Die Mitte, die ich meine...

Zum rot-grünen Projekt und seiner Zukunft

Interview mit Peter von Oertzen, Mitherausgeber der spw, Professor für Soziologie, langjähriges Mitglied im SPD-Parteirat Mitglied, Minister a.D.

spw: Du bist schon sehr lange im politischen Geschäft, welche Bedeutung hat für Dich das Projekt Rot-Grün aus historischer Perspektive, das ja als Reformprojekt angetreten war?

Peter von Oertzen: Ich muss dazu vorweg bemerken, dass das rot-grüne Projekt wie es sich jetzt nach den Wahlen von 1998 abgezeichnet hat, für mich mit dem ursprünglichen rot-grünen Projekt, wie ich es in den 80er und 90er Jahren noch selbst verfolgt habe, nur noch wenig zu tun hat. Für mich war früher das rot-grüne Projekt, als die Sozialdemokratie nocheine absolute Mehrheit der Wähler mobilisieren konnte, die denkbare politische Konstellation für eine ökologisch und sozialdemokratisch tiefgreifende Reformpolitik. Von dem jetzigen reinen Parteienbündnis zwischen der realexistierenden Sozialdemokratie und den realexistierenden Bündnis-Grünen habe ich mir dann so gut wie nichts mehr erwartet. Im Gegenteil bin ich eigentlich eher angenehm überrascht, dass schlimme Erwartungen über einen Neoliberalismus mit menschlichem Antlitz, die ich gegenüber Schröder und Joschka Fischer gehabt habe, sich in der krassen befürchteten Form, nicht erfüllt haben.

Erwartungen aus historischer Perspektive

Wenn ich aber noch einmal historisch referiere, was mir damals noch vor den Wahlen 1994 als objektive Möglichkeit vorgeschwebt hat, aber auch 1990 mit Oskar Lafontaine als Spitzenkandidat, bevor die Vorbereitungen auf die Wahlen in der deutschen Vereinigung untergegangen sind, dann war es für mich die Vorstellung einer reformorientierten neuen Arbeitnehmerpolitik. Das Konzept, was jetzt als "neue Mitte" übrig geblieben ist, war damals als das Eingehen auf die Bedürfnisse und die Möglichkeiten derer verstanden worden, was Prof. Michael Vester als neue Arbeitnehmermitte bezeichnet hat. Diese neue Arbeitnehmermitte steht nach Vester und mir im Erbe der alten Facharbeitertradition, d.h. es handelt sich um eine Kerngruppe der Arbeitnehmerschaft, die in der Lage wäre, objektiv eine führende Rolle in der ArbeitnehmerInnenbewegung einzunehmen. Dazu habe ich selbst übrigens in der SPW die gesellschaftlichen Grundlagen einer solchen Politik skizziert. Ich ging davon aus, dass es sich von der Wählerschaft bei den Bündnis-Grünen um eine Partei von spezifisch modernen Arbeitnehmerschichten handele. Dass die Grünen aber objektiv eine Arbeitnehmerpartei waren , nicht aus eigener Sicht oder ihrer Kader, habe ich schon seit Anfang der 80er Jahre vertreten. Es ging dabei um ein Projekt mit prinzipiell antikapitalistischer Stossrichtung. Diese Erwartungen einer Politik mit antikapitalistischer Stossrichtung waren wahrscheinlich schon damals gemessen an der Wirklichkeit der realexistierenden SPD und der realexistierenden Grünen eine Illusion. Heute ist sie völlig unrealistisch. Ich habe also dem Projekt Rot-Grün in der Gestalt der Koalition von 1998 überhaupt nicht die geringsten Erwartungen entgegen gebracht, ich hatte aber noch Schlimmeres erwartet.

spw: Du hast ein Resümee ja schon gezogen: Neoliberalismus mit menschlichem Antlitz. Wie beurteilst du vor diesem Hintergrund die Praxis der Rot-Grünen Regierung, lässt sich ein Zwischenergebnis ziehen?

Peter von Oertzen: Ich will das `mal an einigen der wichtigsten Projekte erörtern. Wenn ich jetzt sage, ich habe nicht mehr erwartet, sondern stelle allenfalls den Versuch fest, im gegebenen kapitalistischen Rahmen die Interessen einer Mehrheit der arbeitenden Bevölkerung insbesondere von Kerngruppen der Arbeitnehmerschaft wirkungsvoller zu vertreten als in dem konservativem Projekt der Regierung Kohl, vor allem in seiner Ziel- und Perspektivlosigkeit in den letzten Jahren, dann kann ich eine Reihe von nicht optimalen aber passablen Lösungen feststellen. Ich zähle sie nacheinander einmal auf:

Von der Energiepolitik...

