Moderne Barbarei

Zum 60.Jahrestag von Auschwitz und Hiroshima

Der 60.Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkriegs sollte weniger Anlass für patriotische Gedenken als für ein ernsthaftes Nachdenken über die moralische und historische Bedeutung bestimmter Ereignisse in diesem Krieg sein, die die moderne Zivilisation in ihrem Kern in Frage stellen.

Der Gegensatz zwischen Zivilisation und Barbarei ist alt. In der Philosophie der Aufklärung findet er eine neue Rechtfertigung, die von der sozialistischen Linken ererbt wird. Selbst eine Revolutionärin wie Rosa Luxemburg begreift in ihrem Ausruf "Sozialismus oder Barbarei" den "Rückfall in die Barbarei" als "Vernichtung der Zivilisation" - ein Untergang analog dem des Alten Rom.
Walter Benjamin gehört zu den ganz wenigen marxistischen Denkern, die eine Vorahnung davon hatten, dass der technische und industrielle Fortschritt Träger von beispiellosen Katastrophen sein kann. Daher sein Pessimismus - kein fatalistischer, sondern ein aktiver und revolutionärer. In einem Artikel aus dem Jahr 1929 definiert er revolutionäre Politik als "Organisierung des Pessimismus" - ein Pessimismus auf der ganzen Linie: Misstrauen in das Geschick der Freiheit, Misstrauen in das Geschick der europäischen Menschheit. Ironisch fügt er hinzu: "unbegrenztes Vertrauen allein in IG Farben und die friedliche Vervollkommnung der Luftwaffe". Doch nicht einmal Benjamin, der pessimistischste von allen, konnte ahnen bis zu welchem Grad diese beiden Institutionen wenige Jahre später das unheilvolle und zerstörerische Potenzial der Moderne zeigen würden.
Auschwitz stellt die Moderne dar, nicht nur wegen ihrer Struktur als Todesfabrik, die wissenschaftlich organisiert ist und die fortgeschrittensten und effizientesten Technologien einsetzt. Der Völkermord an Juden und Zigeunern ist auch, wie der Soziologe Zygmunt Baumann beobachtet, ein typisches Produkt der Rationalität der Bürokratie, die jedes Eindringen von Moral in das Verwaltungshandeln ausschaltet. Von diesem Standpunkt aus ist er eines der möglichen Ergebnisse des zivilisatorischen Prozesses - weil Rationalisierung und Zentralisierung von Gewalt und weil gesellschaftliche Produktion von moralischer Gleichgültigkeit.
Hiroshima weist offenkundige Unterschiede zu Auschwitz auf: Das Ziel der Atombombe ist nicht die Auslöschung der japanischen Bevölkerung. Vielmehr ging es darum, das Ende des Krieges zu beschleunigen und die militärische Überlegenheit der USA gegeüber der Sowjetunion zu demonstrieren. Um diese politischen Ziele zu erreichen, wurde die fortgeschrittenste Wissenschaft und Technologie eingesetzt; mehrere hunderttausend unschuldige Zivilisten, Männer, Frauen, Kinder, wurden massakriert - nicht zu reden von der Verseuchung der nachfolgenden Generationen durch die atomare Strahlung. Die amerikanische Führung war sich der Parallele mit den Naziverbrechen jedoch bewusst. In einer Unterredung mit Staatspräsident Truman am 6.Juni 1945 gestand Staatssekretär Stimson sein Unbehagen: "Ich habe ihm gesagt, dass ich über diesen Aspekt des Krieges beunruhigt sei Â… weil ich nicht wollte, dass die USA den Ruf gewinnen, Hitler in der Abscheulichkeit der Verbrechen noch zu übertreffen." (Foreign Affairs, Februar 1995.)
Der widersprüchliche Charakter von "Fortschritt" und "Zivilisation" in der Moderne steht im Mittelpunkt der Reflexionen der Frankfurter Schule. In der Dialektik der Aufklärung (1944) konstatieren Adorno und Horkheimer, dass die instrumentelle Vernunft die Tendenz hat, zum mörderischen Wahn zu werden: unter den "eisigen [Sonnen-]
Strahlen der kalkulierenden Vernunft" reift "die Saat der neuen Barbarei" heran. In einer seinen Erläuterungen zu Minima Moralia aus dem Jahr 1945 gebraucht Adorno den Begriff "regressiver Fortschritt", um die paradoxe Natur der modernen Zivilisation zum Ausdruck zu bringen.
Trotz alledem atmen auch diese Formulierungen immer noch den Geist der Philosophie des Fortschritts. In Wirklichkeit sind Auschwitz und Hiroshima mitnichten eine "Regression in die Barbarei" oder eine "Regression" überhaupt: nichts in der Vergangenheit ist vergleichbar mit der industriellen, wissenschaftlichen anonymen und rational verwalteten Produktion des Todes unserer Zeit. Es reicht, Auschwitz und Hiroshima mit den Praktiken barbarischer Stammeskrieger im 4.Jahrhundert u.Z. zu vergleichen, um sich klar zu werden, das sie nichts miteinander gemein haben: der Unterschied ist nicht nur graduell, er ist wesentlich.
Die technologisch perfektionierten, bürokratisch organisierten Massenschlächtereien gehören nur unserer industriell fortgeschrittenen Zivilisation an. Auschwitz und Hiroshima sind kein Ausdruck "moderner Barbarei", sie sind unrettbar und ausschließlich moderne Verbrechen. Diese beunruhigende Schlussfolgerung müsste zum Nachdenken - und zum Handeln anregen. Bevor es zu spät ist.

(Übersetzung: Angela Klein)