Arbeitnehmer zweiter Klasse?

Politik der Entprekarisierung statt Klassenkampf zwischen Arbeitnehmern

Von Prof. Dr. Klaus Dörre, spw-Mitherausgeber, lehrt Soziologie an der Friedrich-Schiller-Universität Jena.
Lange Zeit eher verdrängt, hat das Thema prekäre Beschäftigung inzwischen auch die Medien erreicht. Freilich erfährt es dort mitunter Zuspitzungen, die mit den Anliegen einer kritischen Prekarisierunsforschung nur noch wenig gemein haben. So präsentierte ein Beitrag des ZDF-Magazins frontal21 jüngst eindrucksvolle Beispiele für die Entstehung von "Arbeitnehmern zweiter Klasse". Doch diesen Befund wendeten die verantwortlichen Redakteure mit Vehemenz gegen die Gewerkschaften und die laufenden Tarifauseinandersetzungen. Den Gewerkschaften wurde eine ständische Interessenpolitik vorgeworfen, die lediglich dazu diene, Privilegien von "Arbeitnehmern erster Klasse" zu verteidigen. Eine solche Kommentierung, für die ich selbst als Kronzeuge ins Bild gerückt wurde, nutzt die "Arbeitnehmer zweiter Klasse", um Tarifforderungen in noch vergleichsweise geschützten Sektoren zu delegitimieren: "Steinkühlerpause", 38,5-Stunden-Woche - ein Privileg derer, denen es ohnehin besser geht als vielen anderen! So lautet die unmissverständliche Botschaft. (Ich habe mich dazu in einem Brief an die Redaktion geäußert und dagegen verwahrt, derart benutzt zu werden.)
"Klassenkampf" zwischen Arbeitnehmern?
Handelte es sich lediglich um einen durchsichtigen journalistischen Versuch, in laufende Tarifauseinandersetzungen zu intervenieren, so könnte man die Sache rasch ad acta legen. Es darf jedoch nicht übersehen werden, dass außerhalb des gewerkschaftlich aktiven und organisierten Spektrums viele genau so denken, wie die Redakteure von frontal21. Schon deshalb macht es Sinn, die These einer "Klassenspaltung" innerhalb der Arbeitnehmerschaft genauer zu untersuchen. Trifft es tatsächlich zu, dass wir bei den Lohnabhängigen inzwischen unterschiedliche Klassen von Existenzbedingungen vorfinden? Muss man gar davon ausgehen, dass die Verteidigung von Privilegien der "Arbeitnehmer erster Klasse" den Prekarisierungsprozess der "zweiten Klasse" verschärft? Nachfolgend will ich diese Fragen anhand der Ergebnisse einer empirischen Untersuchung zur prekären Beschäftigung diskutieren, die ich mit meiner Forschergruppe durchgeführt habe. Es handelt sich um eine qualitative Untersuchung, die auf knapp 100 themenzentrierten Interviews, auf einigen Gruppendiskussionen sowie gut 30 Expertengeprächen basiert. Zu der von mir geleiteten Forschergruppe gehören Klaus Kraemer und Frederic Speidel (beide FIAB Recklinghausen) sowie Ulrich Brinkmann und Silke Röbenack (FSU Jena). Zwischenergebnisse der Studie sind u.a. in der seitens der Friedrich-Ebert-Stiftung in Auftrag gegebenen Expertise: "Prekäre Beschäftigung. Ursachen, Ausmaß, soziale Folgen und politische Verarbeitungsformen unsicherer Beschäftigung, Bonn 2006" veröffentlicht. (Die Buchfassung der Studie erscheint im Frühsommer 2006 im Wissenschaftsverlag). Dabei geht es mir nicht um eine detaillierte Darstellung von Einzelbefunden, sondern um eine zugespitzte Anwendung von Ergebnissen auf die skizzierte Fragestellung.