Der Atomausstieg ist so zustande gekommen, dass unter schwierigen Bedingungen eigentlich der Kompromiss mit der Energiewirtschaft unter den bestehenden Bedingungen einigermaßen gelungen ist. Man kann ihn für indiskutabel halten, Er war rein rechtlich und verfassungsrechtlich außerordentlich riskant und sehr komplex.

Zweifel habe ich gegenüber der allgemeinen Energiepolitik oder Energiewirtschaftspolitik. Man müsste meiner Meinung nach über das sogenannte 100.000 Dächer-Programm hinaus die Förderung alternativen Energien verstärken.

spw: Das Erneuerbare-Energien-Gesetz ist schon sehr weitreichend, das bestätigen auch die Verbände.

Peter von Oertzen: Das lasse ich mir gerne sagen, ich muss nur hinzufügen, dass auf dem Gebiet der Energiewirtschaft die Marktwirtschaft mit der Loslösung der Energiewirtschaftsunternehmen von den politischen Rahmensetzungen der Vergangenheit völlig unsinnig ist. Die Marktwirtschaft ist dann sinnvoll, wenn sie durch die Produktion Konsumgüter für den Normalverbraucher zur Verfügung stellt, d. h. damit durch eine Mehrzahl von billig gewordenen Konsumgütern den materiellen Lebensstandard des Konsumenten steigert. Das ist für den Energieverbrauch eine völlig absurde Zielsetzung. Die gesellschaftliche und ökologische Zielsetzung bedeutet aus vielerlei Gründen, insgesamt den Energieverbrauch zu senken. Im Augenblick rechnet sich die Regierung aber als Verdienst an, dass die Energiepreise und die Strompreise insbesondere gesunken sind. Das fördert aber den Verbrauch und senkt ihn nicht und der Kampf um die Erhaltung der Stadtwerke als Hebel für eine mögliche gemeinwohlorientierte ökologische Wirtschaftspolitik schwindet. Man müsste mit äußerster Energie etwa die dezentralisierte Kraftwärmekoppelung forcieren. Ähnliches gilt auch für das ökologisch zentrale Problem der Verkehrspolitik, auch hier ist marktwirtschaftliche Konkurrenz im Einzelfall sinnvoll z. B. dass die Bahn angehalten wird kundenfreundlicher zu sein. Zu glauben, dass mit der Konkurrenz zwischen Bahn und Straße das optimale Ergebnis heraus kommen könnte, ist eine völlig idiotische Annahme. Es bedeutet, dass praktisch natürlich die Konkurrenz am Ergebnis gemessen wird. Die Bahn soll mit einem Plus abschließen, Gewinne erzielen oder mindestens keine Verluste. Aus einer solchen Konkurrenz, die sich nach dem Grundsatz der Marktwirtschaft richtet, kann eine ökologisch orientierte soziale Verkehrspolitik nicht hervorgehen. Versuche, den Güterverkehr von der Strasse auf die Schiene zu verlegen, scheinen bisher misslungen, wenn sie denn überhaupt unternommen worden sind.

zur Steuerpolitik...

Die gegenwärtige Politik der Steuersenkung ist natürlich immer populär. Die grundlegende Forderung einer allgemeinen Vereinfachung des Modells ist nicht gelungen. Ich glaube es war auch gar nicht beabsichtigt. Man kann das als Vorbild betrachten, dass natürlich extrem kapitalfreundliche Steuerreformen auch ganz einfach sind, z.B. wie das amerikanische Modell, mit einer Einheitssteuer von 15-oder 20%. Das stellt für die Besserverdienenden und die Kapitalgesellschaften einen Erleichterung dar, verstärkt aber insgesamt nur die Ungerechtigkeit. Das Stopfen der Steuerschlupflöcher scheint mir im gewissen Umfang ganz erfolgreich betrieben worden zu sein. Es scheint mir einer der Gründe zu sein, dass in den letzten Jahren abgesehen von der beschleunigten Konjunkturentwicklung die Steuereinnahmen gestiegen sind. Außerdem bestehen mit der Steuerfahndung gute Ansätze. Da sind auch die Länder aktiv, weil sie von den Steuereinnahmen profitieren. Ich bin schon dafür, dass der Abbau der Verschuldung beim augenblicklichen Schuldenstand der öffentlichen Hand eine Art Vorrang genießt - ich weiß zwar dass es ökonomische Einwendungen geben wird. Wenn es in einer Verbindung mit einer Beeinträchtigung der Binnennachfrage steht, hat man sicher Recht, aber im Prinzip habe ich selbst immer noch als Politiker erlebt wie die Handlungsfähigkeit der Politik unter der zunehmenden Last der Zins- und Tilgungszahlungen erwürgt wird.

