Abschied von der Realität

Notizen zur Rezeption von Dokumentarfilmen

Dokumentarfilme boomen: In den vergangenen Jahren schafften es nicht nur viele ins Kino, auch die FilmtheoretikerInnen brachten ihnen eine erhöhte Aufmerksamkeit entgegen.

Am Beginn der Überlegungen, was denn ein Dokumentarfilm überhaupt sei und welche Kriterien ein Film erfüllen müsse, um als Dokumentarfilm zu gelten, erscheint zunächst alles klar und eindeutig. Im Allgemeinen geht man zunächst davon aus, dass Dokumentarfilme nicht-fiktional sind: Sie verzichten weitestgehend darauf, Geschichten zu erzählen, und sie sind "objektiv". Es sind Filme, die die Wirklichkeit abbilden, so wie sie ist, unmittelbar und ohne Einflussnahme von Seiten der FilmemacherInnen. Im Mittelpunkt von Dokumentarfilmen stehen Menschen, nicht Schauspieler sowie Orte und Situationen, die der Wirklichkeit entsprechen. Ihr zentrales Stilmittel sind Interviews. Sie werden oft dominiert durch einen autoritären Kommentar, der den ZuschauerInnen alles erklärt.
Diese scheinbare Eindeutigkeit wurde von zahlreichen AutorInnen lange Zeit auf Definitionen des Genres übertragen. Die vielleicht bekannteste Definition, die in der einen oder anderen Form immer wieder auftaucht, stammt von Wilhelm Roth. Er ist überzeugt davon, dass in der Regel ein Film als Dokumentarfilm anerkannt wird, "der Ereignisse abbildet, die auch ohne die Anwesenheit der Kamera stattgefunden hätten, indem reale Personen in ihrem Alltag auftreten - ein Film also, der sich an das Gefundene hält.1
Doch schon beim Lesen dieser Definitionen empfindet man manche Unzulänglichkeit. Ziemlich rasch stellen sich weitere Fragen: Was ist denn die Wirklichkeit, auf die sich Dokumentarfilme scheinbar beziehen? Was ist eine "gefundene" und was ist eine "erfundene" Geschichte? Oder anders gefragt: Wann ist denn eine Geschichte noch "gefunden" und wann ist sie "erfunden"? Müssen denn Ereignisse nicht bereits als "erfunden" gelten, sobald man sie mit einer Kamera abbildet?

Dokumentarfilme als Texte
Wenn wir über Dokumentarfilme reden, stellen wir meistens die Inhalte der Filme in den Vordergrund. Im Unterschied zu fiktionalen Filmen spielen ästhetische Fragen, wie FilmemacherInnen beispielsweise die Ereignisse in Szene setzten, welche dramatisierenden Entscheidungen sie getroffen oder welchen Stil sie gewählt haben, eine nur untergeordnete Rolle. Thema der Gespräche ist nicht so sehr das Gemachte, Konstruierte der Filme, die spezifische Perspektive oder die ästhetischen Entscheidungen der FilmemacherInnen, sondern die abgebildete Wirklichkeit. Als Beispiel sei mit Bowling for Columbine (2002) von Michael Moore ein Film über den Waffenfetischismus weiter Teile der US-amerikanischen Bevölkerung genannt. Nur selten wird über einzelne Einstellungen, die Kameraführung, die Verwendung des Tons oder über die spezifische Montage diskutiert. Selten auch wird hervorgehoben, dass die Filme von Michael Moore in der Tradition des Cinéma Vérité stehen.
Lange wurden auch in den theoretischen Diskussionen die filmästhetischen Qualitäten von Dokumentarfilmen ignoriert. Einer der ersten, der auf diesen Mangel aufmerksam machte, war der US-amerikanische Filmtheoretiker Bill Nichols. Man solle endlich aufhören, nur über das "Was" zu sprechen, wenn man über Dokumentarfilme rede, sondern auch das "Wie" thematisieren. Nur so sei es möglich, anzuerkennen, dass auch Dokumentarfilme ästhetische Qualitäten besitzen. "Nur dadurch, dass wir untersuchen, was eine bestimmte Reihe von Tönen und Bildern bedeuten, können wir beginnen, den Dokumentarfilm vor dem anti-theoretischen, ideologisch komplizierten ‚Dokumentarfilm-gleicht-Fenster-ArgumentÂ’ zu retten und davor, dass die Leinwand eher ein Fenster als eine reflektierende Oberfläche sei."2

