Sieben Jahre Rot-Grün

Gratwanderung zwischen Wollen und Können

Man erinnert sich noch gerne an den September 1998: 16 Jahre Helmut Kohl, das hatte wirklich gereicht. Gereicht hat es dann für den überfälligen Wechsel. Rot-Grün lag mit 47,6 Prozent vorne.

Man erinnert sich noch gerne an den September 1998: 16 Jahre Helmut Kohl, das hatte wirklich gereicht. Gereicht hat es dann für den überfälligen Wechsel. Rot-Grün lag mit 47,6 Prozent vor den Schwarz-Gelben, die es nur auf 41,3 Prozent brachten. Die Wechselstimmung war diffus. Wie man heute besser weiß, ging es nicht nur um das verletzten Gerechtigkeitsempfinden der Menschen. Viele wollten auch ganz einfach "den Dicken" loshaben. Auf den Schultern der Urenkel-Generation gelangte die sogenannte Enkel-Generation in der SPD endlich zur Regierungsmacht, nachdem sie der CDU schon in den Ländern, ihre einstigen Bastionen Rheinland-Pfalz, Saarland, Niedersachsen und Schleswig-Holstein abgerungen hatte. Nicht nur einer, gleich zwei aus der veritablen Riege der Reihe nach Willy Brandt, Helmut Schmidt und Hans-Jochen Vogel haben es geschafft: der aus Hannover und der aus Saarbrücken. Es hätte das Traum-Duo der Sozialdemokratie im Übergang zum neuen Jahrhundert werden können. Es war aber schon damals nur ein Zweckbündnis zweier Egomanen. Oskar Lafontaine benötigte fünf Monate Testzeit um herauszufinden, was ihm wirkliche Freunde schon immer gesagt hatten: Der Kanzler bestimmt die Richtlinien der Politik und nicht der SPD-Vorsitzende. Gegen jeden Rat hatte sich Lafontaine trotzdem in das Amt das Finanzministers hineingedrängelt und so nebenbei auch noch verhindert, dass Rudolf Scharping Fraktionsvorsitzender bleiben konnte. War schon auf dem Weg zur Regierungsmacht das Dreigestirn zerbrochen, wurde aus dem Duo an der Spitze, rascher als die meisten SPD-Mitglieder gewünscht hatten, ein Solo für Gerd. Folgt man aktuellen Rückblicken, sagt man der SPD nach, sie hätte nicht nur die Lafontaine-Monate, sondern fast die ersten fünf Regierungsjahre verpennt. Erst mit des Kanzlers Agenda 2010-Rede am 14.3.2003 sei die Republik und ihr Reformwille wachgeküsst worden. Doch Reformwillen, den gab es von der ersten Stunde an. Was sich ab dem fünften Jahr fundamental verändert hat, ist die herrschende Definition zum Reformbegriff. Gute alte sozialdemokratische Tradition war es bis dahin, als Reformen zu verstehen, was das Leben und Arbeiten der Menschen verbessert und soziale Schieflagen korrigiert statt verschärft. Unter diesem Anspruch müsste sich die SPD für ihre ersten Regierungsjahre nicht schämen und schon gar nicht verhöhnen lassen. Sicher hat sie die übernommene Hypothek der Kohl-Ära unterschätzt. Auch hätte sie besser nicht den Eindruck erweckt, Regierungspolitik könne auf dem Arbeitsmarkt herbeizaubern, was die Unternehmen verweigern. Schon früh war abzusehen, dass allein durch verbesserte Angebotsbedingungen über weniger Unternehmenssteuern und Sozialabgaben, Konjunktur und Arbeitsmarkt nicht in Schwung zu bringen sind.
Regierungserfolge
Wort gehalten haben die Koalitionsparteien bei ihrem Wahlversprechen, die politischen Fehlentscheidungen der Kohl-Regierung bei der Rente, beim Kündigungsschutz und bei der Lohnfortzahlung im Krankheitsfalle zu korrigieren. Auf der Habenseite der ersten Jahre steht die Öko-Steuer. Deren Einnahmen halfen, die Beitragssätze zur Rentenversicherung zu stabilisieren. Gelungen ist der Ausstieg aus der Atomkraftnutzung. Zudem hat Deutschland in der internationalen Politik in Abstimmung mit den Partnern in der EU und der Nato eine auch militärisch flankierte zusätzliche Verantwortung übernommen, ohne in den Sog des nichtverantwortbaren Kriegs der USA gegen den Irak zu geraten.