Neue Spaltungslinien
Zunächst belegt unsere Studie tatsächlich eine Entwicklung, auf die die These von den "Arbeitnehmern zweiter Klasse" zielt. Am Arbeitsmarkt sind seit den 1980er Jahren neue Segmentationslinien entstanden, die eine eigene Konfliktdynamik erzeugen. Wie es eine Hypothese des französischen Sozialwissenschaftlers Robert Castel (2000, 2005) besagt, spalten sich die nachfordistischen Arbeitsgesellschaften mehr und mehr in drei Zonen. Die Mehrzahl der Lohnabhängigen ist noch immer in einer - allerdings schrumpfenden - "Zone der Integration" mit formal gesicherten Normbeschäftigungsverhältnissen tätig. Dazwischen expandiert eine "Zone der Prekarität" mit heterogenen Beschäftigungsformen, die sich allesamt dadurch auszeichnen, dass sie nicht oberhalb eines kulturellen Minimums dauerhaft Existenz sichernd sind. Am unteren Ende bildet sich eine - in Deutschland noch relativ kleine - "Zone der Entkoppelung" heraus, die die von regulärer Erwerbsarbeit Ausgeschlossenen, die "Entbehrlichen" der Arbeitsgesellschaft umfasst. Über das Ausmaß von Prekarisierungsprozessen wird in der sozialwissenschaftlichen Debatte gestritten. Inzwischen besteht jedoch Konsens, dass auch in Deutschland eine "Zone der Prekarität" existiert und dass diese Zone wächst. Der Anstieg so genannter nicht-standardisierter Beschäftigungsverhältnisse auf - je nach Maßstab - 29 - 36 % aller Erwerbsverhältnisse in Ost und West ist hier nur ein sehr grober Indikator. Einerseits übertreibt er, weil er z. B. erwünschte Teilzeitarbeit erfasst, andererseits reduziert er aber auch das Problem. Denn in den genannten Zahlen fehlt nicht nur die Gruppe der Langzeitarbeitslosen, auch der Niedriglohnsektor (Einkommen von weniger als 2/3 des Medianlohns), der schon 2001 ca. 17, 4 % aller Vollzeitbeschäftigten umfasste, bleibt unberücksichtigt. Gleiches gilt für die Informalisierung, also für die Tendenz zur informellen Korrektur kollektiver Regelungen, die sich innerhalb formal intakter Vertragsverhältnisse vollzieht. Über das Ausmaß dieser Tendenz, die nach unseren Recherchen in vielen Betrieben und Bereichen weit fortgeschritten ist (Candeias/Röttger 2005), gibt aus nahe liegenden Gründen keine zuverlässigen Statistiken. Bedenkt man ferner, dass das Normalarbeitsverhältnis in Branchen wie dem gesamten Bereich Nahrung und Genuss, speziell dem Fleischereihandwerk oder dem fast-food-Bereich, im Einzelhandel, der Logistik-Branche, dem Reinigungs- und auch im Baugewerbe tendenziell zu einer Beschäftigungsform von Minderheiten wird, so liegt auf der Hand, das prekäre, weil ungeschützte und nicht dauerhaft Existenz sichernde Arbeitsverhältnisse längst zu einem Massenphänomen geworden sind (genauere Daten finden sich in: Brinkmann u. a. 2006).
Typische Verarbeitungsformen
Ausmaß und Wirkungen von Prekarisierungsprozessen lassen sich letztlich aber nur angemessen erfassen, wenn die subjektiven Verarbeitungsformen unsicherer Beschäftigung in die Analyse einbezogen werden. Auf der Grundlage unseres empirischen Materials, das anhand ausgewählter Problemkonstellationen in allen Zonen der Arbeitsgesellschaft gesammelt wurde, lassen sich neun typische Verarbeitungsformen (Schaubild 1) unterscheiden, die gewissermaßen eine soziale Hierarchie der nachfordistischen Arbeitsgesellschaft abbilden.
