Klassenmedizin

Noch im Bundestagswahlkampf 2002 verkündeten SPD und Bündnisgrüne unisono, der Weg in die "Zweiklassenmedizin" sei mit ihnen nicht zu gehen. ...

... Das Bekenntnis richtete sich gegen die Absichtserklärungen von CDU und FDP, eine Aufspaltung des Leistungskatalogs der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) in Grund- und Wahlleistungen einzuführen. Nur ein halbes Jahr nach dem Wahlsieg von Rot-Grün zeichnet sich jedoch ab, dass die bevorstehende Gesundheitsreform die bislang tiefsten Einschnitte in das deutsche Gesundheitssystem zum Gegenstand haben wird. Die Debatten der vergangenen Wochen weisen zwei Grundtendenzen auf: Zum einen drängt die Dominanz des Kostensenkungsziels die notwendige Diskussion über Gesundheitsziele und qualitative Reformschritte völlig an den Rand. Zum anderen deutet sich an, dass die angestrebte Beitragssatzsenkung in der Gesetzlichen Krankenversicherung zu einem beträchtlichen Teil mittels einer Individualisierung und Privatisierung des Krankheitsrisikos durchgesetzt wird. Die politischen Entwicklungen seit der Bundestagswahl haben die Kräfteverhältnisse zwischen Regierung und Opposition verschoben und auch innerhalb der Regierungskoalition die Stimmen verstärkt, die sich für nachhaltige Einschnitte in die Systeme der Sozialversicherung aussprechen. Dabei sind zwei Ereignisse von besonderer Bedeutung. Zum einen leitete die EU-Kom-mission im Januar 2003 ein Defizitverfahren gegen die Bundesrepublik ein, weil die Haushaltsverschuldung im Jahr 2002 über dem Drei-Prozent-Krite-rium des Stabilitäts- und Wachstumspakts (SWP) lag. Um Strafgelder zu vermeiden, die bis zu 0,5 % des BIP (ca. 10 Mrd. Euro) betragen können, muss die Bundesregierung bis zum 21. Mai wirksame Maßnahmen zur Haushaltskonsolidierung vorlegen. Das Budget der Sozialversicherungen ist Bestandteil der Defizitberechnungen und obwohl die Europäische Union bei der Gestaltung nationaler Gesundheitssysteme keine vertraglichen Kompetenzen besitzt, ist sie im Rahmen des SWP in der Position, von der Bundesrepublik eine tiefgreifende und kostensenkende Gesundheitsreform einzufordern. Die in der jüngeren Vergangenheit wachsende Kritik an den starren Stabilitätskriterien (die Kommissionspräsident Romano Prodi als "dumm" bezeichnete) haben in der deutschen Regierung - im Unterschied zu Frankreich - jedoch nicht zu einem Abrücken vom SWP geführt. Damit ist der politische Handlungskorridor stark eingeschränkt. Die Vorgabe der Haushaltskonsolidierung bleibt die zentrale politische Maßgabe auch bei der Reform des Gesundheitssystems. Zum anderen brachten die Landtagswahlen in Hessen und Niedersachsen am 2. Februar den Sozialdemokraten erdrutschartige Verluste. Der Aufschwung der Opposition manifestiert sich nicht zuletzt im Patt, das nun im Vermittlungsausschuss von Bundestag und Bundesrat zwischen SPD/Grünen auf der einen und CDU/CSU/FDP auf der anderen Seite herrscht. Größere Gesetzesvorhaben wie die Gesundheitsreform sind nun ohne aktive Beteiligung von CDU/CSU und FDP nicht mehr zu verwirklichen. Bundeskanzler Schröder bot der Opposition unmittelbar nach den Landtagswahlen eine engere Kooperation bei den anstehenden Vorhaben an. Dies gilt auch und gerade für die Gesundheitspolitik, wo sich nun eine informelle Große Koalition nach dem Vorbild des Lahn-stein-Kompromisses abzeichnet, in dem sich Unionsparteien und SPD 1992 unter anderem auf die Einführung des Wettbewerbs zwischen den gesetzlichen Krankenkassen einigten.

Wettbewerb um Qualität?

