Rot-grün in Gefahr

Die Nachrichten der letzten Wochen sind alarmierend. Die Arbeitslosigkeit steigt - nicht nur aus Gründen der neuen Statistik - auf neue Rekordhöhen.

Die Nachrichten der letzten Wochen sind alarmierend. Die Arbeitslosigkeit steigt - nicht nur aus Gründen der neuen Statistik - auf neue Rekordhöhen. Die binnenwirtschaftlichen und beschäftigungspolitischen Probleme können nicht allein der Regierungspolitik angelastet werden. Dennoch offenbaren sich in diesen Entwicklungen gravierende Versäumnisse und Fehlorientierungen der SPDRegierung der letzten Jahre. Faktisch hat es keine offensive Beschäftigungspolitik gegeben.
In Anlehnung an neoliberale Dogmen hat sich die Regierung unter Führung von Wirtschaftsminister Clement aber auch mit aktiver Unterstützung von Finanzminister Hans Eichel und anderen auf eine Politik konzentriert, die vor allem auf eine Kostenentlastung der Unternehmen zielte, nicht selten im Gewand der Forderung nach niedrigeren Lohnnebenkosten.
Diese Argumentation wirkte auch hinein in Gewerkschaften und linke Kreise, da eine starke Belastung der Erwerbseinkommen negative Effekte auf Arbeitnehmereinkommen und Binnennachfrage haben. Dieser Punkt muss daher noch einmal differenziert betrachtet werden. Insgesamt versprach man sich von dieser einseitig ausgerichteten Politik, die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft zu stärken und sich so im internationalen Konkurrenzkampf besser zu behaupten.
In einer anderen als der beabsichtigten Weise ist diese Strategie aufgegangen. Die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft ist gut, wie die Exporterfolge zeigen. Die Gewinne sprudeln kräftig. Der Arbeitsplatzabbau schreitet trotz guter Gewinnentwicklung fort.
Die Binnennachfrage sinkt bzw. steigt trotz guter Wirtschaftslage nicht ausreichend. Die staatlichen Einnahmen bleiben hinter den Erwartungen zurück, mit der Folge, dass Staatsausgaben reduziert werden und damit das volkswirtschaftliche Nachfrageproblem verstärkt.
Ein Teufelskreis ist in Gang gesetzt. Wer in dieser Situation wie Clement weitere Kostenentlastungen für Unternehmen durch eine Senkung der Unternehmenssteuern fordert, hat grundlegende Zusammenhänge der derzeitigen Lage nicht begriffen. Immerhin scheint Gerhard Schröder erkannt zu haben, dass die restriktive Geldpolitik der EZB (Europäische Zentralbank) kontraproduktiv wirkt.
Der EU-Beschluss, bestimmte Strukturausgaben beim Schuldenquorum anrechnen zu können, ist daher zu begrüßen. Es ist nur bedauerlich, dass dieser sattsam bekannte Umstand nicht schon vor Jahren in eine aktive Politik der rot-grünen Regierung gemündet hat. Gelegenheiten hat es genügend gegeben.
Aber spät ist besser als gar nicht: Notwendig ist ein deutliches Umsteuern, hin zu einer offensiven Reformpolitik für Beschäftigung und soziale Gerechtigkeit: • Ohne eine aktive Wachstums- und Beschäftigungspolitik wird es nicht gelingen, ausreichende Impulse zu setzen, um Wirtschaftswachstum zu initiieren und damit Beschäftigung zu schaffen. Eine solche Politik darf sich nicht in arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen erschöpfen. Angesichts der aktuellen Defizite in Deutschland geht es vor allem um die Förderung von Innovation im umfassenden Sinne und die Steigerung der Binnennachfrage durch eine Stärkung der Masseneinkommen und des öffentlichen Konsums. Eine solche Politik beinhaltet und erfordert Umverteilung. Der Trend zur Stärkung der Gewinn- und Vermögenseinkommen zuungunsten der Einkommen aus unselbständiger Arbeit muss umgekehrt werden. Hier sind die Gewerkschaften in den Tarifauseinandersetzungen gefordert.
Dies muss durch eine verteilungsorientierte Steuerpolitik flankiert werden. Eine erneute Senkung der Unternehmenssteuern ist in dieser Hinsicht kontraproduktiv.