Kritiker mögen einwenden, dass auf keiner der großen Reformbaustellen Arbeitsmarkt, Rentensicherheit und Krankenversicherung ein vollendetes Werk entstanden ist. Es gab lediglich allzu kurzatmige Anpassreaktionen und Vertröstungen auf Besseres beim nächsten Mal. Das zu kritisieren, ist legitim und nötig. Selbstgerecht und naiv wird die Kritik, wenn sie die jeweils aktuelle Zwischenlösung als unzureichend gering schätzt, ohne die Realisierungswege und politischen Rahmenbedingungen für vorgeblich bessere Lösungen zu bedenken. Bis zuletzt hat die rot-grüne Bundesregierung darauf gesetzt, den dafür nötigen Konsens in Kommissionsstrukturen außerhalb des Parlaments finden und dann leichter auch parlamentarisch realisieren zu können. Die Versuche, Regierungsentscheidungen zu legitimieren, auch ohne dafür im Detail parlamentarische Mehrheiten garantieren zu können, reichen vom spektakulär gestarteten Bündnis für Arbeit, über die Süssmuth-Kommission zur Zuwanderung, die Ethik-Kommission, die Hartz-Kommission zur Reform des Arbeitsmarktes, die Rürup-Kommission zur nachhaltigen Sicherung der Finanzierung der Sozialsysteme bis zuletzt zur Biedenkopf-Kommission, die Vorschläge zur Weiterentwicklung der Mitbestimmung machen soll. Ist das Suchen nach Handlungsoptionen der Politik wirklich nur reine Parlamentsangelegenheit? Wer will hier das letzte Wort sprechen?
"Aufbruch und Erneuerung", so das Motto der ersten Legislaturperiode, hatte es in der Tat gegeben. Aber auch Aufruhr und Ermüdung. Bis wenige Tage vor dem Wahltermin am 22. September 2002 war noch nicht entschieden, ob vier Jahre Schröder-Regierung eine Episode bleiben oder eine Epoche begründen würden. Der Kurs einer unspektakulären Mitte-Links-Reformpolitik war erkennbar, doch mitreißend ist so etwas selten.
Tu es noch einmal, Gerd!
So war die Stimmung im Wahljahr 2002 unter den Anhängern rot-grüner Regierungsarbeit. Mitreißend waren buchstäblich nur die umweltbedingten Überschwemmungen in Ostdeutschland, bei denen sich der Kanzler virtuos als Krisenmanager in Szene setzen konnte. Und auch die Standhaftigkeit gegenüber einer auf militärische Abenteuer gepolten US-Regierung brachten Kanzler und Außenminister verloren gegangenes Wählervertrauen wieder zurück. Die Wirtschafts- und Arbeitsmarktdaten konnten kaum als Leistungsbeweis bemüht werden. Nicht nur die Erwartungen, auch die Versprechungen waren kühner. Die Unionsparteien verpassten ihre Chance, eine plausibles Alternativprogramm für mehr Wachstum und Beschäftigung aufzulegen. Stattdessen beschränkten sie sich auf das Rummeckern am Regierungskurs. Wer selbst mit dem Regierungskurs nicht im Einverständnis lag, fand im Wollen der Oppositionsparteien nur noch größere Fehler. Trotzdem waren sich die Unionsparteien mit ihrem Kanzlerkandidaten Edmund Stoiber bis in die Wahlnacht hinein sicher, es könnte für die Ablösung von Rot-Grün reichen. Knapp 6.000 Stimmen haben entschieden, dass die SPD mit einem Stimmenanteil von 38,5 Prozent stärkste Partei blieb. Rot-Grün erreichten 47,1 Prozent, Schwarz-Gelb 45,9 Prozent. Rot-Grün behielt die Option, aus einer Episode eine Epoche zu machen. Die Spitzen der Unionsparteien quittierten es mit einer Mischung aus Unglauben und Entsetzen. Sie fühlten sich irgendwie um ihren Sieg betrogen, zumal sich die Union notorisch als die Partei mit Dauerabo für Regierungsarbeit versteht. Es wurde nichts mit den monatelang sicher geglaubten Posten. Die Rot-Grünen gewannen weitere vier Jahre. Es konnte ja noch keiner ahnen, dass die Luft nur für drei reichte.
