Nachhaltigkeit und Gewaltsamkeit

Historische und theoretische Bemerkungen

1. Die Wörter Nachhaltigkeit und Gewaltsamkeit, Gewalttätigkeit eingeschlossen, hängen einem mittlerweile zum Hals heraus. ...

... Das liegt nicht nur daran, dass Politiker und Journalisten sie oft nahezu beliebig verwenden und alles und jedes als Maßnahmen dafür bzw. dagegen verkaufen möchten. Grund dafür ist auch die tatsächliche Vielfalt von Erscheinungen und Entwicklungen der Wirklichkeit, auf die diese Begriffe irgendwie anwendbar sind, was leicht Verwirrung und Überdruss hervorruft. Eben deshalb ist aber an diesen Worten schon etwas dran. Es gibt vielfältige Verletzungen von Nachhaltigkeit und vielfältige Vorkommnisse von Gewaltsamkeit mit gemeinsamen Grundzügen, nicht nur in dieser Gesellschaft, sondern auch in ihrer Vorgeschichte, und das erlaubt es, diesbezügliche Begriffe zu bestimmen, mit denen man dem Gelaber entgegentreten kann.

2. Nachhaltigkeit ist seit dem 18. Jh. als eine Regel der Forstwirtschaft aufgekommen und bedeutet hier, dass auf einer bestimmten Forstfläche dem Wald in einem bestimmten Zeitraum nicht mehr Holz entnommen werden darf als gleichzeitig nachwächst. Vorher, manchenorts bis in das 19. Jahrhundert hinein, hatten landwirtschaftliche Nutzungen und die Siedlungs- und Gewerbeentwicklung nicht nur in Deutschland zur Übernutzung und daher Verringerung der Wälder geführt: im Umgang mit den Wäldern hatte Gewaltsamkeit vorgeherrscht. Seit dem Bericht der Brundtland-Kommission der UN von 1987 wird der Begriff Nachhaltigkeit zur Kennzeichnung einer gesellschaftlichen Entwicklung gebraucht, in der - weltweit - den Bedürfnissen der gegenwärtigen Generationen Rechnung getragen wird, ohne die Fähigkeit künftiger Generationen zu gefährden, ihren eigenen Bedürfnissen zu entsprechen. Den Nachkommen, aber auch den gegenwärtigen Menschen insbesondere in unterentwickelten Ländern soll in dieser Hinsicht möglichst wenig Gewalt angetan werden. Schon in der forstwirtschaftlichen Wortverwendung steckt, dass Nachhaltigkeit und Gewaltsamkeit negativ aufeinander bezogen sind: Nachhaltigkeit heißt Nicht-Gewaltsamkeit, Gewaltsamkeit ist Nicht-Nachhaltigkeit. Angestrebt wird hier eine (irgendwie geartete) Reproduktion der verbrauchten Produkte, was die Reproduktion aller erforderlichen Produktionsgrundlagen impliziert, bezogen auf konkrete Raum- und Zeiteinheiten. Der Brundtlandsche Begriff der Nachhaltigkeit bezieht sich, natürlich weit umfassender, auf die Reproduktion der Mittel zum Leben sowie von Lebensgrundlagen der Menschen überhaupt im globalen und Generationenmaßstab und macht außerdem deutlich, dass die Herstellung einer nachhaltigen gesellschaftlichen Entwicklung aufeinander abgestimmte Veränderungen von Ressourcennutzungen, Investitionsverhalten, Techniklinien und Institutionen erfordert, die auf eine Steigerung der gegenwärtigen und künftigen Potentiale menschlicher Bedürfnisbefriedigung abzielen.