Schaubild 1
Arbeitskraft- (sichere Beschäftigung, mehr als Existenz sicherndes Einkommen) und Tätigkeitsperspektive (Professionalitätsstreben, befriedigende Sozialbeziehungen, Identifikation mit den Arbeitsinhalten) beinhalten die primären Integrationspotentiale einer Erwerbstätigkeit. In der ersten Zone bilden drei Typen (1, 3, 4) die Integration in formal gesicherte Normbeschäftigung (Arbeitskraftperspektive) ab. Im Fall der ebenfalls integrierten Selbstmanager (Typ 2) dominiert das Integrationspotential der Tätigkeitsperspektive über den atypischen Beschäftigtenstatus. In der "Zone der Prekarität" sind unstete Beschäftigungsverhältnisse angesiedelt, die jedoch subjektiv höchst unterschiedlich bewertet werden. Die "Zone der Entkoppelung" umfasst dauerhaft von regulärer Erwerbsarbeit ausgeschlossene Gruppen mit ebenfalls divergierenden subjektiven Orientierungen. Was besagt diese Typologie nun für unsere Ausgangsfrage nach einem "Klassenkampf" zwischen Arbeitnehmern?
Verstetigung von Prekarität
Zunächst zeigt sich, dass die neuen Segmentationslinien in den Köpfen der Beschäftigten tatsächlich eine Rolle spielen. In gewisser Weise bestimmen sie die Klassifikationssysteme der Befragten. Zugleich wird deutlich, dass soziale Unsicherheit sowohl in der "Zone der Prekarität" als auch in der "Zone der Entkoppelung" höchst unterschiedlich bearbeitet wird. In beiden Zonen stoßen wir auf ähnliche Grundmuster. Gruppen (Typ 5, 8), die wir als Hoffende oder als Veränderungswillige bezeichnet haben, klammern sich im Grunde an den Glauben, eines Tages doch noch den Sprung in die Normalität zu schaffen. Sie setzen auf den "Klebeeffekt" eines unsicheren Beschäftigungsverhältnisses oder vertrauen auf einen anvisierten Bildungsabschluss. Daneben finden sich in beiden Zonen Verarbeitungsformen, die auf eine Verstetigung von Prekarität und Ausgrenzung hinauslaufen (Typ 6, 7, 9). Die Realisten, die Zufriedenen und die Abgehängten entwickeln aus unterschiedlichen Gründen Strategien, um in einer Lebenssituation, die durch strukturelle Unsicherheit gekennzeichnet ist und eine Art "Provisorium im Dauerzustand" konstituiert, überleben zu können. Das Ziel einer Überwindung von Prekarität oder Ausgrenzung haben diese Gruppen im Grunde aufgegeben. Ihnen geht es in erster Linie darum, in einer Lebenslage einigermaßen handlungsfähig zu bleiben, die sie zu permanenter Benachteiligung verurteilt.
Drinnen und Draußen
In dem Maße, wie sich Prekarität und Ausschluss verstetigen, entsteht tatsächlich eine neue gesellschaftliche Konfliktlinie. Unstrittig ist, dass klassenspezifische Verteilungskonflikte, Konflikte zwischen Kapital und Lohnarbeit, wieder an Brisanz gewinnen. Daraus resultierende Auseinandersetzungen werden jedoch von einer Konfliktlinie überlagert, die das Drinnen und Draußen reguliert (Kronauer 2002). Teilhabe an "guter", akzeptabel bezahlter, unbefristeter, inhaltlich anspruchsvoller, mit gesellschaftlicher Anerkennung und befriedigenden Sozialbeziehungen verbundener sowie mit institutionalisierten Partizipationsrechten verknüpfter Arbeit lässt sich - samt der damit verbundenen Lebenschancen - im Grunde nur mittels Zugehörigkeit zur schrumpfenden "Zone Integration" erreichen. Alles, was jenseits dieser Zone positioniert ist, zeichnet sich durch Grade des Ausschlusses von materiellem Wohlstand, sozialer Sicherheit, reichen Sozialbeziehungen und Partizipationschancen aus.