Wer erwartete, SPD und Grüne hätten aus ihrem schlechten Start 1998 gelernt, wurde eines Schlechteren belehrt. Koalitionsverhandlungen, die zu einem nicht unerheblichen Teil in und über die Medien geführt wurden, fanden sich begleitet von einer Vielstimmigkeit bei Fragen der Finanz- und Haushaltspolitik. Der Startkredit in die neue Legislaturperiode war schnell verbraucht. Die Opposition und ihre medialen Lautsprecher bekämpften die Regierung, als hätte sie kein Recht, den eigenen politischen Grundanliegen zu folgen. Sie hätte damit leben können. Immerhin ist es keine Schande, eine Politik für die Mehrheit der Bevölkerung machen zu wollen. Das Regierungsprogramm beschriebt diese Politik unter der Maßgabe einer sozial gerechten Modernisierung des Landes.
Regierung im Rückwärtsgang
Nicht auf allen innenpolitischen Reformfeldern hat die Bundesregierung den Mut zur Programmtreue und zum Konflikt mit entgegenstehenden Interessen weiter entwickelt.
Am 14. März 2003 stellte der Bundeskanzler - quasi als eine nachgeschobene Regierungserklärung - die Weichen der tagespolitischen Vorhaben auf Revision bisheriger Zielsetzungen bei den Sozialstaatsreformen. Angesetzt wird nicht an den Ursachen konjunktureller Schwächen, sondern sein neues Vorhaben "Agenda 2010" versucht, die negativen Konsequenzen der Wirtschafts- und Beschäftigungskrise anders zu bewältigen als es bislang sozial geboten schien. Nicht dem Kurs der Titanic gilt die Aufmerksamkeit des Steuermanns, sondern dem Umgruppieren der Liegestühle auf Deck. Wie der Blick auf erfolgreichere europäische Nachbarländer zeigt, wäre eine makroökonomische Akzentveränderung der Regierungspolitik wohl zweckgerechter gewesen. Eine deutliche Prioritätensetzung für das Fördern von Innovation und Investition fehlte. In der Schlüsselrolle wären dabei Weichenstellungen in der Bildungs-, Forschungs- und Technologiepolitik. Die Agenda 2010 bietet dafür keinen konsistenten Plan. Trügerisch klammert sie sich an die fragwürdigen Problemdeutungsmuster der Konkurrenz.
So findet sich die Absicht, allen abhängig Beschäftigten Mehrkosten für das Krankengeld aufzuerlegen, um den Arbeitgebern im gleichen Umfang Entlastung zu erteilen. Der fragwürdige Vorteil, auf diese Weise die Investitionsneigung der Unternehmen positiv zu stimulieren, wird mit dem Nachteil erkauft, allen Arbeitnehmern im Umfang dieser zusätzlichen Belastung Geld für den privaten Konsum zu entziehen. Das ist nicht nur sozial bedenklich, sondern ökonomisch kontraproduktiv.
Die größte Irritation löste der Kanzler mit dem Vorhaben aus, die Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes für die unter 55-Jährigen auf 12 und für die über 55-Jährigen auf 18 Monate zu begrenzen, "weil dies notwendig ist, um die Lohnnebenkosten im Griff zu behalten". Folgt man überhaupt dieser Logik, wäre es am konsequentesten, das Arbeitslosengeld noch rigoroser zu kappen, so wie es der eingespielte Chor aus Opposition, Arbeitgeberverbände und Meinungsmachern des Neoliberalismus gebetsmühlenhaft fordert. Nicht umsonst schieden sich in den Debatten der vergangenen Jahre an diesem Punkt die Böcke von den Schafen. Die einen - das waren bislang immer die Sozialdemokraten - wollten, dass wir weniger Arbeitslose haben. Die anderen wollen, dass die Arbeitslosen weniger haben. Priorität für die Sozialdemokraten hatte bislang das Bekämpfen von Arbeitslosigkeit und nicht das Belasten von Arbeitslosen. Hier ist die Sozialdemokratie seit März 2003 rückwärts gelaufen und hat große Teile ihrer Mitglieder und Wähler zurückgelassen.