Zur Sozialpolitik...

Und nun will ich auf zwei Schwerpunkte der Gesellschaftspolitik kommen, die erst im Anfang der Behandlung sind und die mir von zentraler Bedeutung zu sein scheinen: die Sozialpolitik und zum anderen die Novellierung des Betriebsverfassungsgesetzes, d. h. also die Umstrukturierung der unternehmerischen und teilweise auch der betrieblichen Mitbestimmung.

Zur Sozialpolitik vorweg, es ist im höchsten Grade bedenklich, dass diese Regierung, eigentlich mehr oder weniger kritiklos das Feld denjenigen gelassen hat, die auf der linken, auf der traditionalistischen Linken der Meinung sind, es soll im Grunde alles beim Alten bleiben. Das geht natürlich aus vielerlei Gründen nicht, aber die Behauptung der Sozialstaat sei nicht mehr bezahlbar mit Hinweis auf die Vereinigten Staaten von Amerika, die nie einen Sozialstaat in der Form wie wir gehabt haben, ist natürlich völlig unsinnig. Die Sozialquote ist trotz mancher neoliberaler Reform in Schweden z. B. immer noch sehr viel höher als bei uns und die Sozialleistungen sind umfassender.

Zur Arbeitsmarkt- und Wirtschaftspolitik...

Trotzdem sind auch unter Anlehnung kapitalistischer neoliberaler Maßstäbe die Volkswirtschaften dieser beiden Länder durchaus konkurrenzfähig. Wenn es gelänge, den Abbau der Arbeitslosigkeit zu befördern und Gerhard Schröder hat gesagt, seine Regierung werde am Ende der ersten Legislaturperiode an ihren Erfolgen beim Abbau der Arbeitslosigkeit gemessen werden, dann sinkt natürlich der Druck auf der finanziellen Seite des Sozialsystems. Er wird das Glück haben, dass die Konjunkturentwicklung, die kein Verdienst der Rot-Grünen Regierung ist, ihm diesen Erfolg beschert, ähnlich wie natürlich der Erfolg der Regierung Clinton auch der Erfolg von Entwicklungen war, die er klugerweise nicht behindert hat. Es ist völlig klar, dass wenn Beamte und Selbständige in die soziale Sicherung einbezogen werden, außerdem die Bemessungsgrenze erheblich erhöht würde, dann wird die Basis verbreitert. Es ändert natürlich nichts daran, wenn nur noch zwei in Lohn und Brotstehende Arbeitnehmer für einen Rentner zahlen müssen, wenn eine durch die demografische Entwicklung zunehmende Zahl von alten Menschen mit überproportionalen Kosten für Krankheit und Rehabilitation zu versorgen sind, die Verhältnisse schwieriger sind, als wenn ein Rentner auf zehn Arbeiter kommt und den meisten Arbeitern sowieso vor dem Antritt der Rente in den Ruhestand gehen müssen, dass die Qualität der damaligen Leistungen sowohl für die Rente als auch die Krankenversicherung natürlich heutigen Maßstäben nicht mehr entsprechen. Was nun die Rente anbetrifft hat der DGB aus dem ursprünglichen Riesterschen Konzept einige Giftzähne gezogen, aber keineswegs alle. Im übrigen beruht die gesamte Diskussion über die sogenannten Lohnnebenkosten meiner Meinung nach auf einer unsinnigen Unterstellung, dass die Lohnnebenkosten und ihre Höhe speziell in Deutschland die Konkurrenzfähigkeit der deutschen Ökonomie in der europäischen Welt beeinträchtigt. Entscheidend sind die Lohnstückkosten, d. h. also wenn die hohen Sozialkosten durch hohe Produktivität wettgemacht wird und das ist in Deutschland der Fall, dann kann von einer Beeinträchtigung der Konkurrenzfähigkeit überhaupt keine Rede sein. Allenfalls ist das Problem der Lohnnebenkosten für kleine und mittlere Unternehmungen, Handwerksbetriebe, Einzelhandelsgesellschaften, die unter der mörderischen Konkurrenz der großen Handelsketten stehen, die also sowieso am Rande der Grenzkosten agieren, von Bedeutung. Wenn man die entlasten will, was ich aus sozialen und ökonomischen Gründen für sinnvoll halte, weil sie immer noch einen erheblichen Teil der Auszubildenden übernehmen und eine große gesonderte Leistung damit erbringen, dann soll man sie direkt über steuerliche Subventionen stärken, aber nicht an den sogenannten Lohnnebenkosten drehen. Wenn man die Lohnnebenkosten senkt, senkt man das Niveau der gesamten Sozialversicherung.