Für die prekarisierten Gruppen hat Erwerbsarbeit ihren Charakter als Basis eines stabilen Lebensplans längst verloren. Im Unterschied zu den subproletarischen Existenzen des 19. Jahrhunderts führen unsichere Beschäftigungsverhältnisse in den Arbeitsgesellschaften der Gegenwart aber nicht, jedenfalls nicht zwangsläufig, zu vollständiger Entwurzelung und Pauperisierung. Vielmehr befinden sich die prekär Beschäftigten in einer eigentümlichen Schwebelage. Die modernen Prekarier müssen nicht nur alle Energien mobilisieren, um den Sprung in sichere Verhältnisse vielleicht doch noch zu schaffen. Permanente Anstrengungen sind auch nötig, um einen vollständigen Absturz zu vermeiden. Wer in seinen Anstrengungen nachlässt, dem droht der Fall in die "Zone der Entkoppelung". Insofern besitzen die modernen Prekarier keine Reserven, kein Ruhekissen. Sie sind die ersten, denen in Krisenzeiten Entlassungen drohen. Ihnen werden bevorzugt die unangenehmen Arbeiten aufgebürdet. Sie sind die Lückenbüßer, die "Mädchen für alles", deren Ressourcen mit anhaltender Dauer der Unsicherheit allmählich verschlissen werden. Führt man sich dies vor Augen, so kann man in Anlehnung an den französischen Soziologen Pierre Bourdieu (2000) tatsächlich eine Herausbildung unterschiedlicher "Klassen von Existenzbedingungen" diagnostizieren.
Produktion gefügiger Arbeitnehmer
Die arbeitspolitische Brisanz dieses Befundes liegt auf der Hand. Die gewerkschaftlich organisierten, handlungsfähigen Teile der Lohnabhängigen finden sich vornehmlich in der "Zone der Integration". In der "Zone der Prekarität" sind Organisationsansätze wenn überhaupt, so nur schwach entwickelt. Zur Prekarisierung gehört, dass sie mit einer gewissen "Entkollektivierung" verbunden ist, doch die strukturelle Schwächung der Fähigkeit zu organisiertem Interessenhandeln ist gewissermaßen eine kollektive Situation, die auf die Interpretations- und Deutungskämpfe in der gesamten Arbeitsgesellschaft zurückwirkt. Prekär Beschäftigte sind häufig besonders geduldige und gefügige Arbeitnehmer (Boltanski/Chiapello 2003: 262). Wer befristet beschäftigt ist, keine Reserven hat, nicht in Kontakt mit einer Interessenvertretung steht und seine Arbeit dringend braucht, um sich einigermaßen über Wasser zu halten, der scheut oftmals den Konflikt mit Vorgesetzten und Beschäftigern.
Doch das ist nicht alles. Gerade weil sich die prekär Beschäftigten im unmittelbaren Erfahrungsbereich der über Normarbeitsverhältnisse Integrierten bewegen, wirken sie als ständige Mahnung. Festangestellte, die Leiharbeiter zunächst als wünschenswerten "Flexibilisierungspuffer" betrachteten, beschleicht ein diffuses Gefühl der Ersetzbarkeit, wenn sie an die Leistungsfähigkeit der Externen denken. Sie sehen, dass ihre Arbeit zu gleicher Qualität auch von Personal bewältigt werden kann, das für die Ausübung dieser Tätigkeit Arbeits- und Lebensbedingungen in Kauf nimmt, die in der Stammbelegschaft niemals akzeptiert würden. Wenngleich Leiharbeiter und befristet Beschäftigte betrieblich meist nur Minderheiten sind, wirkt ihre bloße Präsenz disziplinierend auf die Stammbelegschaften zurück. In Bereichen mit hoch qualifizierten Angestellten produzieren Freelancer und abhängig Selbständige einen ähnlichen Effekt. So finden sich im Grunde in allen Beschäftigungssegmenten Wechselbeziehungen zwischen Stammbelegschaften und flexiblen Arbeitskräften, die den "Besitz" eines unbefristeten Vollzeiterwerbsverhältnisses als verteidigenswertes Privileg erscheinen lassen. Aus diesem Grund ist die Prekarisierung kein Phänomen an den Rändern der Arbeitsgesellschaft. Sie bewirkt eine allgemeine subjektive Unsicherheit, die bis tief hinein in die Lebenslagen der formal Integrierten reicht. Prekarität wirkt desintegrierend und zugleich als disziplinierende Kraft. Insofern stützt die Prekarisierung ein Krontrollsystem, dem sich auch die Integrierten kaum entziehen können.