Politik im Nachvollzug der Agenda 2010
Zur Freude der Wirtschafts- und Arbeitgeberverbände und ihrer parlamentarischen Helfer sowie unter Beifallsbekundungen einschlägig engagierter Meinungskartelle verwickelten sich Bundeskanzler, Bundesregierung und Regierungsparteien in eskalierende Konflikte mit der eigenen Wählerschaft. Umfragen und Wahlergebnisse belegten Monat für Monat, wie deutlich es misslang, auch nur in die Nähe jener Zustimmungsraten zu kommen, mit der 2002 noch einmal knapp die Regierungsführung behauptet werden konnte.
Des Kanzlers Verzicht auf eine Gegenoffensive zum neoliberalen Mainstream und sein Einschwenken auf eine bloße sozialdemokratische Variante hat die Oppositionsparteien zunächst kalt erwischt. Der Kanzler nun auch ein bekehrter Neoliberaler? Sicher nicht, aber die Abkehr vom herkömmlichen sozialdemokratischen Reformverständnis war offenkundig. Getreu dem Motto "if you can't beat them, join them" übernahm der Bundeskanzler aus dem Glaubensvorrat des Neoliberalismus die Hoffnung, mit Entlastung der Unternehmen ließen sich quasi im Selbstlauf Wachstums- und Arbeitsmarktprobleme lösen. Diese Aspekte der Agenda 2010 aktivierten heftigen innerparteilichen Widerstand. Nur mit Rücktrittsdrohungen und dem schließlich vollzogenen Verzicht auf das Amt des Parteivorsitzenden gelang es Gerhard Schröder, die Bundestagsfraktion und die Parteigremien auf die neue Linie zu zwingen. Die Kollateralschäden haben ihn ein Jahr früher als nötig eingeholt.
Der Kanzler machte sich gar nicht die Mühe, die Kritik an äußerst strittigen Einzelaspekten seiner Agenda 2010 konkret zu beantworten. Pauschal verkaufte er das gesamte Paket als "neue Reformpolitik". Dieser Argumentationskniff erlaubte es, die berechtigten Zweifel an unsinnigen Details im Gesamtpaket der Agenda 2010 pauschal zurückzuweisen und selbst wohlmeinenden Kritikern das Etikett der Reformverweigerer anzuheften. Was im Kern ein Konflikt der Regierung mit bedeutenden Teilen ihrer Wählerschaft und eine innersozialdemokratischen Kontroverse ist, geriet in der öffentlichen Wahrnehmung zeitweilig zum Gefecht zwischen Bundesregierung und Gewerkschaften. Gegen die Vorliebe der öffentlichen Wahrnehmung für einfache Schwarz-Weiß-Muster fiel es den Gewerkschaften nicht leicht, die eigenen Positionierungen zu erklären. Viel zu lang blieb die unrealistische Erwartung unwidersprochen, Gewerkschaften könnten als eine Art Obergenehmigungsbehörde für Regierungspolitik agieren oder seien so etwas wie eine außerparlamentarische Opposition. Es hat den Gewerkschaften einige Mühe bereitet, solche Überforderungen zurückzuweisen, über ihre faktischen Handlungschancen aufzuklären und sie konsequent zu nutzen. Die realistische Sicht auf die Grenzen eigener gesellschaftlicher Mobilisierungsarbeit teilen die Gewerkschaftsvorstände mit der großen - aber oft schweigenden - Mehrheit ihrer Mitglieder. Offenkundige Mängel in der Regierungsarbeit müssen die Regierungsparteien vor ihren Wählerinnen und Wählern verantworten. Die Gewerkschaften sind dabei in der Rolle der Kritiker und Anreger für Besseres, bleiben aber machtlos, wenn sie "vor tauben Ohren predigen".
