Die Politiker sind gut gelaunt. Frau Merkel scherzt mit Herrn Müntefering, Herr Gregor (alias Gysi) plaudert mit Herrn Klaus (alias Wowereit), und Herr Westerwelle darf Opposition spielen.
Dies alles passiert vor den erstaunten Augen des applaudierenden Wahlvolkes. Deutschland ist eine Spielburg - für alle. Nicht zu vergessen Herrn Mehdorn. Der spielt Eigentümer, und keiner sagt ihm, daß die Bahn dem Staat gehört. Doch Frechheit siegt, auch wenn der Eigentümer einschreitet: Schön vorsichtig, damit der kleine Racker nicht traurig wird. Angela Merkel übt sich darin, dem Betroffenen das Leben nicht schwer zu machen.
Bei den anderen Betroffenen ihrer Politik ist sie weniger zimperlich. Da wird richtig zur Sache gegangen. An ihrer Seite schreitet BILD. Dieses Zentralorgan versteht sich als parteiunabhängiges, aber ideologisches Politbüro. Deshalb kann die Kanzlerin sicher sein, daß ihre Worte richtig gedeutet werden. Am Tag nach der Regierungserklärung veranstaltete die BILD das erste Wählerlehrjahr. Die mageren Sätze einer marktkonformen Politik der Merkel wurden von der Redaktion in eine Liste kompletter Streichungen übersetzt. Welch einträchtige Arbeitsteilung.
Die BILD-Zeitung als Verkündungsorgan der Angela Merkel. Sie muß nicht mehr selber sagen, was sie den Wählern antut. Das hat ihr letztlich geholfen - auf der Beliebtheitsskala voll durchzustarten. Kurz vor dem zweiten Hoffnungsstern Platzeck liegt sie auf Rang eins.
Ein Satz der Kommunikationsgurus erhält eine neue Bedeutung. Früher hieß es: "Tue Gutes und sprich darüber", heute: "Tue Schlechtes und laß andere darüber reden". Damit entgehst du einer späteren Verantwortung. Mit einer solchen Taktik wäre in der DDR die Pressefreiheit nicht nur möglich, sondern nötig gewesen. Statt Befehlsnotstand hätten sich alle auf den Deutungsnotstand berufen können.
Denn für die Angela Merkel bleibt jetzt nichts weiter übrig, als die Streichungen durchzuziehen. Es wäre ihr politisches Ende, wenn sie Volkes Stimme, so möchte BILD verstanden werden, überhören würde. Seit ihrer Antrittsrede und deren übersetzter Fassung in der BILD ist deren Sicht der Dinge allgemeingültig. Die Meinungsumfragen beweisen dies.
Doch diese schlichte Poesie der Politik eignet sich noch zu viel mehr. Denn es reicht nicht aus, das Volk zu verblöden. Es kommt darauf an, es auf Dauer ruhigzustellen - was nur gelingen kann, wenn die Leidensfähigkeit über den gesunden Menschenverstand hinaus gesteigert wird.
Womit wir bei einem beispiellosen Auftrag für die politische und wirtschaftliche Klasse sind. Die Aufklärer und Deuter der neuen Zeit haben dafür zu sorgen, daß das tägliche kleine Gift zuckersüß schmeckt. Jede Amputation von Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität verlangt den besinnungslosen Einsatz dieser Alltagshelden. Die Politiker aller Lager haben sich unter der Flagge der Sachzwänge des Naturgesetzes Globalisierung zu vereinen. Denn unser Volk steht im Kampf gegen andere Völker. Es ist Krieg, und Angela Merkel führt uns in die Schlacht. Ihr Worte vom Volk als Schicksalsgemeinschaft können nur so gemeint sein.
In diesem Krieg opfert jeder, was ihm die politische Klasse anempfiehlt: als erstes Renten, Gesundheitsfürsorge und Bildung. Die realen Löhne schwinden und reichen immer noch zum Leben. Das Volk wird an verschiedenen Teilen seines Körpers gezwickt. So kann ein allen gemeinsames Schmerzbild nicht entstehen. Jeder doktert an sich und für sich rum. Vielleicht macht sich sogar Dank breit im Volk. Was bleibt? Angela Merkels Ruf "Mehr Freiheit wagen". Natürlich die wirkliche Freiheit, egal, wie sie aussieht. Ein Leitbild hat die gute Frau nicht vorgegeben. Das wird die Presse schon erledigen. Mich graust aber davor. Denn als Willy Brand "Mehr Demokratie wagen" wollte, ahnte er nicht, daß wir heute die niedrigste Wahlbeteiligung haben und bei der direkten Demokratie in den demokratischen Anfängen verharren. Sollte sich das mit der Freiheit ähnlich entwickeln, dann haben wir in wenigen Jahren eine demokratische Diktatur. Dies ist der tiefere Sinn der Politik der Angela Merkel. Sie öffnet einen Sack mit heißer Luft, und es wird ein politischer und sozialer Wirbelsturm entstehen. Die Verhältnisse werden tanzen, und dem Volk geht die Luft aus.
in: Des Blättchens 8. Jahrgang (VIII) Berlin, 19. Dezember 2005, Heft 26