Einige deutliche Worte zur Rentenreform

Und was nun die Rente anbetrifft, handelt es sich nur beim kompletten Riesterschen System um einen Taschenspielertrick, der fast an Volksbetrug grenzt. Das Niveau der gesetzlichen Rente soll auf nicht mehr als 64 Prozent gesenkt werden, nur ein Teil der Rentner und Rentnerinnen bekommt die gesetzliche Höchstrente auf Grund ihres beruflichen Werdeganges. Das was zu 67 oder 70 Prozent des letzten Verdienstes fehlt, also an der vollen Aufrechterhaltung des Lebensstandards, soll durch eine private Pflichtzusatzversicherung ausgeglichen werden. Dagegen protestieren die Gewerkschaften mit Recht. Wie ich das beim DGB und bei einem Teil der Gewerkschaften einschätze werden sie da in die Knie gehen. Ich fürchte, das wird voll und ganz den Arbeitnehmern zur Last gelegt, so dass es in Zukunft nicht mehr bei Rentenzahlungen von 22 Prozent des Bruttolohns in Zukunft 26 Prozent sein werden, wobei aber 11 % der Arbeitgeber zahlen wird und 15 % die Arbeitnehmer. Dagegen protestieren die Gewerkschaften mit Recht. Wie ich das beim DGB und bei einem Teil der Gewerkschaften einschätze werden sie da in die Knie gehen. Dazu kommt, dass diese staatlich garantierte Pflichtversicherung zusätzlich zur gesamten Rentenversicherung natürlich nur von den großen Versicherungskonzernen und ihren Tochtergesellschaften wahrgenommen werden kann. Das bedeutet für die Versicherungskonzerne bei den einströmenden Mengen, den Prämien von Hunderten und Aberhunderten von Milliarden eine Lizenz zum Gelddrucken und zwar speziell für die besonders großen und leistungsfähigen Konzerne. Die Kleinen, die sich vielleicht gerade noch als Ersatzkassen in der Krankenversicherung behaupten können, würden sich in der Rentenversicherung nicht behaupten können. D. h. wenn man dem überhaupt noch ein zweite Säule neben einer Basisversicherung in Form einer pflichtmäßigen Zusatzversicherung errichten wollte, dann müsste man meiner Meinung nach auch dieses System paritätisch in Form öffentlich und öffentlich kontrollierter Form einrichten und dann müssten die Arbeitgeber auch ihren Anteil leisten. Dann wären sie an dieser Lösung nicht mehr interessiert, das wäre ganz klar. Im übrigen berücksichtigt dieses Rentenmodell nicht, dass die Erwerbsbiographien für ein Rentenmodell, an dem am Ende gewissermaßen das Resümee des gesamten Berufsleben gezogen wird, dieses Endergebnis immer fragwürdiger werden lässt. Die Erwerbsbiographie von Frauen ist im Grunde immer brüchiger und in einigen Jahrzehnten wird nur noch ein kleinerer Teil der Rentner überhaupt nur die gesetzlich abgesegnete Rente von 64 % erreichen. Der Durchschnitt wird viel tiefer liegen. Er wird sich weiter von der Höchstrente entfernen, dann nähern sich die öffentlich gesetzlichen Rentenversicherungen dem Sozialhilfesatz. Das wird überhaupt nicht berücksichtigt. Die Familienkomponente, das wird demagogischerweise von der CDU insbesondere angemahnt und nicht die spezielle Situation der spezifischen Frauenerwerbsbiographien wird berücksichtigt. Dieses Rentenkonzept hinkt auf allen vier Beinen.

Zum Betriebsverfassungskonzept wird man im Augenblick noch nichts sagen können, weil im Moment noch keine Entwürfe vorliegen. Es liegt der Entwurf des DGB vor. Ich fürchte, dass er bei dieser Regierung nie Gesetz werden wird. Man muss abwarten, wie der Entwurf der Regierung aussehen wird.

Neues Problem sind die Betriebsformen, ich nenne nur als ein besonders krasses Beispiel die Leiharbeit, aber auch andere kleine Unternehmungen, die durch Outsourcing entstehen und mit größeren Zusammenhängen, aber ihre eigenen Betriebsräte haben. Ich frage mich, worüber die überhaupt zu bestimmen haben. Angesichts dessen muss die Gründung von Betriebsräten überhaupt erleichtert werden. Dies führt merkwürdiger Weise bei besonders traditionellen und kämpferisch gesonnenen Gewerkschaftlern zu einem gewissen Missbehagen, weil sie fürchten, dass die Betriebsräte auf Teufel komm raus gegründet werden, ohne dass die Gewerkschaft selbst die treibende Kraft ist. Die Gewerkschaft würde erst kommen können, wenn der Betriebsrat existiert und versucht, die Betriebsräte an sich heranzuziehen.