Es sind die vielen eklatanten Konstruktionsmängel und Plausibilitätsprobleme sowie die sozialen Schieflagen mancher Regierungsvorhaben, die jeder Politik Akzeptanzprobleme bereitet, die sich bloß auf den Rahmen der Agenda 2010 verkürzen wollte. Mehr Skepsis gegenüber alten und neuen Arbeitgeberwunschzetteln hätte der Regierung mehr genützt, zumal zusätzliche praktische Erfahrungen beweisen, dass reduzierter Kündigungsschutz keinen Durchbruch auf dem Arbeitsmarkt bringt. Ein Verlagern sozialer Finanzierungslasten auf die abhängig Beschäftigten hat schon immer nur Umverteilungsprozesse von unten nach oben befördert, nicht aber eine boomende Wirtschaft hervorgebracht. Und schließlich sind neue Bedrückungen für Arbeitslose kein Ersatz für eine intelligente Arbeitsmarktpolitik, bei der tatsächlich gefördert wird. Die strittigen Regierungsvorhaben trafen auf eine parlamentarische Opposition und eine Mehrheit im Bundesrat, die sozial bedenkliche Konstruktionsfehler der Agenda 2010 nicht ausgleichen, sondern verschlimmern wollte.
Die Gewerkschaften haben sich unter diesen Rahmenbedingungen bemüht, die Kurzatmigkeit der Politik und die wiedererwachte Vorliebe für Scheinlösungen und Kompromisse zu Lasten der sozial Schwächeren öffentlich zu thematisieren, zu kritisieren und soweit wie möglich auch zu korrigieren. Und trotz des erklärten Desinteresses der Regierenden an Alternativen haben die Gewerkschaften eigene Reformanstöße für Wachstum und Beschäftigung, Bildung und Innovation vorgelegt. Nicht nur die größeren und kleineren Demonstrationen des Jahres 2004, sondern alle Wahlentscheidungen der vergangenen Monate sprechen dafür, dass die Gewerkschaften mit ihrer Kritik an der Regierungsarbeit und an den Problemverschärfern in den Oppositionsparteien nicht so etwas wie "Geisterfahrer auf der Autobahn" sind. Viel zu viel Regierungszeit ist vergangen, bevor wieder anerkannt wurde, dass es nicht nur die einzig richtige oder falsche Politik für mehr Wachstum und Beschäftigung gibt. Wer Regierungspartei bleiben oder werden will, wird sich auch aktuell mit den gewerkschaftlichen Vorschlägen zur Förderung von Wachstum und Beschäftigung seriöser auseinandersetzen müssen, als es ihm die lieb gewordenen Vorurteile bislang nahe legten.
Rot-Grün am Ende des Könnens
Die SPD weigerte sich von Wahl zu Wahl, die Denkzettel der Wähler und Nichtwähler anzunehmen. Sie nannte es noch Fortschritt, beim Rückwärtsgehen nicht gestürzt zu sein. Die bundesweiten Zustimmungswerte der SPD schwankten seit 2003 zwischen 23 und 35 Prozent.
Man musste kein Prophet sein, um vorherzusagen, dass anhaltende Arbeitslosigkeit und die verletzten Gerechtigkeitsgefühle großer Teile der Bevölkerung auf der politischen Tagesordnung bleiben. Es ist auch kaum erstaunlich, dass sich die beiden in Konkurrenz stehenden politischen Lager darin erschöpfen, sich gegenseitige Untauglichkeit zur Problemlösung zu attestieren. Für Rot-Grün ergab sich ein Dilemma: Gäbe sie ihren politischen Kontrahenten weiter nach, verschlechtert sie ihre eigenen Wiederwahlchancen. Wirkliche Modernisierungsgewinne für das Land wären so nicht zu erreichen. Ginge sie couragiert an, was das Leben und Arbeiten der Menschen spürbar verbessert, trifft sie auf das Veto der Opposition im Bundesrat. Der Geist der großen Koalition prägte fortan mehr und mehr das Können und beschnitt das Wollen. Attraktiv für die Rot-Grün-Wählerkoalition war das nicht.
Die letzte Niederlage bei der Landtagswahl im sozialdemokratischen Stammland Nordrhein-Westfalen hat der Bundeskanzler zum Anlass genommen, auf vorgezogene Neuwahlen zu setzen.
