Sein Leben zu einer Erzählung bündeln...

Biographische Selbstbestimmung im flexiblen Kapitalismus

"Wie lassen sich langfristige Ziele in einer auf Kurzfristigkeit angelegten Gesellschaft anstreben? Wie sind dauerhafte soziale Beziehungen aufrecht zu erhalten?" (Richard Senett)

"Wie lassen sich langfristige Ziele in einer auf Kurzfristigkeit angelegten Gesellschaft anstreben? Wie sind dauerhafte soziale Beziehungen aufrecht zu erhalten? Wie kann ein Mensch in einer Gesellschaft, die aus Episoden und Fragmenten besteht, seine Identität und Lebensgeschichte zu einer Erzählung bündeln?" (Richard Sennet; Der flexible Mensch)"
Senetts Fragen beschreiben den Kern der Debatte um biographische Selbstbestimmung. Es ist eine Debatte über das Bedürfnis nach Kontinuität und Sicherheit im eignen Leben auf der einen Seite und gewachsenen Anforderungen an Mobilität und Flexibilität auf der anderen. Dabei sind diese Anforde-rungen nicht ausschließlich solche, die von außen, z.B. von Arbeitgeber/innen an die Menschen he-rangetragen werden; es sind durchaus auch gestiegene Anforderungen an sich selbst. In wissenschaft-lichen und politischen Kontexten ist weitestgehend unbestritten, dass eine Ausdifferenzierung von biographischen Entwürfen stattgefunden hat. Kontrovers ist aber die Bewertung dieses Prozesses. Die eine Seite betont vor allem die Chancen - also einem möglichen Anstieg biographischer Optionen. Sie sieht einen Zuwachs an Autonomie in Bezug auf die Gestaltung der eigenen Biographie. Die andere Seite betont vor allem, dass der Anstieg biographischer Optionen bei einer gleichzeitigen Schließung des sozialen Raumes einen Zwang zur Flexibilität bedeutet, der keinen realen Freiheitsgewinn zur Fol-ge hat. Sie sieht die Gefahr des Verlustes von Identität und biographischer Orientierung.
Der Wandel biographischer Rahmenbedingungen
Dem fordistischen Regulationsmodell entsprach das Normalarbeitsverhältnis als Leitfigur der Lebens-organisation. Das Normalarbeitsmodell ist definiert durch abhängige, vollzeitige und unbefristete Ar-beitsverträge für Männer als Ernährer der Familie, eine stabile Entlohnung der Arbeitsleistung nach Arbeitszeit, beruflichen Status und familiärer Stellung, betriebsförmige Organisation der Arbeit und häufig lebenslange Anstellung in ein und demselben Betrieb und weitgehende Unkündbarkeit sowie generöse soziale Absicherung im Falle von Arbeitslosigkeit oder vorzeitiger Verrentung. Arbeit und Qualifikationen sind strukturiert durch das Prinzip der Beruflichkeit. Das Normalarbeitsverhältnis defi-niert somit viel mehr als die Arbeitsbedingungen unter denen Arbeitnehmer/innen einen optimalen sozialstaatlichen und arbeitrechtlichen Schutz erhalten. Es bestimmt die zentralen Bezugpunkte von Biographien durch eine Dreiteilung des Lebenslaufes in Ausbildungs-, Erwerbs- und Nacherwerbspha-se, durch die damit verbundene Festlegung von Altersnormen und erwartbaren biographischen Ein-schnitten, wie z.B. Abschluss der Schulausbildung oder des Renteneintritts. Diese wiederum definieren nicht zwingend aber eben doch häufig auch private Ereignisse, wie z.B. die Hochzeit oder die Geburt des ersten Kindes. Vor allem werden im Rahmen des Normalarbeitsverhältnisses Geschlechterrollen festgelegt. Mit der Herausbildung des Normalarbeitsverhältnisses in Deutschland hat sich auch die Versorgerehe als Normalform des Zusammenlebens der Geschlechter in der Familie herausgebildet.
Der Bedeutungsverlust des Normalarbeitsverhältnisses
Bereits seit Mitte der 70er Jahre wurde das Konstrukt des Normalarbeitsverhältnisses durch eine Reihe von Entwicklungen in Frage gestellt und dient heute dem überwiegenden Teil der Bevölkerung nicht mehr als biographische Orientierung.
Die dem Normalarbeitsverhältnis impliziten Normen in Bezug auf Ehe und Familie haben an Präge-kraft verloren. Es bestehen heute mehr Wahlmöglichkeiten bei der Gestaltung von Partnerschaften: Schätzungsweise ein Fünftel aller Frauen bleibt heute ein Leben lang kinderlos. Die faktische und ge-sellschaftlich akzeptiert Zeitspanne, in der die Geburt des ersten Kindes stattfinden kann, hat sich da-bei scheinbar enorm vergrößert. Faktisch muss die Entscheidung für Kinder aber in der Phase des Be-rufseinstiegs getroffen werden. Scheidungsraten steigen kontinuierlich ebenso wie Lebensformen außerhalb der Ehe.