Sozialpartnerschaft heute

Auf der anderen Seite natürlich ist die Frage: wie steht es mit der klassischen Sozialpartnerschaft in der Gegenwart. Waffenstillstandsverträge, wenn man so will, sind unvermeidlich. Ohne die Möglichkeit Gegenmacht zu mobilisieren, kann aber auch die partnerschaftlichste Gewerkschaft nicht bestehen. Dann kommt sie unter den Schlitten, das ist also eine völlig falsche Alternative. Man müsste vom neuen Betriebsverfassungsgesetz erwarten, dass der gesetzliche Rahmen mindestens Gegenmachtstrategien möglich macht und sie nicht in ein Netz von Verpflichtungen zur partnerschaftlichen Zusammenarbeit einbindet. Der Betriebsrat und die Gewerkschaft, die hinter dem Betriebsrat steht, muss die Möglichkeit haben, auch im Betrieb kämpferisch aufzutreten und sei es auch nur, um damit die Grundlage einer Partnerschaft auf der Basis einigermaßen gleicher Machtverhältnisse zu haben.

Es wird sich herausstellen, ob sowohl in der Rente als auch bei der Betriebsverfassung die neue Regierung doch halbwegs akzeptable Lösungen vorschlagen wird. Wenn ihr das nicht gelingt, dann wird sie auf die Dauer vielleicht angesichts der günstigen Konjunktur nicht heute und nicht morgen, aber vielleicht übermorgen und übers Jahr Schwierigkeiten mit den aktiven und kritischen Kräften in der Gewerkschaft bekommen.

Die Grünen

spw: Deine Kritik bezog sich in den genannten Themenfeldern auf die gesamte Regierung. Meine Frage ist die nach der Rolle der Grünen. Du hast selber darüber geschrieben, die Grünen seien im doppelten, also im biographischen wie im politischen Sinne die Kinder der Sozialdemokratie, wie schätzt du sie heute ein?

Peter von Oertzen Das ist im Prinzip immer noch richtig, ich glaube aber das Verhältnis ist schon sehr komplex. Diese Feststellung betraf die grünen Wähler, nicht so sehr ihre im übrigen zahlenmäßig sehr geringen Kader, als Parteifunktionäre, Mandatsträger usw. Es gibt ja keine Partei, nicht einmal die F.D.P., in der das Verhältnis von Parteiaktiven und Wählerschaft so ungünstig ist, d. h. wo so viele Wähler auf so wenig aktive Parteifunktionäre und Parteiarbeiter treffen. In früheren Zeiten, als die Grünen sich noch als den politischen Arm der neuen sozialen Bewegung betrachtet hatten, war das uninteressant, aber die neuen sozialen Bewegungen zu Beginn und Mitte der 70er Jahre gibt es heute nicht mehr in dieser Form, und in soweit repräsentiert im Grunde der Parteikader der Grünen bis auf einige Aussnahmen im Grunde nur noch sich selbst. Die Grünen haben nicht wissen wollen, wer ihre Wähler eigentlich sind. Ein wenig herrschten auch ideologische Vorurteile: "Wir haben Ideale, wir brauchen keine Interessen", was natürlich Unsinn ist, denn jede Partei muss Interessen vertreten und kann nicht nur die Ideale der Idealisten an der Verwirklichung dieser Ideale vertreten. Die grünen Wähler sind Arbeitnehmerwähler, waren es und sind es zum Teil noch heute. Im übrigen ist unter den grünen Wählern der Anteil an Erwerbstätigen natürlich höher als bei jeder anderen Partei, vor allem deswegen, weil sie immer noch jünger im Durchschnitt sind und deshalb weniger Rentner zu ihren Wählern zählen. Es handelt sich bei den Arbeitnehmerwählern um jüngere modernere, mit einem höher qualifizierten Anteil in Angestelltenverhältnis, sowohl schulisch als auch fachlich höher qualifizierte Arbeitnehmer. Wenn man so will, repräsentieren die Arbeitnehmerwähler der Grünen den Arbeitnehmertypus der Zukunft, den von heute und morgen. Was die Herkunft anbetrifft und da beziehe ich mich auf die sehr komplexen detaillierten Untersuchungen unser hannöverschen Untersuchungen von 1993, ergeben, dass ihrer Herkunft nach etwa ein Drittel aus bürgerlich liberalen Mittelschichten stammen: aus kleinbürgerlichen Arbeitnehmerschichten und zu einem Drittel auch aus einer echten politisch bewussten Arbeiter- und Arbeitnehmertradition. Ich habe festgestellt, dass die Gewerkschaftsmitgliedschaft unter den Eltern der grünen Wählern genauso hoch war wie die Gewerkschaftsmitgliedschaft unter den Wählern der sozialdemokratischen Wähler. Das ist außerordentlich interessant, wobei noch hinzukommt, dass natürlich die Elterngeneration der grünen Wähler eine ganze Generation im Durchschnitt jünger war als die Generation der sozialdemokratischen Wähler. Wir nehmen an, dass bei den Eltern der Grünen der gewerkschaftlich organisierte Anteil höher ist als bei den Sozialdemokraten. Ein weiteres Indiz ist die sogenannte Querpräferenz, d. h. die erste Präferenz grün, zweite Präferenz SPD und umgekehrt machen insgesamt 75 % bis 80 % der grünen Wähler aus. Insgesamt nur etwa 25% bis 30 % der SPD-Wähler, aber 75% bis 80% der Grünen-Wähler. Bei den letzten Wahlen, die so sehr in die Geschichte eingegangen sind, haben wir beobachtet, dass offenbar ein Teil der zwischen Grünen und SPD stehenden Grünen-Wähler die Grünen wieder verlassen haben. Z. B. bei den hessischen Wahlen ist es eindeutig: da hat die SPD nicht verloren, aber die Grünen haben verloren und so ist damals die Mehrheit verloren gegangen. Außerdem ist bei den Grünen genau wie bei der Sozialdemokratie ein großer Teil der Wähler vor allem bei den verheerenden Kommunalwahlen in Nordrheinwestfalen im Frühsommer 1999 in die Wahlenthaltung gegangen. Bei der SPD sind die Wähler eher konservativ tendierende Wähler. Die überhaupt gewählt haben, sind vor allem die angestellten Schichten und kleinbürgerlichen Gruppierungen, die mal Johannes Rau gewählt haben, diesmal aber die CDU gewählt haben. Zugespitzt muss man sagen, der "linke" Teil der grünen Wähler steht dem "linken" Teil der SPD Wähler näher als jeder der beiden linken Wählerströmungen dem jeweiligen Mehrheitstrend ihrer eigenen Partei. Dieses Wechselwählerpotential, das dann zwischen Grünen und SPD hin und her schwankt, das wird natürlich weder qualitativ noch quantitativ in der augenblicklichen Konstellation berücksichtigt. Die SPD hat das nie zur Kenntnis genommen und die Grünen haben das erst recht mit ihrer pathologischen Abneigung gegen die empirische Sozialforschung nicht zur Kenntnis genommen.