Ursprünglich sah der "Reformfahrplan" des Bundesgesundheitsministeriums eine Trennung von Struktur- und Finanzierungsreform vor. Die Strukturreform sollte kurz nach den Bundestagswahlen angegangen, die Frage der Finanzen zuerst im Rahmen der Rürup-Kommission erörtert werden. Erst für Herbst 2003 war ein Kommissionbericht vorgesehen, der die Diskussionsgrundlage für die Finanzierungsreform darstellen sollte. Mit Rücksicht auf den Landtagswahlkampf in Hessen und Niedersachsen wurde die Veröffentlichung der Eckpunkte der Strukturreform auf den Februar 2003 verschoben, der Kommissionsbericht dagegen auf Mai vorgezogen. Ausgangspunkt für die Überlegungen zu einer strukturellen Reform ist die Erkenntnis, dass die Qualität der medizinischen Versorgung im deutschen Gesundheitswesen verbesserungswürdig ist. Der Bericht des Sachverständigenrats für die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen (SVR) aus dem Jahr 2001 hatte dargelegt, dass Über-, Unter- und Fehlversorgung sowie medizinische Behandlungsfehler im deutschen Gesundheitssystem keine Ausnahmen darstellen. Auch internationale Vergleiche der Ergebnisse nationaler Gesundheitssysteme (etwa durch die Weltgesundheitsorganistion) haben - bei allen methodischen Schwierigkeiten der Vergleichbarkeit - auf medizinische Versorgungsdefizite im deutschen System aufmerksam gemacht. Die Reformstrategie des Gesundheitsministeriums sieht vor, durch einen "Qualitätswettbewerb" der Leistungserbringer die Defizite zu beheben und vorhandene Wirtschaftlichkeitsreserven auszuschöpfen. Leistungserbringer, also beispielsweise Krankenhäuser, niedergelassene Ärzte, Reha- und Pflegeeinrichtungen, werden stärker an der Qualität ihrer Versorgungsleistungen gemessen. Ein Kernelement der Strukturreform ist die gestärkte Position der Krankenkassen, die künftig nicht mehr nur mit den Kassenärztlichen Vereinigungen verhandeln, sondern sich ihre Vertragspartner nach Qualitätskriterien aussuchen können. Dadurch soll zwischen den Leistungserbringern ein Wettbewerb um Qualität ausgelöst werden, in dessen Verlauf - so die optimistische Annahme - sich Anbieter mit hoher Qualität durchsetzen und die mit minderer Qualität vom Markt verschwinden. Von der Qualitätssteigerung wird mittel- bis langfristig eine Kostensenkung erwartet, da die teuren Konsequenzen aus Über-, Unter- und Fehlversorgung nach und nach reduziert würden. Die geplante Strukturreform hat die löbliche Absicht, die Qualitätsmängel im deutschen Gesundheitssystem zu reduzieren. Sie setzt dabei jedoch auf das Steuerungsinstrument des Marktes, dessen Auswirkungen auf die Qualität der medizinischen Versorgung sehr umstritten sind. Es ist zu bezweifeln, ob sich mehr Wettbewerb zwischen den Leistungsanbietern unter den gegebenen Bedingungen in einer besseren Versorgung niederschlägt. Angesichts des in der politischen Diskussion ausgeübten Drucks auf die Beitragssätze ist zu erwarten, dass die Krankenkassen ihre Vertragsabschlüsse vor allem am Kostenkriterium ausrichten werden. Mehr Markt im Gesundheitswesen hätte dann, wie in anderen Bereichen auch, weniger eine allgemeine Verbesserung der Versorgungsqualität als eine größere Ungleichheit derselben zur Folge.