Der fiskalische Handlungsspielraum des Sozialstaats muss und kann wieder erhöht werden.
• Statt eines Abbaus des Sozialstaates bedarf es eines Umbaus zum sozialen Bürgerstaat, der drei Ebenen beinhaltet. (1) Die Integration aller Menschen in die Gesellschaft. D.h., die Sicherung gesellschaftlicher Teilhabe für alle ist nach wie vor die wichtigste Aufgabe des Sozialstaates.
(2) Die Durchsetzung eines aktivierenden Sozialstaates, der von einer neuen Balance zwischen Rechten und Pflichten der Leistungsempfänger ausgeht. Es geht nicht allein darum, soziale Problemlagen abzumildern, sondern auch die Menschen zu befähigen, mit eigenen Beiträgen derartige Problemlagen zu überwinden. Aktivieren kann aber nur gelingen bzw. Sinn machen, wenn es deutlich mehr und ausreichend bezahlte Arbeitsplätze gibt.
(3) Schließlich bedarf es einen investiven Sozialstaates, der eine breite und zukunftsfähige Infrastruktur bereitstellt. Ein Sozialstaat muss insbesondere den Zugang zu Bildung sowie die Qualität der Bildung fördern. Dabei gilt es, konkrete Aufstiegspfade auch für sozial benachteiligte oder deklassierte Schichten aufzuzeigen.
Dies ist nicht nur unverzichtbar zur Verbesserung der Lebensbedingungen der einzelnen Menschen, sondern auch eine wichtige Voraussetzung für die anhaltende Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft.
Die verbleibende Zeit für eine Reformoffensive nutzen Die Wahlchancen der SPD bei der nächsten Bundestagswahl hängen davon ab, ob es eine glaubhafte Hinwendung zu einer solchen Reformpolitik gibt. Wir müssen eine Politik der sozialen Anwaltschaft etablieren.
Das heißt: Wir können den Flexibilitätsdruck, den Arbeitszeitdruck, den Weiterbildungsdruck, den Kostendruck in den Betriebe nicht einfach auflösen, aber wir können trotzdem für familienbezogenen Zeitwohlstand, Mitsprache, eine funktionierende Weiterbildungsarchitektur und deren gerechte Finanzierung sorgen und wir können Lohndumping durch internationale Koordination und nationale Mindestarbeitsbedingungen und Mindestlöhne abfangen.
Soziale Anwaltschaft heißt konkret Bürgerversicherung in der Gesundheitspolitik, Arbeitsversicherung in der Arbeitsmarkt- und Weiterbildungspolitik, Armutsprävention und Armutsbekämpfung. Und es heißt eine gesamtwirtschaftliche Wachstums- und Beschäftigungspolitik, statt Kurzfristökonomie und haushalterischer Kleingeist.
Das unglaubliche und bittere Ende der rot-grünen Koalition in Schleswig-Holstein, die in ihrer Wirkung höchst unsicheren Ergebnisse der Gespräche mit der Opposition im Rahmen des "Job-Gipfels" zeigen dass rot-grün eindeutig in einer schweren Krise steckt. Wer allerdings den Frontalangriff des Bundespräsidenten und die fahrige und inhaltlich genauso neoliberale Antwort von Angela Merkel auf die Regierungserklärung von Gerhard Schröder dagegen setzt, kann leicht erkennen, dass es in Deutschland keine politische Gestaltungsalternative zu rotgrün gibt, die vernünftige Signale für Wachstum und Beschäftigung setzen könnte. Voraussetzung für eine solidarische Reformperspektive ist die Abkehr von der einseitig angebotsorientierten Politik, wie Clement, Eichel & co. sie betreiben, und die Wiederbesinnung auf grundlegender ökonomischer Wahrheiten. Das Forum DL21 hat auf der Weimarer Klausur (s. spw 141) konkrete Vorschläge unterbreitet.
Verzichtet die Sozialdemokratie auf eine ehrliche Auseinandersetzung damit, wird es kein zukunftsfähiges rot-grünen Projekt geben können. Für diese Erkenntnis ist neuer Raum gewonnen.
Selbst an der Basis werden Nachfrageimpulse und ökonomische Alternativen wieder stärker diskutiert. Die Hoffnung bleibt. Und wir bleiben dran.

Andrea Nahles, Literaturwissenschaftlerin, Vorsitzende Forum DL21, Mitglied im SPD-Präsidium und der SPD-Grundsatzprogrammkommission, lebt in Weiler/Eifel