Notnagel UNO

Für den Präsidenten war es nie eine Frage. Der Angriff auf den Irak war Teil seines globalen Krieges gegen den Terror. Dort in Bagdad saß ein Regime, dem George W. Bush ...

... Verbindungen zum Terror-Netzwerk Al Qaida unterstellte, auch wenn er dies nie belegen konnte. Alle Warnungen vor den Folgen eines Krieges hat die US-Regie-rung nicht nur ignoriert. Sie stellte sich selbst auch noch als verantwortungsvolle Vollstreckerin von Resolutionen des UN-Sicherheitsrates dar. Bush forderte die Vereinten Nationen bei seiner Rede vor der UN-Vollversammlung im Herbst 2002 auf, ihm blind zu folgen: Für die Weltorganisation gelte es sich zu entscheiden, ob sie den Zweck ihrer Gründer erfüllen oder "bedeutungslos" werden wolle.1 Ein Jahr nach diesem arroganten Appell scheint der Irak tatsächlich geworden zu sein, wozu Bush ihn schon vor der Invasion erklärt hatte: ein Operationsfeld für Terroristen. Und die in den Augen der US-Regierung eigentlich längst "bedeutungslose" UNO wird plötzlich wiederentdeckt: als Hilfsorgan, um das durch die Invasion der USA im Irak verursachte Chaos zu beseitigen. Die Debatten der letzten Wochen kreisen daher um die Frage, ob und wie die Vereinten Nationen die gewünschte stärkere Rolle im Irak wahrnehmen sollen. Man dürfe die Iraker nicht weiter unter dem Chaos leiden lassen, heißt es. Mehr Staaten und die UNO selbst müssten sich deshalb im Irak engagieren. Skeptiker ereilte schnell der Vorwurf, ihnen läge mehr daran, die USA im Irak, auch im wörtlichen Sinne, bluten zu sehen, als dem Land so bald wie möglich eine einigermaßen erträgliche Zukunft zu schaffen. Gilt es jetzt also, mehr Truppen aus mehr europäischen Staaten in den Irak zu senden? Muss die Devise heißen, so viel UNO in den Irak wie möglich? Vorweg gesagt: eine einfache Antwort gibt es nicht. Aber spätestens seit Anfang September dieses Jahres ist die Frage nicht mehr nur theoretisch. Bush erklärte in einer Fernsehansprache, die anderen Mitglieder der Vereinten Nationen hätten "die Möglichkeit und die Verantwortung", ihren Beitrag zu einer Beendigung des Chaos im Irak beizutragen. Keine Bitte, kein Hilfeersuchen, nicht das kleinste Einräumen einer Fehleinschätzung seitens des Präsidenten, der sich fünf Monate zuvor noch im Pilotenoutfit auf einem Flugzeugträger als siegreicher Kriegsheld feiern ließ. Niemand erwartete von Bush das förmliche Eingeständnis, daneben gelegen zu haben. Aber wenn das eigene politische Versagen mit dem Vorwurf kaschiert wird, andere Regierungen kämen im Irak ihren Verpflichtungen nicht nach, dann ist das nicht nur schlechter Stil. Der Vorwurf, verbunden mit dem Appell, alte Differenzen dürften nicht der Lösung aktueller Probleme im Weg stehen, zeigt vor allem, dass Bush und seinen Beratern jegliches Verständnis von der Eigendynamik organisierter Gewalt fehlt. Der von ihnen begonnene Krieg ist eben nicht einfach vorüber. Er steht nur in einer neuen Phase. Die US-Regierung, die vermeintlich so Moderaten um Colin Powell eingeschlossen, denkt über Kriege in Strukturen, die vielleicht im 19. Jahrhundert noch Erklärungskraft besaßen, als sich staatliche Armeen auf einem Feld zur Schlacht trafen, die aber mit den Auseinandersetzungen der letzten Jahrzehnte so gut wie nichts mehr zu tun haben. Das Medienspektakel vom März und April, an dessen Ende ein Kranpanzer der US-Marines eine Statue gegenüber dem Journalistenhotel in Bagdad stürzte, während George W. Bush sich daheim zum Sieger erklärte, war alles andere als charakteristisch für die neuen Kriege. Kein seriöser Kommentator hat je in Zweifel gezogen, dass die USA mit ihrer deutlichen technischen Überlegenheit in kurzer Zeit die militärischen Strukturen des irakischen Regimes würde zerschlagen können. Die einzige Unsicherheit bestand darin, ob dies zwei Wochen oder zwei Monate dauern würde. Es hat bekanntlich drei Wochen gedauert, bis die US-Truppen in Bagdad einrollten. Aber diese Art von Krieg, in dem eine Staatsmacht eine andere bekämpft, gehört heute zu den ganz großen Ausnahmen. Die derzeitige Gewalt im Irak, man braucht sie gar nicht mit dem Begriff "Guerillakrieg" zu glorifizieren, ist der Normalzustand in vielen Teilen der Erde. Es reicht nicht, die Ikonen eines Systems zu zerstören, wenn die Strukturen der Gewalt bestehen bleiben. Der irakische Staat ist zwar zerschlagen, aber damit wurde die Gewalt nur privatisiert, kommerzialisiert und dezentralisiert. Im Irak wurde mit dem US-Angriff also genau das geschaffen, was man in Afghanistan vorgibt, mit militärischen Mitteln beenden zu wollen: ein Zustand des Chaos durch nicht-staatliche Gewalt, der zum einen die Bevölkerung der Willkür von Warlords und Kriminellen aussetzt, zum anderen aber auch eine Basis für regional oder gar global agierende private Gewaltunternehmer schafft. Mit den Anschlägen auf das UN-Gebäude in Bagdad und auf die Moschee in Nadschaf scheint der Irak an diesem Punkt angelangt. Seitdem ist es müßig, über Motive für einzelne Anschläge zu spekulieren. Es ist ja genau ein Charakteristikum der neuen Kriege, dass sie eine Eigendynamik entwickeln, die irgendwann kaum noch zu stoppen ist. All das war bekannt. Selten hat sich die abstrakte These, dass Kriege oft die Probleme erst schaffen, die sie zu beseitigen vorgeben, so schnell bestätigt wie im Irak. Es geht also nicht um Rechthaberei. Es geht nicht darum, sich beleidigt zurückzulehnen, weil Bush vor dem Krieg alle Warnungen in den Wind schlug. Aber es wäre unverantwortlich, jetzt so zu tun, als gäbe es einen einfachen Weg aus der geschaffenen Katastrophe. Und es wäre kurzsichtig, zuvor nicht auf die Motive der US-Regierung zu schauen, weil nur so sich die Gefahren abschätzen lassen.

