Aufbruch in den selbstbestimmten Tod

Die Sterbehilfe-Diskussion blendet Zusammenhänge aus

Die Aufmerksamkeit für das selbstbestimmte Sterben scheint eine Art demokratischer Aufbruch zu sein.

Im parlamentarischen Raum existieren parteiübergreifende Initiativen für ein "Gesetz zur Autonomie am Lebensende". Sterbehilfeorganisationen wollen als Bürgerrechtsbewegung wahrgenommen werden, die für das individuelle Selbstbestimmungsrecht kämpfen.

Öffentliche Diskurse, Medien und Kinofilme rücken Einzel-Schicksale in den Mittelpunkt, die emotionalisieren und dadurch gesellschaftliche Zusammenhänge gezielt ausblenden.
Gesellschaftliche Zusammenhänge, die meines Erachtens im Hintergrund stehen und sich mit den Fragen verbinden: "Wann beginnt menschliches Leben? Wer ist schon oder noch vollwertiger Mensch?" Diese wissenschaftlich anmutenden Fragen der biomedizinischen und medizintechnologischen Debatte führen aber ganz nebenbei Maßstäbe für die Selbstwertanalyse ein, die den auf Behandlungsabbruch basierenden Patientenverfügungen immanent ist.

Blick zurück im Zorn ...

Ein Rückblick in die Vergangenheit zeigt: die Fragen sind gar nicht neu und durchaus nicht erst aufgrund gegenwärtiger medizintechnischer und biomedizinischer Möglichkeiten entstanden.
Wer als Mensch gilt und wer nicht, beschäftigte schon Generationen vor uns. Es ist von jeher eine Frage der gesellschaftlichen Zugehörigkeit und bzw. oder der Stellung und des Wertes einer Person innerhalb seines gesellschaftlichen Systems. Die Frage ist somit abhängig von den gesellschaftlichen Bedingungen. Wechselnde Gesellschaftsformen führen zu unterschiedlichen Antworten. Je nach Zeitalter wird z.B. Sklaven oder auch Frauen das vollwertige Menschsein abgesprochen.
Hinter der Frage, wer als vollwertiger Mensch gelte, verbirgt sich die Frage, wessen Menschenrechte eingeschränkt oder aufgehoben werden sollen.
Meist ist es die politische Entscheidung der jeweils Mächtigen, die je nach Epoche religiös, juristisch oder medizinisch legitimiert wird.
Die medizinische Legitimation hat gegenwärtig Konjunktur.
Aufstieg und Einflussnahme der Mediziner seit dem 19. Jahrhundert1 haben ganz neue Begründungszusammenhänge mit sich gebracht, ein ganz neues Verständnis der Menschen von sich selbst und vom Leben.
Davon beeinflusst zeigte sich damals vor allem das Bürgertum. Es beginnt, sich von seinem Körper, von der Gesundheit des Organismus her zu definieren. Diese Aufwertung des Körpers fällt zusammen mit der Steigerung und Etablierung der bürgerlichen Vorherrschaft in der Gesellschaft.

Vorherrschaft braucht immer Begründung!

Statt wie die Aristokratie ihre Eigenart in Form des "Blutes" zu behaupten, definiert sich das Bürgertum also von seiner körperlichen Gesundheit her - geschützt durch selbst gegebene biologische, medizinische und später auch eugenische Vorschriften, gestützt auf neues Wissen - auf Wissenschaft.
Der Körper, seine Stärke und Gesundheit, die Langlebigkeit des Menschen, Zeugungskraft und Nachkommenschaft stehen im Zentrum des Interesses und werden zu Ansatzpunkten wissenschaftlicher Untersuchungen. Neue Techniken zur Maximalisierung des Lebens entstehen: von Hygiene- und Ernährungsvorschriften bis hin zur Eugenik.
Gleichzeitig werden die biologischen Prozesse wie Fortpflanzung, Geburt, Sterben, Gesundheit und Lebensdauer aber auch zu Gegenständen eingreifender Maßnahmen und regulierender Kontrollen. Eine sorgfältige Verwaltung der Körper und rechnerische Planung des Lebens beginnen unter der Prämisse der Verantwortung für das Leben und der Regie der Wissenschaftszweige Demographie und Medizin.