Abbildung der Realität?
Um sich von der allzu simplen Haltung zu distanzieren, dass Dokumentarfilme die Wirklichkeit abbilden, differenzierte Eva Hohenberger3 fünf unterschiedliche Realitätsebenen von Dokumentarfilmen: Die nichtfilmische Realität ist gleichsam die historische, soziale, kulturelle und politische Welt. Sie beinhaltet die gesamte Menge aller überhaupt verfügbaren Bilder und Einstellungen und ist der Teil der Wirklichkeit, aus denen die FilmemacherInnen auf der Grundlage ihrer politischen und ideologischen Voreingenommenheiten ihre Filmbilder auswählen.
Die vorfilmische Realität ist die Ebene, die sich vor der laufenden Kamera abspielt. Sie ist ganz eng mit der nichtfilmischen Realität verknüpft, denn sie ist es, auf die Dokumentarfilme im Allgemeinen Bezug nehmen. Die vorfilmische Realität wird immer in der Auseinandersetzung der FilmemacherInnen mit der nichtfilmischen Realität hergestellt, indem sie auf der Grundlage von Kriterien der visuellen und dramaturgischen Verwertbarkeit eine Auswahl treffen und diese nicht selten inszenieren. Unter der Realität Film versteht Hohenberger alle Elemente, die in die Produktion eines Films einfließen, darunter Organisation, Finanzierung, Arbeitsweise, Technik, Schnitt, kinematographische Infrastruktur usw. Die Realität Film definiert die historischen, sozialen, auch kulturspezifischen sowie kinematographischen Rahmenbedingungen für die Produktion eines Films. Von besonderer Bedeutung für den Dokumentarfilmbereich ist beispielsweise die Kameratechnik, deren jeweiliger Entwicklungsstand die Ästhetik der Filme wesentlich beeinflusst.
Die filmische Realität ist als die Ebene zu verstehen, die der Film selbst ist, nämlich eine Aneinanderreihung von Einstellungen und Sequenzen, die nach der Montage als sinnhaftes Ganzes wahrgenommen wird. Die fünfte und letzte Wirklichkeitsebene ist die nachfilmische Realität. Sie ist gleichzusetzen mit der Wahrnehmungs- bzw. Rezeptionsebene der Filme. Diese Ebene vereint die Rezeption von ExpertInnen, also FilmkritikerInnen oder -wissenschaftlerInnen, mit der des allgemeinen Kinopublikums.
Legt man das Modell von Eva Hohenberger zugrunde, ist der an Dokumentarfilme gestellte Anspruch, die Realität abzubilden, auch auf theoretischer Ebene entkräftet. Dokumentarfilme haben vielmehr unterschiedliche Wirklichkeitsbezüge und nutzen auf der Ebene der filmischen Realität die unterschiedlichsten künstlerischen Formen zur Darstellung der Wirklichkeit, um ihre Geschichten zu erzählen. Insgesamt aber steht Dokumentarfilmen das gesamte Repertoire stilistischer Möglichkeiten zur Verfügung, wie wir es auch von "fiktionalen" Filmen kennen.