Reformen mit wem? Die Frage der Kräfte

spw:Welche gesellschaftlichen Kräfte innerhalb und außerhalb der Parteienlandschaft siehst du, die noch einen progressiven gesellschaftspolitischen Schub bringen könnten?

Peter von Oertzen:Man muss davon ausgehen, dass wir doch eine verbreitete Stimmung und Haltung der Parteiverdrossenheit haben. Im Kern handelt es sich meiner Überzeugung nach nicht um Zweifel an der Kompetenz der politischen Klasse, das ist natürlich klassenspezifisch zu differenzieren. Die Unterklasse neigt eher zu Resignation und Wahlenthaltung, die aktiven Arbeitnehmer zeigen zunehmende Desillusionierung für dir Parteien, flüchten sich vor allem gegenüber der SPD teilweise auch in die Wahlenthaltung. Teilweise wählen sie resigniert ihre eigenen Parteien oder aber sie neigen zum rechten oder linken Populismus. Die Mittelschichten neigen zur Wahlenthaltung und einem rechten Populismus, wobei man sagen muss, man soll die Gefahr, dass Arbeiterschichten sich auch einen rechten Populismus zuwenden nicht gering einschätzen. Wir haben das bei den Wahlen zur NPD schon Ende der 60iger Jahre erlebt, wie z.B. die katastrophale Wahlniederlage der SPD in Baden-Württemberg von 1968, als sie von 36 % auf 28 % abstürzte und die NPD in den Landtag kam. Wir haben auch das Ergebnis im massenhaften Überlaufen von Arbeiterwählern in Frankreich zu Le Pen und in Österreich zu Haider. In diesem Zusammenhang wird manchmal gesagt, man braucht in dieser Situation einen neuen programmatischen Schub. Ich bin der Überzeugung, der bringt gar nichts, wenn nicht die Subjekte da sind, die mittels einer programmatischen Neuorientierung politischen Druck erzeugen. Zu glauben, dass bloße Ideen, auf Papier geschrieben, Menschen bewegen, ist ein Irrtum. Sie müssen Ausdruck von realexistierenden Kräften oder Bewegung sein. Die Gefahren sind ein rechter und ein linker Populismus. Es besteht natürlich die Chance mit starken außerparlamentarischen Bewegungen Reformdruck auf die Parteien zu entfalten, aber diese klare Programmatik gibt es ja nicht.