Eine Bio-Politik der Bevölkerung etabliert sich

Über die Denkfigur der "Verantwortung für das Leben" verschafft sich diese Bio-Politik den Zugang zum Körper und erhält Macht über ihn.2
Mit der wachsenden Bedeutung von Wissenschaftlichkeit verbindet sich ein Deutungswandel: was bisher gestützt durch die Kirche in den Kategorien des Moralischen oder Dämonischen gesellschaftlich geächtet wurde (bestimmtes Verhalten von Frauen, Perversion und Behinderung), findet jetzt seine Beherrschung durch neue Technologien: die Medizinierung der Sexualität der Frau, die Psychiatrisierung der so genannten Perversionen und die Programme der Eugenik.
Die theologischen Begründungen für Aussonderung und Stigmatisierung werden spätestens seit dem 19. Jahrhundert von therapeutischen abgelöst.
Die Anpassung menschlichen Lebens an eine vorgegebene Norm ist die Grundlage der Entwicklung der neuen Bio-Politik.
Sie basiert auf Freiwilligkeit, auf der Einsicht der BürgerInnen in die wissenschaftlich fundierten Zusammenhänge der Maximalisierung des Lebens.
Um das Leben und seine Bedingungen von Gesundheit und Fortpflanzung sichern zu können, so argumentiert sie, muss fortlaufend regulierend und korrigierend eingegriffen und alles menschliche Leben in einem Bereich von Wert und Nutzen organisiert werden.
Durch ein System von Qualifizieren, Messen, Abschätzen und Abstufen werden die Menschen so auf eine Norm hin ausgerichtet. Diese Norm wiederum orientiert sich an den gesellschaftlichen Bedingungen, in erster Linie an den ökonomischen Notwendigkeiten.
Die Korrektur des Vorfindlichen durch Ausgrenzen oder Vernichten der Leidenden und Kranken, wie sie die Biotechnologie bereits erfolgreich etabliert hat - in der BRD durch die pränatale Euthanasie -, prägt inzwischen das Bewusstsein der "Gesund und Fit Generation" des 21. Jahrhunderts.
Langes Leben, Leben außerhalb der festgelegten Norm und ohne gesellschaftlichen Nutzen erscheint als unzulässige Verschwendung in einer auf Funktionalität basierenden Industriegesellschaft.
Die skizzierte historische Entwicklung macht deutlich, dass die Fragen der Bioethik nicht von neuzeitlicher Medizintechnik evoziert wurden, sondern in der Tradition gesellschaftspolitischer Sicherung von Einfluss und Vorrang stehen. Insbesondere sind sie verknüpft mit einem ökonomisch funktionalen Blick auf menschliches Leben.
Somit verlangen die Fragen nicht allein nach Antworten aus ethisch-moralischer, sondern ebenso sehr nach Antworten aus gesellschaftspolitischer Sicht.
Der aktuelle Diskurs zur Legalisierung der Sterbehilfe bzw. zu tödlichen Behandlungsgrenzen, wie sie die Patientenverfügungen einführen, ist daher in seinen gesellschaftlichen Auswirkungen kritisch zu bedenken.

Autonome Verzicht-Kultur

Die aktuelle Debatte ist in der Öffentlichkeit jedoch bereinigt von gesellschafts-politischem Kalkül und dort allein bestimmt von einer individualistischen Argumentation, die das individuelle Recht auf einen vermeintlich selbstbestimmten Tod in den Vordergrund stellt.
Dazu beigetragen haben die Inszenierungen einer hochtechnisierten Medizin und medienwirksame Einzelschicksale.
Mit dem Hinweis auf ein grundrechtlich verbrieftes "Selbstbestimmungsrecht" fordern PolitikerInnen, Juristen und Patientenverbände inzwischen auch außerhalb der Sterbephase einen tödlichen Behandlungs- und Ernährungsabbruch als "passive Sterbehilfe"- nach eigenem Willen oder über die Mutmaßung von anderen.
Immer wieder wird betont, dass die aktive Sterbehilfe, die Euthanasie - anders als in den Niederlanden oder Belgien - bei uns nicht legalisiert werden soll. Die Entwicklungen in den Nachbarländern beeinflussen dennoch unsere Debatte. Im übrigen wurde die Euthanasie dort auch erst im Nachgang zu Patientenverfügungen eingeführt. Beides hängt somit eng zusammen.
Patientenverfügungen gehören zudem in den größeren Zusammenhang des vom Europarat 2003 verordneten Nachdenkens über Euthanasie und Sterbebegleitung.3 Von dort wird eine einheitliche europäische Regelung am Lebensende angestrebt.
Aufgrund unserer Vergangenheit wird die Euthanasie selbst in der BRD weitgehend tabuisiert. Auch deshalb richtet sich die öffentliche Diskussion zunächst schwerpunktmäßig auf die Patientenverfügungen. Sie regeln den sog. Behandlungsabbruch und die Organspende.
Der Behandlungsabbruch ist insofern interessant, da medizinische Basisversorgung sowie lebenserhaltende Maßnahmen - auch unter Einsatz von Technik - ebenso wie Schmerztherapie das Fundament ärztlichen Handelns bilden. Lebenserhaltung und Heilen sind der Arztberuf. Bisher.
Wir sehen, dass ÄrztInnen in den Nachbarländern auch das Töten in ihr Ethos einbeziehen.
Aber die Mehrheit der ÄrztInnen - so vermute ich - will die Aufgabe des Tötens von Menschen nicht übernehmen. Sie würde jedoch akzeptieren, wenn ein Mensch bestimmte Behandlungen nicht will - auch dann, wenn diese Unterlassung zum Tode führen würde.