Kulturkampf um Flexibilität
Das gilt umso mehr, als neben der Arbeitsmarktsegmentation noch eine weitere, eher kulturelle Konfliktlinie wirkt. Die Welt der regulierten Normalarbeitsverhältnisse gerät nicht nur in den unteren Etagen der Arbeitsgesellschaft unter Druck. Für die integrierten "Selbstmanger" in der "Zone der Integration" hat sie ebenfalls keinen Bestand mehr. Diese Gruppen von Arbeitnehmern profitieren zweifellos von einem Arbeitsmanagement, das sie "zur Freiheit verdammt". Sie "maximieren ihre Chancen, bauen ihr Potential aus, entdecken an sich ungeahnte unternehmerische Fähigkeiten, die unter bürokratischen Zwängen und strengen Regelungen bisher verkümmerten"(Castel 2005: 63f.). Zugleich verfügen sie über die eigentliche gesellschaftliche Definitionsmacht bei der Bewertung flexibler Arbeitsverhältnisse. Es gehört wenig Phantasie dazu, einen Großteil der Journalisten dieser Gruppe zuzuordnen. Wer heute in der Film- und Fernsehindustrie oder bei den Printmedien arbeitet, der besitzt in der Regel einen stressigen, nervenaufreibenden Job mit eingebauten Flexibilitätszwängen. Sofern sie sich in einigermaßen sicheren Beschäftigungsverhältnissen befinden, haben die Betreffenden oft selbst eine Kette prekärer Anstellungen durchlaufen. Der Einstieg in die Branche erfolgt auch für Hochschulabsolventen häufig über geringfügig bezahlte, auf wenige Wochen befristete Beschäftigungsverhältnisse. Und doch ist es das Interesse am Job, das viele bei der Stange hält. In diesem Segment kreativer Arbeit erscheint die Welt der regulierten Normalarbeitsverhältnisse antiquiert. Erholzeiten für Bandarbeiter werden in der Wahrnehmung zu bezahlten "Pinkelpausen"; der Widerstand gegen Arbeitszeitverlängerungen im öffentlichen Dienst erscheint angesichts des eigenen, "entgrenzten" Arbeitstages als bloße Privilegienreiterei.
Aufgrund ihrer eigenen Arbeitsbedingungen verbindet die "Selbstmanager" mit den prekär Beschäftigten mehr als mit den noch vergleichsweise geschützten Normalarbeitern. Es ist nicht einfach ideologische Verblendung, sondern durchaus eigener Leidensdruck, der zu symbolischen Allianzen führen kann. Und doch ignoriert die Sichtweise vieler Selbstmanager einige der neuen "Trennlinien", die Arbeitswelt und Gesellschaft durchziehen (Castel 2005: 63 f.). Die Selbstmanager agieren allesamt oberhalb einer "Schwelle der Berechenbarkeit" oder "des Unternehmensgeistes", welche wesentlich von der Verfügung über Einkünfte und Ressourcen abhängt, die von der Sorge um die Subsistenz dauerhaft entlasten" (Bourdieu 2000: 92). Nicht nur bei den prekär Beschäftigten, auch bei einem Teil der formal Integrierten, die sich an der "Schwelle der Sicherheit", gekennzeichnet "durch eine feste Arbeitsstelle und ein regelmäßiges Einkommen", befinden, ist das so nicht mehr der Fall.