Das bedeutet, dass bei Unterlassung solcher Veränderungen jene Potentiale beschränkt oder ganz vernichtet werden.( WCED 1987, 43 und 46, ferner Czeskleba-Dupont 2001, 6ff) Wir können folgern, dass jede Beschränkung solcher Potentiale durch Förderung ihnen entgegenstehender Produktionslinien Gewaltsamkeit bedeutet. Beispielsweise sind Regierungsmaßnahmen, die den Erdölverbrauch, die Investitionen im Kraftfahrzeugbau oder in der Chlorchemischen Industrie und den motorisierten Individualverkehr erleichtern oder steigern helfen ebenso Akte von Gewaltsamkeit wie der Verzicht auf offensive Beschäftigungspolitik zum Abbau von Massenarbeitslosigkeit. Eine irgendwie geartete Reproduktion notwendiger Mittel und der natürlichen Grundlagen des Lebens der Menschen in möglichst vollem Umfang ist also heute der Hauptgedanke des Doppelbegriffs "Nachhaltigkeit/Nicht-Gewaltsamkeit" im Gefolge der im 18. Jh. begründeten Tradition. Zu dieser hatte übrigens auch Karl Marx mit seinem Hinweis darauf beigetragen, dass die kapitalistische Produktion "die Springquellen alles Reichtums untergräbt, die Erde und den Arbeiter", was er mit der Forderung verband, die Gesellschaften hätten die "Erde [...] den nachfolgenden Generationen verbessert zu hinterlassen", eine gewiss noch ziemlich fortschrittsgläubige Vorstellung. (Marx, MEW 23, 530 und MEW 25, 784) Das ist alles noch ziemlich abstrakt, aber wir werden später konkreter.

Geschichte der Mensch-Natur-Beziehungen

3. Zunächst ist zu sagen: gewaltsame Eingriffe von Menschen in den Naturhaushalt und seine nicht-nachhaltigen Nutzungen reichen viel weiter zurück als die Anfänge der bürgerlichen Gesellschaft und vor allem ihrer kapitalistischen Produktionsweise. Was die menschgemachten Probleme in den Beziehungen zwischen menschlicher und außermenschlicher Natur betrifft, so dürften sie in frühen menschlichen Gesellschaften, in denen man vom Sammeln, Aasverwerten und Jagen lebte, freilich noch kaum existiert haben. Die Reproduktion der pflanzlichen und tierlichen Lebensmittel und die der Menschen, die sich diese aneigneten, erfolgte im Zuge einer weitgehend ungestörten natürlichen Reproduktion der gesamten biotischen und abiotischen Basis der jeweiligen Gesellschaft innerhalb eines bestimmten Raums und Zeitabschnitts. Ausnahmen waren Katastrophen, die von der einen wie der anderen Seite der Mensch-Natur-Beziehungen ausgehen konnten, so die Supereruption des Toba-Vulkans vor ca. 70.000 Jahren, der vermutlich ein Großteil der Homo sapiens sapiens-Bevölkerungen in Afrika und Asien zum Opfer gefallen ist, oder die Vernichtung von an Menschen nicht gewöhnten Großtierarten infolge (wahrscheinlich) der Einwanderung der Menschen nach Amerika vor ca. 20.000 Jahren oder früher. Menschgemachte Störungen der Nachhaltigkeit und Äußerungen von Gewaltsamkeit gab es als gesellschaftliche Dauerbrenner aber erst dann und dort, wo Landwirtschaft (und mit ihr bald Gewerbe und Handel) zur Grundlage des Lebensunterhalts geworden war. (Ambrose 1998, 632ff; Crosby 1991, 219 ff; vgl. unsere Studien in Lambrecht, Tjaden, Tjaden-Steinhauer 1998 und Tjaden-Steinhauer, Tjaden 2000, die der folgenden historischen Analyse zugrunde liegen.)