In Folge von Bildungsexpansion und der zweiten Frauenbewegung Anfang der 70er Jahre ist die Bil-dungsbeteiligung von (westdeutschen) Frauen ebenso wie ihre Erwerbsbeteiligung kontinuierlich ge-stiegen. Eine gleichberechtigte Teilung von Erwerbs- und Familienarbeit ist dabei der Wunsch des ü-berwiegenden Teils junger Paare.
Unter dem Begriff der "Erosion des Normalarbeitsverhältnisses" wird vor allem die Ausdifferenzierung von Beschäftigungsformen diskutiert. Dabei ist es unbestritten, dass es zu einem Zuwachs von atypi-scher Beschäftigung gekommen ist. Vor allem ist ein Anstieg von befristeten Verträgen, Teilzeitarbeit und Selbständigkeit zu verzeichnen. Letztere verweisen auch einen Zuwachs von prekärer Beschäfti-gung z.B. in Form der größeren Bedeutung von Einpersonenselbstständigkeit oder geringfügiger Be-schäftigung als besonderer Form der Teilzeitarbeit. Bei allen Beschäftigungsformen ist ein Zuwachs von zeitlicher Flexibilität (Stichwort: Gleitzeit, Arbeitszeitkonten) und Mobilität festzustellen.
Spätestens seit der Hartz-Gesetzgebung sind erwerbsbezogene soziale Absicherungen extrem redu-ziert. Wenn es ein Merkmal des fordistisch regulierten Sozialstaates war, Arbeit durch sozialstaatliche Eingriffe ihren warenförmigen Charakter zu nehmen oder ihn zu reduzieren, so folgt die aktuelle Ar-beitmarktpolitik eher der entgegen gesetzten Logik. Im Vordergrund steht nicht der Schutz der Ar-beitskraft, sondern der Erhöhung des Drucks, sie auf dem Arbeitsmarkt anzubieten - auch um den Preis geringer Entlohnung oder hoher persönlicher Mobilität. Die "Rekommodifizierung" von Arbeit findet sich auch in dem Wandel der betrieblichen Organisation wieder. G. Günter Voß macht den Typ des "Arbeitskraftunternehmers" als neuen Leittypus der gesellschaftlichen Verfassung von Arbeit aus. Dieser unterscheidet sich vom Grundmodell des "beruflichen Arbeitnehmers" dadurch, dass die Auf-gabe die eigene Arbeitskraft den (zunehmend flexiblen) Anforderungen des Betriebes zu organisieren vom Arbeitnehmer selbst übernommen wird.
Die durch das Normalarbeitsverhältnis definierte Dreiteilung des Lebenslaufes löst sich auf. Vor allem Berufseinstiege verlaufen zunehmend fragmentiert. Zum Beispiel verbringen Auszubildende heute im Durchschnitt drei Jahre länger im System der beruflichen Bildung als es noch 1970 der Fall war. Dies reflektiert destandardisierte Übergänge von Schule in Arbeit. Phasen der Arbeitslosigkeit sind heute Teil des Berufseinstiegs vieler (auch akademisch ausgebildeter) Jugendlicher. Auch die weitestgehen-de Trennung der Qualifizierungsphase von der Phase der Erwerbsarbeit wird aufgehoben. Qualifizie-rung wird zu einem kontinuierlichen die Erwerbsbiographie begleitenden Prozess. Zudem löst sich die berufsförmige Struktur von Qualifikationen auf.
Erlebte biographische Widersprüche
Vor allem die Veränderungen, die sich auf die Gestaltung der Beziehungen im privaten Bereich stellen einen Anstieg an biographischen Optionen dar. Aber auch die gestiegene Mobilität im Bereich de Er-werbslebens empfinden viele als einen Gewinn individueller Freiheiten. Gleichzeitig führen diese Ent-wicklungen auch zu einer Reihe erlebter Widersprüche:
Einige Institutionen des Sozialstaates orientieren sich immer noch an dem Normalarbeitsverhältnis und dem Modell der Versorgerehe, z.B. das Ehegattensplitting. Dies führt dazu, dass viele Paare - an-ders als geplant - nach der Geburt des ersten Kindes auf eine traditionelle Arbeitsteilung zurückgrei-fen und ihre Lebensentwürfe in Bezug auf die Vereinbarkeit von Familie und Beruf nicht realisieren können. Die "Vereinbarkeitsproblematik" führt auch dazu, dass die Zeitspanne, in der Paare subjektiv das Gefühl haben, ein Kind bekommen zu können kleiner wird.