Abstiegsängste
Längst wird auch ein erheblicher Teil der Befragten, die noch über ein Normalarbeitsverhältnis verfügen, von Abstiegs- und Prekarisierungsängsten geplagt. Das Gefühl der Bedrohung kann insbesondere bei den Verunsicherten und Abstiegsbedrohten (Typ 3, 4) deutlich ausgeprägter sein als bei den eigentlichen Prekariern. Abstiegsängste können eine besondere Wirkung entfalten, weil diese Gruppen noch etwas zu verlieren haben. Standortkonkurrenzen und die zahlreichen Wettbewerbspakte, in denen häufig Zugeständnisse bei Arbeitszeiten, Löhnen und Arbeitsbedingungen gegen befristete Beschäftigungsgarantien getauscht werden, erzeugen auch in den Stammbelegschaften ein permanentes Gefühl der Verunsicherung. Im öffentlichen Dienst erzielen Privatisierungsdrohungen eine ähnliche Wirkung. Mit anderen Worten: Prekarisierungsprozesse sind auch innerhalb der "Zone der Integration" wirksam - und dies nicht nur als diffuses Gefühl der Bedrohung sondern in Gestalt massiver Verschlechterungen der Arbeits- und Lebensbedingungen. Die fließenden Grenzen zwischen Integrierten und Prekären werden in der Denkfigur der "zwei Klassen von Arbeitnehmern" schlicht ignoriert. Das hat fatale Folgen.
Ansprüche an "gute Arbeit" unter Druck
Denn wo die Existenz unsicher geworden ist, treten "Entfernung zur Arbeit, Monotonie oder schlechte Behandlung" als Gründe für Unzufriedenheit "subjektiv in den Hintergrund"; es dominiert die Sorge um den Erhalt ihres Arbeitsplatzes, so "widerwärtig er auch sein mag" (Bourdieu 2000: 72). Auf diese Weise geraten Ansprüche an "gute Arbeit" auch in der "Zone der Integration" immer stärker unter Druck. Stattdessen bricht sich selbst in den verbliebenen Hochburgen der Gewerkschaften ein Trend zum "billiger statt besser" Bahn, der innovative Arbeitspolitik durch simple Kostensenkungsstrategien zu ersetzen sucht (Detje u.a. 2005). Über die Abwälzung der Marktunsicherheit auch auf Zulieferer, Dienstleister und abhängige Kleinbetriebe strahlt dieser Trend auf die gesamte Arbeitsgesellschaft aus. Der "Traum des Leiharbeiters ist es, ein Stammarbeiter zu werden, verbunden mit der schmerzlichen Ahnung, es nicht zu schaffen" (Castel 2000: 358). Gegenüber diesem Traum vom Sprung in die Normalität verblassen selbst die Widrigkeiten belastender, monotoner Tätigkeiten. Das Streben nach einer Entlohnung, die ein dauerhaftes Auskommen sichert, beginnt alle anderen Anspruchsdimensionen zu überlagern. Und gerade deshalb ist ein prekärer Status der Albtraum jener Verunsicherten und Abstiegsbedrohten, aus denen sich inzwischen die Masse der Gewerkschaftsmitglieder rekrutiert.