Legitimationskämpfe

Zum einen scheint es der US-Regierung um die politische Legitimation zu gehen. Hätten die US-Besatzer ein eindeutiges UN-Mandat, würde ihnen dies helfen - so die vage Hoffnung in Washington - sich mehr als Befreier und Beschützer denn als Besatzer darzustellen. Die Planer im Weißen Haus und erst recht im Pentagon sind abgebrüht genug, um zu wissen, dass dies allein im Irak kaum etwas ändern würde. Aber aus innenpolitischen Gründen könnte diese Legitimierung noch wichtig werden. Da der US-Bevölkerung und selbst den Mitgliedern des Kongresses immer schwerer zu vermitteln ist, dass im Irak die Vereinigten Staaten verteidigt werden, könnte ein eindeutiges UN-Mandat helfen, so wohl das Kalkül, der Intervention den Anspruch zu verleihen, man kämpfe dort für die gesamte Menschheit. Denn das Bedürfnis, den größten Teil der Welt hinter sich zu haben, ist selbst unter eingefleischten Unilateralisten in den USA ausgeprägter als hierzulande in der Regel vermutet. Zum anderen dürfte es der US-Re-gierung schlicht um eine Entlastung ihres globalen Militärapparates gehen. Wenn mit 130000 US-amerikanischen und weiteren 23 000 Soldaten aus anderen Ländern kein Frieden zu schaffen ist, so ein Motiv, dann müssen eben noch ein paar weitere her. Denn auch für die Supermacht ist die Gesamtzahl der zur Verfügung stehenden Soldaten begrenzt. Je länger die Besatzung dauert, desto größer wird der Bedarf an frisch aus den USA eingeflogenen Einheiten. Wenn das Pentagon an seine Grenzen zu stoßen droht, bedeutet dies aber nicht etwa, dass die Vereinigten Staaten irgendwann im Irak ohne Nachschub dastehen würden. Es bedeutet nur, dass sie sich jenem kritischen Punkt nähern, an dem es schwierig wird, andernorts Interventionskriege zu führen. Schließlich geht die Langzeitplanung des Pentagon seit den 90er Jahren davon aus, dass die USA in der Lage sein müssen, zwei große Kriege - jeweils in der Größenordnung der Irak-Invasion - zeitgleich zu führen. Darüber hinaus sollen dann auch noch genügend Kräfte für kleinere Kriegsschauplätze, wie etwa den in Afghanistan, zur Verfügung stehen. Jede Truppenentsendung anderer Staaten steigert somit die Fähigkeit der USA, ihren unbegrenzten Krieg gegen Terror fortzuführen. Beide Aspekte, die Legitimation des US-Einsatzes durch die UNO und die Entlastung des US-Militärs durch ausländische Truppen, sind für Bush auch deshalb wichtig, weil sie, zumindest langfristig, zu einer finanziellen Beteiligung anderer Staaten an den Besatzungs- und Aufbaukosten im Irak führen werden. Denn gibt es erst einmal einen formellen Auftrag des UN-Si-cherheitsrats, wird es auch für Gegner des Irakkriegs wie die Bundesregierung politisch extrem schwierig werden, sich gegen Geldforderungen aus den USA zu wehren. Und kommt es zur Truppenentsendung weiterer Staaten aufgrund eines solchen UN-Mandats, würde der Druck sogar noch steigen, sich durch großzügige Zahlungen von der Entsendung eigener Einheiten freizukaufen. Selbst wenn sich die Beträge zunächst im relativ kleinen Rahmen bewegen sollten, wäre auch dies für Bush innenpolitisch schon hilfreich, um die ständig wachsenden Kosten zu verringern. Schon im September musste er die Bewilligung weiterer 87 Mrd. Dollar für die laufenden Kosten im Irak und in Afghanistan beantragen, womit die Behauptung eines schnellen und billigen Krieges endgültig ins Reich der Phantasie verwiesen war.