Neuformierung des Parteienspektrums?

Natürlich besteht die einzige Möglichkeit, dass sich neben den Grünen und der SPD eine neue Linkspartei entwickelt, wobei ich ausdrücklich hinzufügen muss, die PDS mit ihrem gegenwärtigen Zustand ist nicht in der Lage diese Funktion wirklich wahrzunehmen. Im übrigen bestehen bei einer solchen linken Partei natürlich zwei Gefahren. Zum einen, dass sich eine zweite SPD entwickelt ist völlig nutzlos. Das ist es, was die PDS Reformer immer übersehen, sie wollen gleichzeitig sozialdemokratisch sein und behaupten gleichzeitig, sie wären es nicht und wären linkssozialistisch. In Wirklichkeit sind sie aber nichts anderes als eine Ur-SPD und gemäßigte Ur-SPD in Kleinform. Außerdem besteht die Gefahr, dass eine solche Partei vom traditionalistischen linkssozialistischen Dogmatismus und den klassischen Ideologien übernommen wird. Wie das aussieht sieht man an der linken PDS. Das ist ziemlich schrecklich und völlig unfruchtbar. Insoweit beurteile ich es als für die durchgreifende Erneuerung des politischen Parteiensystems im vereinigten Deutschland nicht sehr positiv, im Gegenteil sehe ich eher, dass Verfalls- und Auflösungserscheinungen zunehmen werden und dann populistische Strömungen sich das zu Nutze machen.

Perspektive eines rot-grünen Projektes

spw:Wenn man nun die Regierung betrachtet: Die letzte Frage nach den Perspektiven. Welchen Weg muss die rot-grüne Koalition einschlagen?

Peter von Oertzen:

Eine Perspektive für ein Rot-Grünes Projekt, das nur in der bloßen Addition zweier Parteien besteht, hat überhaupt keine Perspektive, nicht die geringste. Es müssen sich die kritischen und modernen (modern ist nicht zu verstehen als Anpassung an den Neoliberalismus, unabhängig von den Apparaten der Parteien) konstituieren. Die Mitglieder einer solchen Kraft könnten gleichzeitig Mitglieder von Parteien sein, das will ich nicht ausschließen. Wenn es so etwas wie eine unabhängige demokratische Linke gäbe oder wenn sie sich konstituieren könnte, hätte sie eine Chance, auf die Parteien Einfluss auszuüben.

Schlüsselfrage Gewerkschaften

Das Schlüsselproblem ist in meiner Sicht, die Frage ob es gelingt, die Gewerkschaften so zu erneuern, dass sie eine entscheidende Kraft für die Linke werden könnten. Die kritischen Kräfte in den Gewerkschaften streben dort hin, aber sie sind im Moment noch sehr schwach und es besteht eher die Chance, dass die Gewerkschaften sich hin zu einer sozial-politischen Pressuregroup entwickeln, aber nicht zu einem politischen Verband mit gesellschaftlichen Zielen. Die Hauptschwäche der Gewerkschaften im gegenwärtigen Zustand sind, dass sie in die klassischen Formen gewerkschaftlicher Auseinandersetzung der Tarifpolitik und der Betriebsvertretung verfallen. Aber es muss gesehen werden, dass viele Lösungen, für Arbeitnehmer und auch für Gewerkschaften im politischen Raum gelöst werden können. D. h. die Gewerkschaft muss dort als ein gleichrangiger und ernst zu nehmender Diskussionspartner und auch Kampfpartner auftreten. Die Gewerkschaft muss raus aus der bloßen Tarifauseinandersetzung, sie muss raus aus den Betrieben, in denen sie natürlich weiter aktiv sein muss, in die Fläche, d. h. in die Gesellschaft. Sie muss z. B. Anlaufstellen, Organisationsstellen, Kristallisationspunkte für gesellschaftspolitische Organisationen entwickeln, so wie es ganz am Anfang der gewerkschaftlichen Bewegung noch die Arbeitersekretariate waren, die ja auch mit Nichtorganisierten gewerkschaftlich arbeitete, weil es sie noch gar nicht genug gab und wie sie sich jetzt in besonders schwierigen Gebieten in den USA wieder entwickelt. In den USA hat ja die Gewerkschaft in begrenztem Umfang nach einem schrecklichen Jahrzehnt dauernden Zerfallsprozesses auf Anhieb zehn Prozent Mitgliedschaft bei der Arbeitnehmerschaft erreicht und in einigen Branchen in den letzten Jahren eine gewisse Erholung gezeigt.

Neue Bündniskonstellationen und Bewegungsformationen?