Aktivierung
Wie lässt sich diese fatale Abwärtsspirale stoppen? Jedenfalls nicht, indem die gewerkschaftlich noch handlungsfähigen Teile der Lohnabhängigen kampflos alles preisgeben, was lange Zeit wie selbstverständlich als Maßstab für gute Arbeit diente. Alle Erfahrungen der zurückliegende Jahre besagen, dass der Verzicht z. B. auf die "Steinkühlerpause" die andere Seite nur zum Nachlegen ermuntern würde. Erholzeiten sind eben keine "bezahlten Pinkelpausen", sondern ein erkämpftes Recht von Produktionsarbeitern, die auch in der Gegenwart - selbst in einem hochmodernen Montagewerk wie bei Daimler-Chrysler in Rastatt - unter Bedingungen arbeiten (Taktzeiten unter einer Minute, Überkopfarbeit etc.), die es schwer machen, das Rentenalter einigermaßen gesund zu erreichen. Hier, innerhalb der Zone der Integration, hat eine Politik der Entprekarisierung anzusetzen. Ihr muss es darum gehen, das auch in Stammbelegschaften inzwischen verbreitete Ohnmachtsempfinden zu durchbrechen. Wichtig ist, dass die Gewerkschaften zu einer aktivierenden Mitgliederpolitik zurückfinden. Häufig aus der Not geboren, haben sich z. B. im Organisationsbereich der IG Metall solche Ansätze herausgebildet. So werden in vielen Fällen "betriebliche Bündnisse" nicht mehr ohne Votum der gewerkschaftlich organisierten Belegschaftsmitglieder abgeschlossen. Teilweise ist die Zustimmung an Quoten gebunden, in anderen Betrieben wird ein bestimmter Organisationsgrad zur Voraussetzung von Verhandlungen gemacht. Ein Effekt ist, dass Managementpolitiken, die Unsicherheit gezielt als Machtsressource nutzen, nicht mehr passiv hingenommen werden. Ansätze wie die "Besser-statt-billiger-Kampagne" einiger IG Metall Bezirke oder das Projekt "Gute Arbeit" der IG Metall sollen zudem dafür sorgen, dass qualitative Arbeitsansprüche nicht vollends unter die Räder geraten. Offenkundig kann eine beteiligungsorientierte Politik dazu beitragen, dass die Mitgliederbindung auch in schwierigen Zeiten wächst. Großen IG Metall-Bezirken ist es in jüngster Zeit jedenfalls gelungen, die Mitgliederverluste auf diesem Weg zu stoppen (Huber 2005, Pickshaus 2005: 137 ff., Urban 2005: 187 ff.).
Mindestlohn
Eine offensive Partizipationspolitik in den Betrieben kann dauerhaft aber nur erfolgreich sein, wenn es auch in den unteren Etagen der Arbeitsgesellschaft gelingt, soziale Mindeststandards zu verankern. Angesichts rückläufiger Tarifdeckung macht es Sinn, für die gesetzliche Regelung eines Existenz sichernden Mindestlohns einzutreten. Die Arbeitsrealität der Prekarier vor Augen, beinhaltet das von einigen Gewerkschaften bislang favorisierte Modell branchenspezifischer Mindestlöhne, die sich jeweils an der untersten Tarifgruppe orientieren, einige Probleme. Neben den expandierenden tariffreien Zonen gilt es zu beachten, dass in vielen Bereichen (Reinigungsgewerbe, Überwachungsgewerbe, Textilindustrie etc.) Tariflöhne im unteren Bereich teilweise Armutslöhne sind. Insofern besitzt das Modell eines einheitlichen gesetzlichen Mindestlohns für alle Branchen, dessen Höhe periodisch unter Beteiligung der Tarifparteien und des Staates auszuhandeln wäre, trotz der bekannten Risiken einigen Charme (Schulten 2005). Die Mindestlohnkampagne, die Verdi und die NGG begonnen haben, verdient daher m. E. alle Unterstützung. Gleichwohl sollte die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns in der Umsetzung als reflexiver Prozess angelegt werden (Übergangszeiten, Begleitforschung, Befristung von Regelungen), um mögliche Fehlsteuerungen (Druck auf das Tarifgefüge, Arbeitsplatzverluste) rasch korrigieren zu können.