4. Wo und als der Anbau von Pflanzen und ggf. auch die Aufzucht von Tieren zur Basis menschlicher Subsistenz wurden, wurde die stete Reproduktion von Mitteln und Grundlagen des Lebens zum zentralen Problem der Gesellschaften. Nachhaltigkeit durch stete Wiederherstellung der Ausgangsbedingungen von Landwirtschaft war schwer zu erreichen und wurde darüber hinaus immer wieder durch Effekte der agrarischen Produktion selber konterkariert, Gewaltsamkeit wurde zum Grundverhältnis der Menschen zu den zu Nutzobjekten herangezüchteten Tieren und Pflanzen und wurde außerdem in bestimmten gesellschaftlichen Beziehungen der Menschen zueinander zur Norm. Warum war das so und wie sah das aus? Ökonomisch vor allem auf Landwirtschaft basierende Gesellschaften jeden Typs müssen zumindest die agrarischen Produkte wie die vernutzten Produktionsfaktoren - Pflanzen, Tiere, menschliche Arbeitskräfte und Geräte - kontinuierlich reproduzieren. Und auf längere Sicht konnte man sich auf diese wirtschaftliche Kernaufgabe nicht beschränken, weil deren Lösung an den Unterhalt und das Wohlergehen weiterer Kategorien der Bevölkerung (z. B. Kinder, gewerbliche Arbeitskräfte) ebenso gebunden war wie an die Erhaltung und Erneuerung weiterer Momente des Naturhaushalts (z. B. Bodenfruchtbarkeit, Wasserzufuhr).

Die spezifischen Inputs und Outputs der agrarischen Produktion - der ersten historischen Form einer kontinuierlichen Produktion von Gütern und insofern Prototyp jeder Güterwirtschaft - tendierten aber gerade zur Untergrabung solcher (engeren wie weiteren) Lebensgrundlagen: durch Ernährungsmängel, Seuchenerreger, Nährstoffentzug, Bodenversalzung, Wasserverschmutzung und durch eine Vielzahl anderer Schadwirkungen. Nachhaltiges Wirtschaften war so, wenn überhaupt, nur mit großen Anstrengungen zu bewerkstelligen und wurde durch Bodenerschöpfung, Krankheiten, Missernten oder Umweltzerstörung immer wieder infrage gestellt, so dass zumal bei Bevölkerungswachstum oft Hungersnöte vorkamen. Zur Gewaltsamkeit bei der Nutzung der pflanzlichen und tierlichen Mitlebewelt, besonders augenfällig beim Zugvieh, kamen Arbeitszwang für Bäuerinnen, Bauern und ihre Kinder sowie Gewalt im Verhältnis zu fremden Leuten. Entsprechend dem breiten Spektrum der Reproduktionsprobleme beziehen sich somit "Nachhaltigkeit" und "Gewaltsamkeit", sobald sie historisch konkret gefasst werden, auf ein weiteres Feld als bei einer enggefassten ökologischen Sichtweise. Seit der "Neolithischen Revolution", so beginnt deutlich zu werden, ist Nachhaltigkeit eine Anforderung an ökonomische wie außerökonomische Praxis, die sich zunächst auf die Erneuerung und den Schutz agrarischer Produktionselemente, aber auch auf den Unterhalt der übrigen Bevölkerung und die Bewahrung des übrigen Naturhaushalts in der Gesellschaft bezieht; zugleich ist Gewaltsamkeit seither ein Grundzug ökonomischer wie außerökonomischer Praxis, der vorab in die Grundbeziehungen der Menschen zur tierlichen und pflanzlichen Mitlebewelt eingeschrieben ist, darüber hinaus aber auch wesentliche Beziehungen zwischen produzierender und nicht-produzierender Bevölkerung und das Verhältnis zu Nachbargesellschaften prägt.

