Gedanken zum Finanz-Crash 2008 und zur Weltwirtschaftskrise 2009
Wo wir heute mit Hintergrund-Erklärungen zu US-Immobilien, Swaps, CDOs, Leitzinsen, Wechselkursen regelrecht zugeschüttet werden, genau dort war vor geraumer Zeit noch Schweigen im Walde, wenn es um bevorstehende Gefahren hätte gehen müssen. Und nach dem Schweigen kamen aufgehübschte Erfolgsmeldungen und Durchhalteparolen.
Das Ausmaß an Desinformation ist ein wichtiger Bestandteil der derzeit abrollenden Erschütterung. Wir leben in einem Zeitalter, das uns mit einer Vielzahl von Medien umhüllt, die von einer fast unüberschaubaren Menge an Anbietern bestückt werden. Informationen zirkulieren mit Lichtgeschwindigkeit um den Globus. Theoretisch. Praktisch hat sich der Grad der Verdummung und Uninformiertheit im Vergleich zum Jahr 1908 vermutlich nicht großartig geändert.
Die Realwirtschaft an meinem Tresen
Die mögliche Dimension der Krise wurde bis vor kurzem nur in linksmarxistischen Kreisen, wie etwa der syndikalistischen Zeitschrift Wildcat, an die Wand gemalt; auf Seiten des Kapitals musste man sich die Informationen bruchstückhaft zusammen setzen, etwa aus Artikeln der Frankfurter Allgemeinen, des Handelsblatts, der Financial Times und anderen. Ein Bekannter, der in Köln einen mittelständischen Maschinenbaubetrieb mit 12 Angestellten leitet und in meiner Stammkneipe verkehrt, erzählte mir bereits im Sommer 2007, dass er in die USA gereist sei, um dort seine Rentenfonds und sonstige Anlagen unverzüglich aufzulösen. Er rechne mit einem baldigen Zusammenbruch der US-Wirtschaft. Wohlgemerkt zu einem Zeitpunkt, als die Medien-Herde noch das immer gleiche Lied von Wachstum und Konjunktur blökte. Heute hat er seine Firma in eine Gesellschaft mit beschränkter Haftung umgewandelt, damit es im Falle einer Pleite nicht ihm und seiner Familie an den Kragen geht. Noch seien seine Auftragsbücher passabel gefüllt, die entscheidende Phase käme im Mai 2009. Er hat seine Informationen hauptsächlich aus Gesprächen mit den Abnehmern seiner Maschinen, zu denen große Zulieferer der Automobil- und Pharma-Industrie gehören. Interessant ist doch folgendes: Ich erfahre in meiner Stammkneipe in Köln-Ehrenfeld durch Gespräche mit einerseits einem Links-Marxisten, der sich seit Jahrzehnten mit globaler Ökonomie beschäftigt, und andererseits einem sozialdemokratisch geprägten Unternehmer, der innerhalb dieser globalen Ökonomie agiert, mehr über die Weltwirtschaft, als durch meine tägliche Lektüre der Süddeutschen und Frankfurter Allgemeinen Zeitung zusammen kommt. Und was ich am Tresen in Erfahrung bringe, finde ich mit erschreckend großer Verzögerung in genannten Blättern. Nämlich dann, wenn es schon die Spatzen von den Dächern pfeifen.Aktienmärkte und Informationsfluss
Was ich sagen will: Leute, wir werden hier vollkommen verarscht! Das geschieht einerseits aus der strukturellen Dummheit eines völlig verrotteten Systems. Diese speist sich etwa aus Betriebsblindheit, Angst vor der Wahrheit, Denksperren, Glauben an die eigenen Lügen (Autosuggestion). Andererseits aber - kluge Köpfe gibt es durchaus auf der Kapital-Seite - wird dieses Dummhalten mit Absicht erzeugt. Noch immer geistert das Märchen durch die Lande, der Börsen-Crash von 1929 sei vor allem durch Panik entstanden, also durch eine Art unkontrollierter Informationspolitik, die zu falschen Emotionen geführt habe. Wenn alle auf einmal zur Bank rennen, dann würde sie halt zusammen brechen. Logisch, oder? Eine solche Panik unter den Anlegern müsse also tunlichst vermieden werden. Das war die Devise der Informationspolitik zum Finanzcrash. Es gibt dafür kein anderes Wort als Propaganda. Und schon zum Entstehen der Finanzblase gehörte unabdingbar die systematische Desinformation. Rating-Agenturen bewerteten Investment-Banken und deren abstruser werdende „Finanzprodukte" und bürgten damit für deren Qualität. Absurderweise waren die meisten Rating-Agenturen direkt oder indirekt mit eben jenen Instituten verbunden, welche Swaps, CDOs, Ninja-Kredite, Termingeschäfte, Leerverkäufe aller Art heraus gepustet haben. Am Ende dieser Verwertungskette saß dann der Berater deiner Sparkasse, der dir Lehmann-Papiere zur Altersabsicherung aufschwatzen wollte.Ein sich änderndes Bewusstsein