Gewerkschaften müssen aktives "Organizing" betreiben
Ein Mindestlohn wäre freilich zunächst nicht mehr als eine Norm für einem fairen Lohn, die aktiv durchgesetzt werden müsste. Dazu ist die Selbstorganisation der vermeintlich Unorganisierbaren unabdingbar. Trotz der bekannten Schwierigkeiten, die unstete Beschäftigung für die Definition und Durchsetzung von Kollektivinteressen mit sich bringt, haben wir auch bei den Hoffenden, den Realistischen und den Zufriedenen ein erhebliches Aktivitätspotential festgestellt. Gewerkschaften, die dies als Ansatzpunkt für aktives Organizing nutzen wollen, können z. B. von einigen US-amerikanischen Gewerkschaften lernen. Mit dem Rücken zur Wand haben diese Gewerkschaften Organisationserfolge bei Migranten und prekär Beschäftigten erzielt. Voraussetzungen waren lokale Bündnisse mit sozialen Bewegungen, Kirchen und Selbsthilfeorganisationen, die erheblich zur Revitalisierung gewerkschaftlicher Strukturen beigetragen haben (Voss/Shermann 2000: 303 ff.). Diese Ansätze lassen sich, ebenso wie die Erfahrungen der italienischen Gewerkschaften, nicht umstandslos auf Deutschland übertragen. Die inzwischen durchaus vorhandenen Ansätze, Leiharbeiter zu organisieren (z. B. IGM Berlin), regionale Bestandaufnahmen prekärer Beschäftigung zu machen (z. B. DGB Oldenburg, Köln), neue Organisationsformen zu erproben (Verein der Wanderarbeiter, IG BAU) und in Kampagnenform in prekäre Bereiche einzudringen (Ver.di), benötigen einen langen Atem. Selbst dort, wo Ressourcen und Engagement ausreichend vorhanden sind, stellen die schwierigen Organisationsbedingungen im prekären Sektor eine hohe Hürde dar. Rasche, durchschlagende Erfolge sind daher nicht zu erwarten. Eines ist jedoch sicher. Wer die "Arbeitnehmer zweiter Klasse" gegen die vermeintlich privilegierten "Arbeitnehmer erster Klasse" ausspielt, betätigt eine Konfliktlogik, die Ansprüche von Festangestellten systematisch in Frage stellt. Nicht Begrenzung, die Verstärkung von Prekarisierungsprozessen dürfte die Folge sein.
Literatur:
Boltanski, L./Chiapello, È. (2003): Der neue Geist des Kapitalismus. Konstanz. Frz. (1999): Le nouvel Ésprit du Capitalisme. Paris.
Bourdieu, P. (2000) Die zwei Gesichter der Arbeit. Konstanz.
Brinkmann, U./Dörre, K./Röbenack, S. (2006): Prekäre Arbeit. Ursachen, Ausmaß, soziale Folgen und politische Verarbeitungsformen unsicherer Beschäftigungsverhältnisse. Eine Expertise. Bonn.
Candeias, M., Röttger, B. (2005) Regionale Beteiligung und bürgerschaftliches Engagement: Antworten auf die Erosion tariflicher Haltegriffe. Erste Forschungsergebnisse und weitere Forschungsperspektiven des Projekts ‚Global mitbestimmen - lokal gestalten? MS. Jena.
Castel, R. (2005): Die Stärkung des Sozialen. Leben im neuen Wohlfahrtsstaat. Hamburg.
Castel, R. (2000): Die Metamorphosen der sozialen Frage. Eine Chronik der Lohnarbeit. Konstanz.
Detje, R. /Pickshaus, K./Urban, H.J. (Hrsg.) (2005): Arbeitspolitik kontrovers. Zwischen Abwehrkämpfen und Offensivstrategien. Hamburg.
Huber, B. (2005): Perspektiven der Tarifpolitik - im Spannungsfeld von Fläche und Betrieb. Tarifpolitische Konferenz der IG Metall, Mannheim, 22. Oktober 2005. MS.
Kronauer, M. (2002): Exklusion. Die Gefährdung des Sozialen im hoch entwickelten Kapitalismus. Frankfurt/M.
Pickshaus, K. (2005): "Gute Arbeit" als neuer strategischer Ansatz , In: Detje u.a.(Hrsg.), a.a.O.: 137-146.
Schulten, Th. (2005): Politische Ökonomie des Mindestlohns. Internationale Erfahrungen und Konsequenzen in Deutschland. MS. Düsseldorf.
Urban, H. J. (2005): Wege aus der Defensive. In: Detje u.a., a.a.O.: 187-212.
Voss, K./Sherman, R. (2000) Breaking the Iron Law of Oligarchy: Union Revitalization in the American Labour Movement. In: American Journal of Sociology Volume 106, Number 2 (September 2000): 303-349.

Quelle: spw 148 (März/April 2006)