Idealtypen von Dokfilmen
Auf diesen Grundlagen lassen sich wiederum idealtypische dokumentarfilmische Repräsentationen unterscheiden: Wie wir es aus den Fernsehformaten von Dokumentarfilmen kennen, ist die Bildsprache von erklärdokumentaristischen Filmen eher von untergeordneter Bedeutung. Zentrales Kennzeichen ist vielmehr ein Off-Kommentar, der nicht selten allwissenden Charakter aufweist und "Objektivität" beabsichtigt. Aus diesem Grund spricht man auch oft von einem Voice-of-God-Kommentar. Die Montage ist weniger darauf ausgerichtet, einen raum-zeitlichen Zusammenhang als rhetorische Kontinuität herzustellen. Das zentrale Ziel dieser Filme ist es, Wissen zu vermitteln.
Erklärdokumentaristische Filme entsprechen gleichsam dem, was im Allgemeinen unter TV-Dokumentationen verstanden wird. Sie decken aber nur einen geringen Teil des dokumentarfilmischen Schaffens ab und haben mit kinematographischen Dokumentarfilmen nur wenig gemein. Die so genannten Interviewfilme stehen in der direkten Tradition der erklärdokumentaristischen Filme. Dabei hat sich die einzelne Kommentarstimme des Erklärdokumentarismus auf mehrere Personen bzw. Stimmen verteilt, so dass statt des simplen didaktischen Reduktionismus der erklärdokumentaristischen Filme eine Mehrstimmigkeit verschiedener Perspektiven möglich wird.
Beobachtende Dokumentarfilme erzählen vor allem von Ereignissen, die eine inhärente dramatische, manchmal auch ritualisierte Form aufweisen. Auf Interviews wird weitestgehend verzichtet. Eine indirekte Adressierung von ZuschauerInnen herrscht vor, was einen voyeuristischen Eindruck verstärkt. Darüber hinaus sind die FilmemacherInnen darauf bedacht, ihre Anwesenheit bei den Dreharbeiten als Abwesenheit zu inszenieren.
Im Unterschied dazu versuchen die FilmemacherInnen von teilnehmenden, interaktiven und reflexiven Filmen ihre Anwesenheit nicht zu leugnen. Bei interaktiven und reflexiven Filmen noch mehr als bei teilnehmenden Filmen suchen die FilmemacherInnen den Kontakt zu den gefilmten Personen. Sie treten in eine Kommunikation ein und versuchen darüber hinaus, den dokumentarischen Filmprozess selbst zu thematisieren. Dieser reflexive Stil verdeutlicht, womit wir es bei Dokumentarfilmen zu tun haben, nämlich mit Konstruktionen und filmischen Repräsentationen über die Welt. Dies ist noch stärker bei selbst-reflexiven Filmen der Fall, wo die FilmemacherInnen neben den technischen Rahmenbedingungen auch ihre persönlichen Voreingenommenheiten in die Darstellung des Filmprozesses mit einbringen.

Die "Lesetätigkeit" des Publikums
Bei dem Versuch, den Wirklichkeitsbezug von Dokumentarfilmen auf der Ebene der filmischen Realität zu identifizieren, läuft man unweigerlich Gefahr, definieren zu müssen, was man unter Realität versteht, und unter Umständen in eine tiefgründige philosophische Diskussion einzutreten. Dies veranlasste Roger Odin, den Begriff "dokumentarisch" auf der Rezeptionsebene zu definieren. Ausgehend von der Tatsache, dass jeder Film als dokumentarisch betrachtet werden kann, versucht er nicht, charakteristische Kennzeichen von Filmen zu finden. Er spricht nicht mehr von einem dokumentarischen Genre, als vielmehr von einem "dokumentarischen Ensemble" und von der "dokumentarisierenden Lektüre". Nach Odin ist die Wahrnehmung eines Films als Dokument sowohl von individuellen Faktoren, sprich dem kinematographischen Vorwissen der ZuschauerInnen, als auch von bestimmten stilistischen Elementen eines Films und von historischen, sozialen, kulturellen und kinematographischen Institutionen abhängig.4
Die Gründe, weshalb man einen Film als dokumentarisch "liest", liegen also nicht in der normativen Kraft eines Films, sondern sind vielmehr das Resultat eines Kommunikationsprozesses zwischen AutorInnen, Film und ZuschauerInnen.

Anmerkungen:

1 Wilhelm Roth: Der Dokumentarfilm seit 1960. München 1982

2 Bill Nichols: Image and ideology. Bloomington 1981, S. 172

3 Eva Hohenberger: Die Wirklichkeit des Films. Dokumentarfilm - ethnographischer Film - Jean Rouch. Hildesheim 1988, S. 28

4 Roger Odin: Dokumentarischer Film - dokumentarisierende Lektüre. In: Eva Hohenberger (Hrsg.). Bilder des Wirklichen. Texte zur Theorie des Dokumentarfilms. Berlin 2000

Volker Kull ist Ethnologe mit Schwerpunkt Dokumentar- und ethnologischer Film, freier Dozent für Visuelle Anthropologie, Filmjournalist und -kurator. Der Beitrag ist gekürzt entnommen aus Poeten, Chronisten, Rebellen. Internationale DokumentarfilmemacherInnen im Porträt, Schüren Verlag 2006, hg. von Verena Teißl und Volker Kull.