Agrarbasierte Gesellschaften haben sich historisch oft rasch in Gesellschaften verwandelt, die wesentlich durch sozial-ökonomische, familial-patriarchale und politisch-staatliche Ungleichheiten gekennzeichnet waren. Gesellschaftliche Verhältnisse von Armut und Reichtum, elterlich-eheliche Gewaltverhältnisse sowie inner- und zwischenstaatliche Gewaltverhältnisse bedeuten an sich eine Nichtachtung von Nachhaltigkeit, weil die Bedürfnisse der jeweils unterdrückten Bevölkerungsgruppen unzureichend befriedigt werden, ebenso wie sie eine Verfestigung von Gewaltsamkeit darstellen, weil sie andauernde Ungleichverteilungen von Vermögen und Gütern verschiedenster Art sowie von Möglichkeiten der Selbstentfaltung und der Selbstbestimmung beinhalten. Eines der frühesten, wenn nicht das früheste Beispiel hierfür ist die Entstehung der südmesopotamischen Stadtstaaten-Gesellschaften vor rund 5.000 Jahren. In ihnen verbanden sich im Zeichen einer solchen gesellschaftlichen Ungleichheit eine letztlich destruktive, tendenziell monokulturelle Agrar- und Kommerzökonomie mit patriarchaler Gewalt und Ungleichstellung von Frauen und Kindern sowie mit staatlicher Gewalt und Entmündigung von Untertanen und Ausländern. Die Zivilisation, von der heute soviel in einem eingeengt-eurozentrischen Sinn die Rede ist, war geboren, und sie sollte schließlich alle heute existierenden Gesellschaften sämtlicher Kulturen umfassen, einige Reste indigener gentilizischer Gesellschaften einmal ausgenommen. Zivilisation ist der Inbegriff von gesellschaftlicher Ungleichheit, von Raubbau an Menschen, Mitlebewelt und übriger Natur und von ökonomischer, patriarchaler und staatlicher Gewalt.

Im Fortschritt dieser Zivilisation wuchs das Potential innerer und äußerer kriegerischer Konflikte, mit den daraus resultierenden Verletzungen von Mensch und Umwelt. Diese zivilisatorische Dreieinigkeit von Ungleichheit, Raubbau und Gewalt lässt sich gut an Beispielen altorientalischer und westlich-europäischer Gesellschaften verfolgen, vom alten Mesopotamien über die europäische Antike und die Feudalgesellschaften im Mittelalter bis Izur modern-bürgerlichen Gesellschaft, also an Gesellschaften des - im Anschluss an Karl Marx - so genannten westeuropäischen Wegs der Gesellschaftsgeschichte, der zum heute dominierenden Kapitalismus geführt hat. . Sie gehören zu denjenigen Wirtschaftsgesellschaften, die systematisch Tiere als Quelle von Bewegungsenergie und mineralische Bodenschätze als Materialquelle nutzten und in denen effektivierende technische Entwicklungen durch das gesamte historisch-geografische Milieu begünstigt wurden - womit auch Gewaltanwendungen erleichtert und Nachhaltigkeitserwägungen verdrängt wurden. Ohne Beachtung dieser eurotypischen Aggressivität in den Mensch-Natur-Beziehungen lässt sich der Aufstieg des "Abendlands" gar nicht verstehen. Doch selbst im Westen Europas gab es zumindest eine Gesellschaft, die zwar durch gesellschaftliche Ungleichheiten und Gewaltverhältnisse gekennzeichnet war, aber doch mit erheblichem Erfolg versucht hat, die Verletzungen der pflanzlichen und tierlichen Mitlebewelt, die in jeder Pflanzen- und Tierproduktion angelegt sind, durch geschickte Nutzungen der natürlichen Potentiale zu beschränken, nämlich die muslimische Gesellschaft in Al-Andalus. Aktuelle Studien zur Gesellschaftsgeschichte Alt-Amerikas führen, soweit absehbar, wohl zu dem Resultat, dass die Gesellschaften der Hochkulturen dieses Kontinents nicht zuletzt deshalb durch die Europäer unterjocht werden konnten, weil ihr historisch-geografisches Milieu sie zuvor zu einem milderen Umgang mit der Natur genötigt hatte, was weniger Möglichkeiten zur Entwicklung gesellschaftlicher Gewalttätigkeit eröffnete, auch wenn es diese hier selbstverständlich ebenfalls gab.( Grundlegend hierzu: Diamond 2000; Lentz 2000)