Die Propaganda des Aktionismus

Die jetzt zunehmend absehbaren Langzeitfolgen der Intervention sind offensichtlich genau so immens, wie die Kriegsskeptiker vor dem Einmarsch prophezeit hatten. Die Bush-Regierung hat den Irakkrieg lange geplant und trotz aller Warnungen begonnen. Sie ist, gemeinsam mit ihren britischen und sonstigen Verbündeten aus der Koalition der Kriegswilligen, für die Konsequenzen allein verantwortlich. Mehr ausländische Truppen zu entsenden, die in der Hauptsache damit beschäftigt sein werden, sich selbst zu schützen, könnte die Lage sogar noch verschlimmern. Jetzt wieder einmal eine vermeintliche Lösung durch noch mehr Militär herbeizuführen, würde hier und da ein paar schöne Illusionen wecken, mehr aber nicht. Weitere Truppen, ob US-amerikanische oder multinationale, sind also nicht die Lösung. So sehr Chaos und Gewalt im Irak zu Ad-hoc-Aktionen animieren mögen, so sehr ist es gerade jetzt geboten, langfristig zu planen. Selbstverständlich muss man sich Gedanken darüber machen, wie der Bevölkerung im Irak geholfen werden kann. Aber aus der Erfahrung der vergangenen Jahre, nicht nur in Afghanistan und im Irak, sollte man in Europa zumindest gelernt haben, dass militärischer Aktionismus letztlich niemandem hilft. Vermeintlich einfache und schnelle Lösungen hat es in der Region schon genug gegeben. Dies bedeutet, dass es auf keinen Fall darum gehen darf, das US-Militär im Irak zu entlasten, damit es für andere Kriegsschauplätze einsetzbar bleibt. Auch kann das Bestreben Bushs, seinen vermeintlichen Krieg gegen den Terror im Irak zum Erfolg zu führen, kein Kriterium für verantwortliches Handeln sein - weder einer einzelnen Regierung noch des UN-Sicherheitsrats. Zunächst muss die Frage gestellt werden, ob es sich, wie nicht nur von Bush unterstellt, im Irak derzeit tatsächlich vor allem um ein militärisches Problem handelt, das mit mehr Truppen zu lösen wäre. Eine Analyse dessen, was militärische Mittel bewirken können und was eben nicht, scheint nötiger denn je. Viel zu sehr ist die Debatte von der naiven Vorstellung geprägt, dass UN-Wappen an Uniformen und an Verwaltungsgebäuden in einer katastrophalen Situation Wunder bewirken könnten. Die Ermordung des UN-Sonderbeauftragten Sergio de Mello beim Anschlag auf das UN-Sonderkommando in Bagdad hat jüngst erst das Gegenteil bewiesen.

Neutralitätsverlust

Im Irak besteht derzeit die ganz große Gefahr, dass nicht - wie sich Bush und Powell das erhoffen - die erhöhte Legitimation der Vereinten Nationen auf die USA abfärbt, sondern umgekehrt das Besatzerimage sich von den Vereinigten Staaten auf die UNO überträgt. Dann aber hätte die Weltorganisation, deren Image im Irak durch das Sanktionsregime ohnehin schon angeschlagen ist, endgültig ihre Rolle als neutrale Vermittlerin verloren. Bushs Prognose von den bedeutungslos gewordenen Vereinten Nationen würde sich am Ende bewahrheiten. Fortan wäre es noch schwieriger, selbst humanitäre Dienste über die UNO abzuwickeln und den Demokratisierungs- und Staatsbildungsprozess von ihnen organisieren zu lassen - und das nicht nur im Irak, sondern auch in allen anderen von Krieg und Gewalt geprägten Teilen der Welt. Eric Chauvistré 1 Wortlaut dokumentiert in: "Blätter", 10/2002, S. 1270-1274, hier S. 1273. - D. Red.