Es gibt unterschiedliche Einschätzungen darüber, ob es in Hinsicht auf die Ausdifferenzierung von Be-schäftigungsformen gerechtfertigt ist, von einer Erosion des Normalarbeitsverhältnisses zu sprechen. Meiner Meinung nach entscheidend ist aber, dass die Phasen in einer Erwerbsbiographie, welche durch Unsicherheit geprägt sind, länger werden, z.B. der Berufseinstieg oder die Kinderphase. Hinzu kommt die ständige Bedrohung durch Arbeitslosigkeit. Dies erklärt das wachsende Gefühl subjektiver Unsicherheit. Es zeigt aber auch, dass die Bedeutung von biographischen Destandardisierungsprozes-sen nur im Kontext klassischer sozialstruktureller Kategorien wie Klasse und Geschlecht verstanden werden kann. Geringqualifizierte trifft es härter als Höherqualifizierte, Frauen haben unter der "Ver-einbarkeitsproblematik" stärker zu leiden als Männer.
Die Veränderungen der Arbeitswelt werden auf der subjektiven Ebene als "Entgrenzung von Arbeit" erlebt. Für den Typ des "Arbeitskraftunternehmers" verschwimmen die Grenzen zwischen dem Be-reich der Erwerbsarbeit und der privaten Lebensführung. Er koordiniert berufliche und private Anfor-derungen in zeitlicher, räumlicher und organisatorischer Hinsicht.
Als Bewältigungsstrategie dieser Anforderungen macht Voß eine situative auf Offenheit und Flexibili-tät beruhende Form der Lebensführung aus. Diese birgt positive Potenziale, z.B. eine hohe Zeitsouve-ränität und eine optimierte Vereinbarkeit von Arbeit und Leben. Aus Sicht der Arbeitnehmer/innen die diese Strategie beherrschen birgt eine strikte Regulierung von Erwerbsarbeit eben auch die Eingren-zung von Kreativität und persönlicher Souveränität Gleichzeitig erfordert sie "hohe gestalterische Leis-tungen und personale Stabilität" (Voß). Diese Bewältigungsstrategie birgt deshalb auch die Gefahr des Scheiterns in sich. Dann besteht das Leben nur noch im kurzfristigen Reagieren auf private oder beruf-liche Anforderungen. Die Janusköpfigkeit dieser Strategie bringt die Überlegungen zurück zu dem an-fänglich skizzierten Gegensatz zwischen Autonomie und der Gefahr des Verlustes der eigenen Identi-tät.
Moderne Arbeits- und Lebensweise: Biographische Selbstbestimmung im flexiblen Kapitalis-mus
Es ist schwer genau zu quantifizieren, wie groß der Anteil von ArbeitnehmerInnen ist, der mit diesen neuen Anforderungen an Flexibilität konfrontiert ist. Sicher ist aber, dass er wächst und dass das sub-jektive Empfinden von Unsicherheit zunimmt. In privater und beruflicher Hinsicht wächst die Heraus-forderungen die eigene Biographie aktiv zu gestalten. Ob dies eine positive oder negative Entwick-lung ist hat auch sehr viel mit den materiellen Ressourcen zu tun auf die Menschen Zugriff haben. Be-zugspunkte einer Debatte um biographische Selbstbestimmung sind:
Es wird Zeit sich grundsätzlich darüber zu verständen, welche Rolle bei der Absicherung von Biogra-phien dem Staat zukommen soll. Es wurde gezeigt, dass eine enge Einrahmung von Biographien so-wohl ermöglichende, als auch begrenzende Elemente hat. Wie weit soll Intervention hier gehen? Was kann, was soll ein Sozialstaat leisten?
Die unter dem Stichwort "Arbeitsmarktversicherung" oder "Übergangsarbeitmärkte" geführte Debatte muss weiter geführt werden. Es geht um eine flexible Absicherung von Erwerbsbiographien.
Wenn Reproduktionsarbeit aus verschiedenen Gründen zunehmend nicht mehr im Rahmen von Fami-lien erfolgt, muss darüber nachgedacht werden, wie sie gesellschaftlich organisiert werden kann. Das betrifft nicht nur den Bereich der Kinderbetreuung, bei der es ja nicht nur um Betreuung, sondern auch um Bildung und Chancengleichheit geht, sondern auch den Bereich der Pflege.
Es muss grundsätzlich überlegt werden in wieweit die Kategorie des Berufes noch als Strukturprinzip für das Bildungssystem taugt, wenn Bildung tatsächlich zu einem lebensbegleitenden Prozess werden soll. Welchen Sinn macht die klare Grenzziehung zwischen akademischer und beruflicher Bildung und wie kann Bildung stärker Element eines präventiven Sozialstaats sein?
Wenn die Grenzziehung zwischen Arbeit und Leben eine individualisierte Aufgabe geworden ist, braucht es eine gesellschaftliche Debatte darüber, wie viel Arbeit das Leben verträgt. Vielleicht wer-den Arbeitnehmer/innen diese Entscheidung zunehmend individuell treffen müssen. Die normativen Entscheidungsgrundlagen müssen aber weiterhin gesellschaftliches Thema sein.