Freiwilliger Behandlungsverzicht!

Das ist gar nicht neu, sondern verfassungsrechtlich verbrieft, seit es die BRD gibt. Selbstbestimmung des Patienten gehört zu den Grundrechten in unserem Land und konnte auch bisher schon wahrgenommen werden.
Wir konnten immer schon ärztliche Behandlungen abbrechen und das Krankenhaus auf eigenen Wunsch verlassen.
Medizinische Versorgung unterliegt keinem Zwang.
Wenn wir allerdings aufgrund von Krankheit nicht mehr entscheidungsfähig sind, dann hat bisher der Arzt die Verantwortung übernommen und sich für die Erhaltung unseres Lebens eingesetzt. Oder in den letzten Stunden des Lebens eines Menschen mit dessen Angehörigen beraten, was noch getan werden sollte und was nicht.
Das könnte jetzt anders werden.
Die Patientenverfügungen bieten einen Rahmen, in dem der Behandlungsverzicht im voraus für bestimmte Situationen festgelegt werden soll.
Vorab-Formulare für den Fall hoffnungsloser Krankheit, schwerer Behinderung, Koma oder Pflegebedürftigkeit im Alter sollen "gutes" Sterben ermöglichen und "unnötiges" Leiden verhindern. Das Gebot der Stunde lautet: Vorsorge treffen für eine zwar unbekannte, aber bedrohlich erscheinende Zukunft.
Damit werden gleichzeitig entsprechende Krankheitsverläufe, Behinderungen, Koma und hohe Pflegebedürftigkeit als Lebensphasen minderer Qualität charakterisiert. Darüber scheint schon ein gesellschaftlicher Konsens zu bestehen, von dem aus man bei schlechter Prognose und mangelnder Besserungsaussicht dann einen schnellst möglichen Tod wünscht.
Vor dem Hintergrund eines zunehmend ökonomisierten Gesundheitsmarktes, den Rationierungen, der demografischen Entwicklung und dem schon jetzt offensichtlichen Pflegenotstand in der Versorgung alter Menschen kann diese Entwicklung zu denken geben.
Was geschieht, wenn der ökonomische Druck mehr und mehr das Diktat bei der Behandlung und Pflege von Kranken, Schwerstkranken und alten Menschen übernimmt, wenn die fatalen Folgen der Kostendämpfung im Gesundheitswesen zunehmend spürbar werden?
Krankenhäuser und Pflegezentren müssen wirtschaftlich arbeiten und Behandlungskosten kalkulieren. Aufgrund von Rationierungen und Vergütungen nach Fallpauschalen werden medizinische Leistungen immer mehr nach Kosten-Nutzen-Kalkulationen angeboten.
Fraglich ist schon jetzt, ob notwendige medizinische und pflegerische Leistungen für schwerstkranke oder pflegebedürftige Menschen immer gewährleistet sind.
Anders als in den 70er Jahren, als die Debatte über Sterbehilfe vor allem von der Angst vor der so genannten Apparatemedizin getragen wurde, vor einer das Leben qualvoll verlängernden "Überbehandlung", stellt sich heute vielmehr die Frage, wie kann eine notwendige medizinische und pflegerische Grundversorgung garantiert werden. Teure Hightech-Medizin und institutionelle Unterversorgung sind anscheinend zwei Seiten einer Medaille.
Patienten sind zu "Kunden" geworden, deren Eigenverantwortung gefragt ist und denen Selbstbestimmung versprochen wird, wie eben auch durch eine gesetzlich geregelte Patientenverfügung.
Diese ruft uns in die Verantwortung, dem Arzt den Druck der Entscheidung zu nehmen und medizinische Leistungen abzuwählen, die der Gesellschaft ohnehin zu teuer sind.

Einsicht und freiwilliger Verzicht kennzeichnen die autonomen BürgerInnen.