Dort sind solche gesellschaftspolitischen Tätigkeiten der Gewerkschaften, Bündnisse mit ökologischen Bewegungen, Bündnisse mit der Frauenbewegung, Bündnisse mit der Interessenvertretung der ethnischen Minderheiten u.s.w. klassischer Beifall, das Bündnis gegen die WHO in Seattle vielleicht erste Anzeichen für eine Ausdehnung des Arbeitsfeldes der Gewerkschaften. Unter gänzlich anderen Bedingungen wäre so etwas auch in Europa und sogar in Deutschland, das immer noch die relativ stärksten Gewerkschaften innerhalb der großen kapitalistischen Länder England, Frankreich, Italien und Deutschland hat, möglich. Und ich glaube, die deutschen Gewerkschaften sind noch aktionsfähiger als die spanischen, soweit ich unterrichtet bin. Das bedeutet, dass die Gewerkschaften aufhören müssen, ausschließlich nur für ihre Mitglieder da zu sein. Sie müssen sich für Nichtorganisierte öffnen. In Beratung, in Hilfestellung, in Aussprache. Vor allem aber natürlich für die Gruppen, die in Gewerkschaften unterreproduziert sind, wie Frauen oder die jüngeren Generationen. Sie müssen sich für die neuen Berufe öffnen. So ist zur Zeit nur eine Gewerkschaft, mit deren gewerkschaftspolitischen Kurs ich sonst oft nicht übereinstimme: Die IG Bergbau, Chemie, Energie. Die sind im Umgang mit den qualifizierten Angestellenberufen sehr clever und ich glaube nicht gänzlich erfolglos. Das könnte sich manche andere Gewerkschaft, die stolz auf ihre linke Tradition ist schon eine Scheibe abschneiden, nicht unbedingt in der politischen Richtung, aber in der Art und Weise, so ein schwieriges organisationspolitisches Thema überhaupt zum Gegenstand der eigenen Arbeit und zu einem Hauptgegenstand der eigenen Arbeit zu machen. Ich wollte nur sagen, wenn es eine wie ich vorhin formuliert habe, eine unabhängige demokratische Linke geben sollte, so könnte sie sich nur entwickeln, wenn hinter oder neben ihr auch eine sich erneuernde kämpferische Gewerkschaftsbewegung entstünde. Denn auf welche soziale Basis sollte sie sich stützen, wenn nicht auf eine neue moderne Gewerkschaftsbewegung. So müssen irgendwann die neuen Selbständigen eine eigene Interessenorganisation bilden. Und dieser Interessenorganisation müssen die Gewerkschaften kollegial und gewissermaßen brüderlich, schwesterlich gegenübertreten und sie nicht als Konkurrenten schlecht machen.

Es wird Zeit, dass die Gewerkschaften damit anfangen, sich vor Ort und in der Fläche in die Kommunalpolitik hineinzuhängen, denn die SPD hat immer weniger Kontakte zu ihren Wählerschichten und den Arbeitnehmerschichten.

Dass die Gewerkschaften ein Büro auf der EXPO hatten und einen eigenen Tag der Gewerkschaften erfolgreich durchgeführt haben, scheint zu bedeuten, dass sie das begriffen haben. Das wäre nicht möglich, wenn die Gewerkschaften dort mit einer dogmatischen, hartleibigen Haltung "Wir wissen alles besser" erscheinen würden. Natürlich ist so eine innere Erneuerung der Gewerkschaft Sache der Gewerkschaft selbst. Wer versuchen will die Gewerkschaften in irgendein politisches Schlepptau zu nehmen, richtet nur Schaden an und wird im übrigen scheitern. Gewerkschaften werden nur dann politisch, frei und im Einklang mit sich selbst, ihrer Mitgliedschaft und mit ihren internen Diskussionen sein können, wenn sie absolut glaubwürdig sagen können, dass sie das im eigenen Interesse tun und nicht einer politischen Partei zuliebe. Jede vernünftige Gewerkschaft hat das so betrachtet. Es hat immer Zeiten gegeben, in denen die Sozialdemokratie geglaubt hat, sie könne die Gewerkschaft als ihre natürlich Gefolgschaft betrachten, die zu springen hat, wenn sie mit dem Finger schnippst. Das ist ein Irrtum und muss endlich aufhören, das funktioniert nicht mehr und das weiß im Grunde auch jeder.

Marginalien:

Der "linke" Teil der grünen Wähler steht dem "linken" Teil der SPD Wähler näher als jeder dem jeweiligen Mehrheitstrend ihrer eigenen Partei.

Eine unabhängige demokratische Linke könnte sich nur entwickeln, wenn hinter ihr eine sich erneuernde kämpferische Gewerkschaftsbewegung entstünde.

Die Gewerkschaften müssen aufhören, ausschließlich für ihre Mitglieder da zu sein. Sie müssen sich für Nichtorganisierte öffnen.