Erfreulich eilig und mit vorzeigbarem Ergebnis haben die Sozialdemokraten gelernt, ihre Wiederwahlperspektiven zu verbessern. Ihr Wahlmanifest nimmt Vieles auf, was in den beiden zurückliegenden Regierungsjahren noch als Sündenfall galt. Damit hätten sie wohl auch Ehre für den Rest der Legislaturperiode einlegen können. So darf jetzt zum Beispiel wieder nach den Konstruktionsfehlern und sozialen Schieflagen der Arbeitsmarktgesetze gefragt werden. Eine gesetzliche Mindestlohnsicherung ist kein Tabu mehr. Sozialdemokraten wollen auch wieder, dass die Politik nicht die Magd der Wirtschaft ist, sondern einen Anspruch auf soziale Rahmensetzung vertritt. Zudem erscheint mehr denn je unbestritten, dass hohe Einkommen wieder etwas höhere Steuern zahlen sollten. Schließlich soll eine einheitliche Krankenversicherung für alle Bürgerinnen und Bürger mehr Gerechtigkeit bringen. Dass Wahlprogramme nur bedingt tauglich sind für ein Abarbeiten durch Regierungspraxis, haben die letzten Jahre hinlänglich bewiesen. Dennoch wollten sich wohl die allermeisten Gewerkschaftsmitglieder lieber vier weitere Jahre mit einem sozialdemokratischen Bundeskanzler herumärgern als einer konservativen Regierung täglich neu erklären zu müssen, wie töricht neoliberale Rezepte sind.
Volksparteien in der Bewährungsprobe
Der Wähler hat die Karten neu gemischt. Er hat sie sogar so gemischt, dass alle Mitspieler tagelang glaubten, sie hätten das beste Blatt. Doch wie beim Doppelkopf: Die schwarze Dame bestimmt den Mitspieler. Das ist nach der ersten Phase entschieden, bei der die Beteiligten ihren Traumvorstellungen noch freien Lauf lassen konnten. Die beiden Volksparteien sind nunmehr an der Reihe. Große Wählermehrheiten glaubten schon immer, große Probleme ließen sich am besten mit großen Koalitionen lösen. Das kommt jetzt in den Praxistest.
Die informelle große Koalition hat ausgedient. Jetzt wird richtig geheiratet. Hart für Guido, aber vielleicht besser für das Land, wenn beide Volksparteien das Wählervotum richtig deuten. Müsste es auf nur einen Satz verdichtet werden, er lautete: Neoliberalismus pur hat keine Mehrheit. Wir werden uns deshalb wohl daran gewöhnen müssen, dass rechts von den Volksparteien Oppositionsführer Guido Westerwelle das Gegenteil in die Republik kräht. Joschka Fischer hat sich entschieden, nur noch hin und wieder von der letzten Bank zu granteln, wenn es die Seinen und weniger Genialen allzu dreist treiben. Es mag ihn trösten: Wolfgang Gerhardt wird nicht sein Nachfolger, sondern darf für ein paar Monate seine eigene Fraktion in den Schlaf lullen, nicht aber Deutschland, Europa und die ganze Welt. Vom linken Flügel aus wird die SPD es mit zwei kleineren Parteien zu tun bekommen, die ihr sicherlich ein ständiges schlechtes ökologisches und soziales Gewissen machen und zum Wettbewerb um die besseren Lösungen anstacheln. Ein Happyend für die von Willy Brandt beschworene Mehrheit links von der Mitte ist langfristig nicht ausgeschlossen. Schröder wird bei einer Merkel-geführten großen Koalition in einer oberen Liga mit Nelson Mandela und Jimmy Carter weiterspielen. Da ist es denkbar, dass Oskar Lafontaine die Weine der Toskana alsbald wieder für attraktiver hält als alltägliche Rangeleien um die unbedingte Gefolgschaftstreue in einer neuen Partei. In dieser Beziehung hat die PDS noch vor sich, was die SPD schon durchlitten hat. Irgendwann werden dann die Karten wieder neu gemischt. Welch eine Chance für alle, die sich auf den Wettbewerb der besseren Argumente freuen! Welch eine Chance für die linke Volkspartei, dabei ihr Profil zu schärfen und auf Basis des relativen Erfolgs vom 18. September noch mehr Wählervertrauen zurückzuerobern.

Erschienen in spw 145 (September/Oktober 2005)