Reden wir also Klartext. Dafür sind Zeitungen wie diese schließlich da. Zusammenbruch und Revolution - Wir müssen uns klar machen, dass wir soeben einen Epochenwechsel durchmachen, der ähnlich einschneidend sein könnte wie der Zusammenbruch des Sowjet-Systems 1989. Und mit diesem Wechsel wird nicht nur eine Veränderung der globalen Wirtschaft einher gehen, sondern auch ein Wechsel in der Art, die Welt zu betrachten und durch die Welt zu gehen. Viele ZeitgenossInnen werden noch aufwachen aus dem Traum von Konsum und Wohlstand. Die Schimäre einer klassenlosen Gesellschaft ist längst zerplatzt. Und der Glaube an ein individuelles Aufsteigen durch Leistung, Talent, Können und Fleiß wird immer grotesker. Alte Werte der Linken und der ArbeiterInnenbewegung hingegen werden womöglich zu neuen Ehren kommen: Solidarität, gegenseitige Hilfe, Selbstorganisation, direkte Kommunikation mit NachbarInnen, KollegInnen und GenossInnen. Die wachsende Anzahl von TeilnehmerInnen bei den letzten Castor-Transporten und die ermutigenden Proteste von SchülerInnen im November 2008 sind deutliche Indikatoren für ein solches sich änderndes Bewusstsein.1755 - 1929 - 1983
Wir können nicht anders, als einschneidende Erlebnisse der Gegenwart anhand von Vorlagen aus der Vergangenheit zu verarbeiten, sie an ihnen zu messen, sie zu vergleichen. Gemeinhin wird 1929 als Referenz für das genannt, was uns bevor stehen könnte. In einem Thesenpapier der Wildcat wurde das Erdbeben von Lissabon am 1. November 1755, welches das portugiesische Weltreich zum Einsturz brachte und als ein auslösendes Ereignis für die französische Revolution gilt, erwähnt. Ich schlage eine andere Referenz vor, nicht als Konkurrenz, sondern als Ergänzung: den 24. Juli 1983. Der CSU-Boss Franz-Josef Strauß fliegt mit seiner Cessna über den eisernen Vorhang und fädelt Milliardenkredite für die marode DDR ein. Es dauert nur noch fünf Jahre bis zum Zusammenbruch des Real-Sozialismus. Im Jahr 2008 hat sich der Zeitraum, in dem „unsere" PolitikerInnen planen, rapide verkürzt. Manchmal sind es nur noch Tage, gar Stunden, die bleiben, um das Schlimmste abzuwenden. Die Insolvenz der Hypo Real Estate hätte Ende September/Anfang Oktober 2008 beinahe für den Kollaps gesorgt. Am 5. Oktober 2008 traten Bundeskanzlerin Merkel und Finanzminister Steinbrück vor die Kameras, nervös, fahrig, geschockt, bei näherem Hinsehen war ein großes L1 auf ihrer Stirn geschrieben, und Merkel sagte den heute schon historischen Satz: „Die Spareinlagen sind sicher", der nichts anderes bedeutete als sein Gegenteil: Es geht ans Eingemachte. Der Staat garantiert die Summe auf deinem Konto, aber er kann nicht garantieren, dass dieses Geld in fünf Jahren noch etwas Wert sein wird. Vielleicht verschwindet es auch einfach, wie die Reichsmark am 21. Juni 1948 verschwand, der Stunde Null.Zusammenbruch wohin?
Anders als beim Zusammenbruch der DDR gibt es heute kein anderes System, in das die Menschen sich flüchten könnten, in welches das Bestehende sich auflösen kann. Der chinesische Kasernenhof-Kapitalismus wird es - Gott sei uns gnädig! - voraussichtlich nicht sein. Ein anderes System müsste erst entstehen. Menschen, die jetzt aufwachen, haben nur die Alternative, selbst aktiv zu werden, an dem schwierigen Prozess teilzunehmen, „die Struktur der neuen Gesellschaft in der Schale der alten zu formen"2 . Die große ungelöste Frage, an der auch die Linke verschiedenster Couleur beständig gescheitert ist, wäre die nach einem alternativen Wirtschaftsmodell, das funktioniert, das also sowohl prosperiert, das innovativ und produktiv ist, als auch sozialverträgliches, selbstbestimmtes, sinnvolles und lustvolles Schaffen zur Grundlage hat. Die Frage ist ungelöst, aber sie steht wieder auf der Tagesordnung.Heiner Stuhlfauth (IWW Köln)
Lesenswert: Wildcat - 23 Thesen zur Krise http://www.wildcat-www.de/aktuell/a064_thesen.html
Anmerkungen: 1 Lüge 2 Zitat aus der Präambel der IWW-Constitution, eingefügt im Jahr 1908: „Die Lohnarbeiter müssen sich nicht nur für tägliche Kämpfe mit Kapitalisten organisieren, sondern auch für die Weiterführung der Produktion, nachdem der Kapitalismus endlich überwunden ist. Indem wir uns industriell organisieren, formen wir die Strukturen der neuen Gesellschaft in der Schale der alten."
Artikel aus: Graswurzelrevolution Nr. 334, Monatszeitung für eine gewaltfreie, herrschaftsfreie Gesellschaft, 37. Jahrgang, Dezember 2008, www.graswurzel.net