Angesichts der Maßnahmen zur Kostendämpfung und Leistungsrationierung, angesichts des offensichtlichen Pflegenotstands bleibt der eingeforderten "Patientenautonomie" in der Realität nur Begrenzung und Verzicht.
Aber auch unabhängig von dieser sehr einseitig auf Verzicht ausgerichteten Patientenautonomie ist eine Patientenverfügung an sich bedenklich.
Es fragt sich nämlich, ob solche Verfügungen und die viel beschworene Autonomie passende Instrumentarien sind für so sensible Situationen wie schweres Leiden oder letzte Lebensphase.
Eignen sich existentielle Krisensituationen wie diese für autonome Entscheidungen des Individuums - noch dazu lange im Vorfeld?
Mit zunehmender Schwere der Krankheit steht häufig eher der Wunsch nach fürsorglicher Behandlung als nach autonomer Entscheidung im Vordergrund, das betonen SeelsorgerInnen und auch MedizinerInnen.
Der Blick auf die 20-jährige Erfahrung mit Patientenverfügungen in den USA stützt diese Sicht. Dort wurde versucht, mit einer 100 Millionen Dollar teuren Werbekampagne die Patientenverfügungen (Patient-Self-Determination) zu etablieren.
Alle staatlich geförderten Krankenhäuser, Pflegeeinrichtungen und Hospize wurden verpflichtet, ihren Kranken den Nutzen der Patientenverfügungen zu erklären.
Ausgefüllt haben nur 18 % der US-BürgerInnen solche Verfügungen. Ein kleiner Erfolg angesichts der massiven Propaganda.
Die US-BürgerInnen ziehen es vor, sich auf Angehörige oder ÄrztInnen zu verlassen, wenn sie nicht mehr in der Lage sind, für sich selbst zu entscheiden.
Als Alternative zu den Patientenverfügungen empfehlen die Verfasser einer entsprechenden Studie4 den US-BürgerInnen, Vorsorgevollmachten auszufüllen - also Vertraute zu ermächtigen, stellvertretend für sie zu entscheiden, wenn sie dies selbst nicht mehr können.
Ein weiser Rat auch angesichts der gesellschaftlichen Konsequenzen der Diskussion um Patientenverfügungen und Behandlungsabbruch.
Denn diese setzt Zeichen und entwirft ein neues Verständnis von lebenswertem Leben. Sodass alle Menschen, die alt, krank oder von Behinderung betroffen sind, unter Begründungszwang geraten. Warum leben sie noch?
Und wie wird sich unsere Gesellschaft verändern, wenn wir den gesellschaftlichen Umgang mit Sterben durch freiwilligen Behandlungsverzicht regeln, wie ihn die Patientenverfügungen vorsehen?
Der Soziologe Norbert Elias weist in seinen Büchern über den Prozess der Zivilisation5 nach, wie menschliche Beziehungen untereinander und gesamtgesellschaftliche Wirklichkeit miteinander verwoben sind. Sie prägen und bedingen einander.
Ein sehr komplexes System etabliert Lebenswirklichkeit und den Fortgang der Entwicklung der menschlichen Gemeinschaft.
Gravierende Änderungen - wie beim Umgang mit Sterben - haben langfristig Auswirkungen auf die gesamtgesellschaftliche Struktur und den zwischenmenschlichen Umgang miteinander.
Für uns wäre es ein weiterer Meilenstein bei der Individualisierung von Problemen. Und würde die bereits begonnene - und oft bedauerte - Entsolidarisierung fortschreiben in immer weitere, immer sensiblere Lebensbereiche.

Heike Knops

1 Im 19. Jhdt. formiert sich die Ärzteschaft zu einem geschlossenen Berufsstand mit standardisierter Ausbildung, dem medizinisches Hilfspersonal untergeordnet wird. Sie erringt den Status einer öffentlich-rechtlichen Körperschaft. Dadurch wird ihre Möglichkeit der Einflussnahme auf Staat und Justiz in gesundheits- und medizinpolitischen Angelegenheiten institutionalisiert. Vgl.: H.J. Schwager, Rettungshäuser, Asyle ... in: Bethel 29, S. 26-50, 1985 (S. 86 bei mir)
2 vgl.: Michel Foucault, Der Wille zum Wissen, 1983, S. 170
3 Euthanasie-Bericht des Europarates, September 2003; mit Aufruf an Mitgliedsstaaten
4 In der Praxis gescheitert, von Klaus Peter Görlitzer/ in: BIOSKOP 8. Jg., Nr. 29 / März 05; S. 9
5 Norbert Elias, Über den Prozess der Zivilisation: soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen. Frankfurt/M. 1989, 14. Auflage

Artikel aus: Graswurzelrevolution Nr. 327, Monatszeitung für eine gewaltfreie, herrschaftslose Gesellschaft, 37. Jahrgang, März 2008, www.graswurzel.net