Dominanz der Kostensenkung

Die notwendige Diskussion um Qualitätsaspekte ist spätestens seit der Einleitung des EU-Defizitverfahrens in den Hintergrund getreten. Innerhalb der Bundesregierung machten sich gesundheitspolitische Konfliktlinien bemerkbar. Das Kanzleramt drängte darauf, dass die Rürup-Kommission ihre Ergebnisse bereits im Mai vorlegen solle, um die Struktur- mit der Finanzierungsreform zu verbinden. Die Frage der Kostensenkung rückte in den Mittelpunkt der Diskussion. Für die Bundesregierung hat die Gesundheitsreform einen außerordentlich hohen politischen Stellenwert. Sie soll den Beweis für die Regierungs- und Zukunftsfähigkeit der rot-grünen Koalition erbringen. Nach den verlorenen Landtagswahlen geht dies nur mit der Opposition. Das Konzept zur Veränderung der GKV-Finanzierung, das Anfang Februar von den CDU-Gesundheitspoliti-kern Annette Widmann-Mauz und Andreas Storm vorgelegt wurde, gab die Richtung der folgenden Debatten vor. Die Qualität medizinischer Versorgung spielt in diesem Papier keine Rolle. Die Strategie richtet sich allein auf die schnelle und deutliche Absenkung der Krankenversicherungsbeiträge. Abgesehen von dem Vorschlag, versicherungsfremde Leistungen künftig aus Steuermitteln zu finanzieren, betreffen alle Forderungen Grundprinzipien einer an Solidarität und Bedarfsgerechtigkeit orientierten Krankenversicherung: Das Einfrieren ihres Beitragsanteils entließe die Arbeitgeber tendenziell aus ihrer finanziellen Verantwortung; mit der Ausgliederung zahnmedizinischer Behandlung aus dem Leistungskatalog soll ein kompletter Versorgungsbereich der privaten Zusatzversicherung übertragen werden; die Forderung nach Zuzahlungen auf allen Leistungsebenen würde die finanzielle Belastung der Patienten zusätzlich erhöhen. Seit einigen Wochen vergeht kaum ein Tag, an dem nicht ein neuer Vorschlag zur Reduzierung des Beitragssatzes in der Öffentlichkeit präsentiert wird. Aus der Rürup-Kommis-sion steigen regelmäßig gesundheitspolitische Testballons auf. Auch Vertreter der Regierungskoalition beteiligen sich am Beitragssenkungs-Wett-bewerb. Die stellvertretende SPD-Fraktionsvorsitzende Gudrun Schaich-Walch will ebenfalls über das Einfrieren des Arbeitgeberbeitrages reden; die Vorsitzende der Bündnisgrünen-Frak-tion Kathrin Göring-Eckardt erwägt gleich den Systemwechsel von der paritätisch finanzierten Krankenversicherung zum Kopfprämienmodell, in dem sich jeder Mensch individuell mit dem gleichen Betrag gegen Krankheitsrisiken versichern muss. In der Schweiz hat das Kopfprämienmodell nicht dazu beigetragen, die Ausgaben für das Gesundheitssystem zu reduzieren, die Arbeitgeber sind in einem solchen System jedoch nicht mehr unmittelbar an der Finanzierung beteiligt.

Erosion solidarischer Prinzipien

Ein schneller und grundsätzlicher Systemwechsel scheint politisch derzeit nicht durchsetzbar. Wahrscheinlicher ist die Erosion solidarischer Prinzipien im System der GKV durch die Ausgliederung von Leistungen und die Erhöhung von Zuzahlungen. Die Arithmetik der Beitragssatzsenkung durch Leistungsausgliederung ist recht einfach. Eine Reduzierung der Ausgaben um 10 Mrd. Euro ermöglicht eine Absenkung der Beiträge um etwa einen Prozentpunkt. Die zahnärztliche Behandlung erfordert mehr als 11 Mrd. Euro pro Jahr, d.h. ihre Ausgliederung aus dem Leistungskatalog der GKV würde ca. 1 % Beitragssatzsenkung bedeuten. Ähnliches gilt für die Ausgliederung von Freizeitunfällen, für die ein Einsparpotential von 10 Mrd. Euro veranschlagt wird. Der gegenwärtige durchschnittliche Beitragssatz von etwas mehr als 14 % wird als zu hoch angesehen. Doch was ist ein akzeptables Beitragsniveau? Der BDI-Präsident Michael Rogowski hält einen Beitragssatz von 10 % für ökonomisch "erträglich". Die Frage, was gesundheitspolitisch "erträglich" ist, spielt dabei eine untergeordnete Rolle. Das Lohnnebenkosten-Argument wird in der politischen Klasse gegenwärtig kaum noch hinterfragt. Die Verständigung über die eigentlichen Ziele der Gesundheitspolitik bleibt dadurch in der öffentlichen Diskussion auf der Strecke. Die zentrale Aufgabe eines sozialen Gesundheitswesens, jedem Menschen mit gesundheitlichen Problemen unabhängig von sozialem Status und finanziellen Ressourcen den freien Zugang zu einer medizinisch hochwertigen Versorgung zu gewährleisten, gerät in einer kostendominierten Debatte aus dem Blickfeld. Ähnlich wie bei der Rentenreform kündigt sich auch im Gesundheitssektor eine Teilprivatisierung sozialer Sicherung an. Die bereits heute vorhandene gesundheitliche Ungleichheit in der Bevölkerung - abhängig von materiellen Ressourcen, Bildungsstandard und sozialem Status - wird durch eine solche Politik verstärkt werden. Wenn man "Zweiklassenmedizin" als ein Synonym für politisch zu verantwortende gesundheitliche Ungleichheit versteht, dann ist die Bundesregierung dabei, einen Schritt in diese Richtung zu gehen.