Die Filmbewegungen des Cinéma Vérité und des Direct Cinema

1959 brach im Dokumentarfilm eine völlig neue Epoche an. Durch die Entwicklung leichter 16mm-Schulterkameras und der gleichzeitigen Möglichkeit, Synchronton aufzunehmen, glaubten die FilmemacherInnen ihrem Ziel, die Wirklichkeit unmittelbar im Film festhalten zu können, einen wesentlichen Schritt näher gekommen zu sein. Als Folge setzte ein regelrechter Boom im Dokumentarfilmschaffen ein. Es entwickelten sich zwei dokumentarfilmische Bewegungen, die noch heute das dokumentarfilmische Schaffen grundlegend beeinflussen: das Cinéma Vérité in Europa und das Direct Cinema in Nordamerika. Obwohl beide Konzepte insbesondere im angelsächsischen Raum oftmals synonym gehandhabt werden, gibt es entscheidende Unterschiede.
Der Film, der den Beginn des Cinéma Vérité markiert, ist Chronik eines Sommers (1960) von Jean Rouch und dem französischen Soziologen und Politologen Edgar Morin (*1921). Der Film war als soziologisches Experiment geplant. Er erzählt von den Ereignissen im Sommer 1960 während des Algerienkriegs und von den Erfahrungen einer Gruppe junger Leute, die die EinwohnerInnen von Paris und sich selbst nach ihren Vorstellungen von "Glück" befragen. Der Begriff des Cinéma Vérité geht auf das Konzept der "Kino-Prawda" von Dziga Vertov zurück. Dementsprechend ist er keinesfalls Ausdruck eines puristischen Wahrheitskonzeptes, nach dem die Wahrheit a priori existiert und nur noch festgehalten werden muss. "Vérité" beschreibt vielmehr die Wahrheiten, die durch die Stilmittel des Films erst hergestellt werden. Jean Rouch formulierte es so: "Für mich jedoch ist Kino-Prawda ein präziser Begriff, [...] der nicht ‚pure WahrheitÂ’, sondern die spezifische Wahrheit der aufgenommenen Bilder und Töne - eine filmische Wahrheit, ausdrückt. [...] Das bedeutet nicht das Kino der Wahrheit, sondern die Wahrheit des Kinos."1
Die FilmemacherInnen unternehmen dabei keinen Versuch, ihre Anwesenheit und ihren Einfluss auf das Geschehen zu verbergen. Ganz im Gegenteil, die FilmemacherInnen verstehen sich als so genannte "agents provocateurs". Dies bedeutet, dass die Dreharbeiten im Sinne der so genannten "provozierenden Kamera" in höchstem Maße durch die Interaktion der Filmemacher- Innen mit den gefilmten Personen bestimmt sind. Ganz bewusst sollen dabei Reaktionen und Emotionen bei den ProtagonistInnen hervorgerufen werden mit dem Ziel, Prozesse zu thematisieren, die durch die Intervention der FilmemacherInnen möglich werden. Der heute vielleicht bekannteste "agent provocateur", der die Ideen des Cinéma Vérité in seinen Filmen umsetzt, ist Michael Moore.
Die andere Filmbewegung, die sich aus der neuen Kamera- und Tontechnologie entwickelte, war das Direct Cinema, auch Uncontrolled Cinema genannt. Die Vertreter des Direct Cinema sind Richard Leacock (*1921), Don A. Pennebaker (*1925), Frederick Wiseman (*1930), Robert Drew (*1924) und die Maysles Brüder, Al (*1925) und David (*1931).2 Im Unterschied zum Cinéma Vérité bevorzugen die FilmemacherInnen des Direct Cinema, auf Interviews zu verzichten. Ebenso sind sie darauf bedacht, keinen Off-Kommentar zu verwenden. Im Unterschied zu vielen aufklärerischen und didaktischen Dokumentarfilmen jener Zeit sollten die Bilder für sich selbst sprechen. Hierzu wird die Anwesenheit der FilmemacherInnen gleichsam als Abwesenheit inszeniert, so dass die FilmemacherInnen für die ZuschauerInnen unsichtbar bleiben, in einer eher beobachtenden Position verharren und es vermeiden, die Geschehnisse vor der Kamera zu beeinflussen. V. K.

Anmerkungen:

1 Jean Rouch: Ciné-Anthropology. Jean Rouch with Enrico Fulchignoni. In Steven Feld: Ciné-Ethnography. Minneapolis 2003, 147.

2 Der kanadische Filmemacher Peter Wintonick hat in seinem Film Cinéma Vérité. Defining the moment (1999) alle noch lebenden Mitglieder der Filmbewegung portraitiert und die wichtigsten Ideen rekapituliert.