entsendung zusätzlicher
Militärs und BundespolizistInnen in die Grenzstadt Ciudad Juárez Ende
Februar, um aus der bis dato am härtesten umkämpften Stadt Mexikos ein
Beispiel für die staatliche Rückeroberung von Territorien zu machen ist
das ambitionierteste Beispiel.
Waren es bisher vor allem mutmaßliche Drogenhändler oder Informanten
die nach ihrer Festnahme gefoltert wurden, geht die bundestaatliche
Menschenrechtskommission von Chihuahua (CEDH) inzwischen von über 3.000
verfassungswidrigen Verhaftungen, 4.000 illegalen Hausdurchsuchungen
und über 1.000 Fällen von Folterungen durch die Militärs aus, wovon sie
nach eigenen Angaben 140 genau dokumentiert haben. Präsident Calderón
stellt diesbezügliche kritische Nachfragen als „Informationsproblem“
hin, spricht von „notwendigen Maßnahmen“, davon, „dass die Bekämpfung
der Unsicherheit ihren Preis hat“ und dass der „größte Feind der
Menschenrechte letztlich das organisierte Verbrechen“ sei.
Unterstützung erhält er bei solchen Ausflüchten inzwischen sogar vom
scheidenden Ombudsmann der Nationalen Menschenrechtskommission CNDH
José Luis Soberanas, welcher eine wachsende Bereitschaft des
mexikanischen Verteidigungsministeriums SEDENA zu erkennen glaubt,
„vermutlichen, von Soldaten begangenen Menschenrechtsverletzungen“
nachzugehen.
Bisher ist in Mexiko jedoch noch nie ein Militärangehöriger vor ein
ziviles Gericht gestellt worden. Dabei ist die Aufhebung einer solchen
„Immunität“ sogar als Forderung im „Plan Mexiko“ festgeschrieben,
innerhalb welchem die USA den mexikanischen Staat finanziell, materiell
und organisatorisch beim „Kampf gegen die Drogen“ unterstützt. Vom 400
Millionen Dollar schweren Budget des letzten Jahres sind wegen
fehlender Kooperation in Punkto Menschenrechte 15 Prozent eingefroren
worden. Der Ende Februar verabschiedete neue „Plan Mexiko“ für 2009
erhält diesen Anspruch zwar aufrecht, gleichzeitig deutet vieles darauf
hin, dass das zurückgehaltene Geld vom letzten Jahr ohne Auflagen
ausgeschüttet wird.
Ebenso großzügig zeigt sich die mexikanische Regierung in ihrer
jüngsten Medienoffensive gegen den Drogenkrieg. Bis zu 1,5 Millionen
Euro Kopfgeld gibt es für Hinweise die zur Ergreifung der
Führungspersonals mexikanischer Drogenkartelle führen. Wohin
gefördertes Denunziantentum führen kann, zeigt jedoch der aktuelle
Wahlkampf zu den anstehenden Abstimmungen auf Gemeindeebene und im
Senat. Senatoren- und Bürgermeisterkandidaten aller Parteien werfen
sich gegenseitig vor, von Narcos gesponsert zu werden. Und solche
öffentlichen Verlautbarungen werden von US-Seite nur zu gern wieder
aufgegriffen, um die These vom zumindest „scheiternden Staat“ wieder
aufzugreifen.
Ein Stück weit findet hier jedoch eine diskursive Bloßstellung mexikanischer Politik statt. Es mag stimmen, dass Genaro García Luna, Mexikos Minister für Öffentliche Sicherheit „mit den Kartellen arbeitet“, wie das neuerlich der Leiter der US-amerikanischen Antidrogeneinheit DEA Anthony Placido andeutete. Aber warum dies öffentlich machen? Warum die mexikanische Drogengröße „El Chapo“ auf die Forbes-Liste der Superreichen hieven, ohne dessen Privatvermögen auch nur annähernd schätzen zu können? Warum gestützt auf fragwürdige Statistiken insistieren, dass der Süden der USA von „grenzübergreifenden Banden“ und der „mexikanischen Entführungsindustrie“ erobert wird?
Eine vorsichtige Antwort auf diese Frage gibt Edgardo Buscaglia, Forscher des Mexikanischen Technologischen Instituts ITAM, der darin einen Versuch der USA sieht, den Druck auf Mexiko zu erhöhen. Denn vor allem die finanzielle Infrastruktur der narkotischen Großunternehmen sei bisher so gut wie unberührt von der mexikanischen Antidrogenpolitik geblieben. Buscaglia selbst will herausgefunden haben, dass „Drogengeld heute mit 78 Prozent der legalen wirtschaftlichen Aktivitäten Mexikos verbunden ist“.
Das Journalistenkollektiv Narconews antwortet mit einer Gegenfrage. „Sind Gangs die neue Zielscheibe des Antidrogenkriegs?“ Nicht nur die frisierten Statistiken aus dem Rathaus in Phoenix, auch journalistische Artikel über die massive Rekrutierung Jugendlicher als „Fußsoldaten“ der Kartelle oder Berichte des mexikanischen Ministeriums für Öffentliche Sicherheit SSP legen einen Zunahme von Gangaktivitäten beim Drogenhandel nahe. Narconews sind jedoch einige der wenigen DrogenkriegsberichterstatterInnen, die auch das Konzept der „Gangs“ und ihren Entstehungskontext hinterfragt. Den Bericht der SSP über 26.000 bewaffnete Gangmitglieder in der nordmexikanischen Großstadt Monterrey, kontrastierten sie mit dem Zitat des dort lebenden sozialen Aktivisten Guillermo Martinez Berlanga: „Eine große Stadt, die ihre Jugend allein und ohne Möglichkeiten lässt, ist eine Gesellschaft, die früher oder später den Bach runtergeht.“
Die mexikanische Journalistin Lydia Cacho, geht einen Schritt weiter, wenn es um die politischen Antworten auf diese Entwicklungen geht. Sie spricht von einer Neubestimmung des Drogenhandels auf US-Seite als „terroristische Gefahr.“ In Berufung auf kanadische Geheimdienstunterlagen zitiert Cacho aus einem „Plan A“, der eine „grenzübergreifende Kooperation bei der Antidrogenpolitik“ vorsieht, und einem „Plan B“, „der darin besteht alles Nötige zu tun, um sich gegen die kriminellen Gruppen zu schützen, mexikanische Militärs und Regierende eingeschlossen.“
Und dann sollte endlich Hillary Clinton zu Wort kommen. Ihre eigene Regierung steckte der mexikanischen Presse jedoch schon am Abend vor ihrer Ankunft, dass zwischen 300 bis 400 Mitglieder der Nationalgarde an die US-mexikanische Grenze verlegt und dort außerdem ein regionales FBI-Büro eröffnet werden würden. So blieb es Außenministerin Clinton vorbehalten, diplomatisch die Mitverantwortung der USA am Drogen- und Waffenhandel zu betonen und dem südlichen Nachbarn gleichzeitig 60 Millionen Dollar zum Kauf von Black Hawk-Hubschraubern zu leihen. Und auf der Pressekonferenz dann die alles entscheidende Antwort. Nein, Mexiko sei kein failed state. „Ich glaube nicht, dass es in Mexiko ein nicht-regierbares Territorium gibt“, sagte Clinton. Im Budget des aktuellen „Plan Mexiko“ liest sich das anders. Dort werden dem mexikanischen 12 Millionen Dollar für Ausbildungsprogramme zur Verfügung gestellt, „um die Zahl nicht-regierbarer Territorien zu verringern.“
// Nils Brock
Ausgabe: Nummer 418 - April 2009