Nachhaltigkeit und kapitalistische Wirtschaftsweise

6. Es waren nicht zuletzt verschiedenartige Verfügungsgewalten über Vermögen, Menschen und Güter, die durch Gewaltrechte (darunter partikulare Eigentumsrechte) abgesichert wurden, was im Westen Europas die schließlich Herausbildung einer kapitalistischen Produktionsweise gefördert hat. Hier gab es dann drei Besonderheiten: Erstens ist die kapitalistische Wirtschaft eine (aus Gründen der Konkurrenz und des Profits) auf Wachstum der erzeugten Güter und Dienste ausgerichtete Ökonomie, die sich, auch bei verstärktem Gewicht von immateriellen Outputs und finanzkapitalistischen Transaktionen, hierzu vor allem der Steigerung von Arbeitsproduktivität mit technischen Mitteln bedient. Daher das gewaltige Wachstum der Sachgütermengen und der Stoff- und Energieumsätze mit den bekannten Negativeffekten für Arbeitsvermögen und Naturpotentiale. Zweitens ist die Reproduktion der Produktionsbasis innerhalb der Wirtschaft, ungeachtet ihrer Ausweitungen, grundsätzlich auf die Restitution der Produktionsfaktoren - Arbeitskraft und Produktionsmittel - beschränkt, wodurch bekanntlich Arbeitslose und Nicht-Erwerbspersonen außen vor bleiben und verbrauchte "freie Güter" und Schäden durch externe Effekte ebenfalls unberücksichtigt bleiben - bestärkt durch den kapitalistischen Schein, dass der Wertersatz verbrauchter Faktoren ihrem Realersatz gleichkomme. Das bedeutet, zumal im Kontext fortschreitender Internationalisierung der Wirtschaft, dauernde Massenarbeitslosigkeit und Abschiebung in Armut, Gesundheitsschäden und Verwüstungen der außermenschlichen Natur im Zuge und aufgrund wirtschaftlicher Leistungssteigerung, was unverträglich mit dem Ziel der Nachhaltigkeit ist, aber auch ein untrügliches Zeichen von Gewaltsamkeit. Drittens ist kapitalistische Produktion seit ihren Anfängen faktisch global mit Arbeitskräften und Naturressourcen, mit den Bevölkerungen und Naturhaushalten anderer, nichtkapitalistischer Gesellschaften verflochten. Vor allem ging und geht es bei der Plünderung der Kolonien, Halbkolonien und Postkolonien um die Senkung des inländischen Kapitalaufwands für Rohstoffe und Arbeitskraft (Nahrungsmittel) und um die Überwälzung unerwünschter Produktionsfolgen in Gestalt von Warenüberschüssen und schädlichen Stoffen auf die ausländischen Gesellschaften. Entsprechende Nutzungen und Belastungen von außer(neo)europäischen Arbeitsvermögen, Naturpotentialen, Bevölkerungskategorien und Umweltelementen gehören wenn nicht zum System, so doch zur Historie kapitalistischer Ökonomien. Diese haben zudem die Möglichkeiten nachhaltigen und gewaltarmen Wirtschaftens in jenen Gesellschaften eingeengt, wenn nicht gar - wie bei vielen indigenen Gesellschaften - vernichtet, durch unmittelbare Gewalt, aber auch durch den Kulturkontakt selber, vom Transfer der Mikroorganismen über die Investitionsaktivität bis zur Indoktrination einer waren- und technikfetischistischen Ideologie. Die dadurch gesetzten globalen Konfliktpotentiale sind inzwischen stärker allgegenwärtig als je zuvor.( Crosby 1981; Wolf 1986; Sauer 2000)

7. Bei der Förderung von Nachhaltigkeit und der Eindämmung der Gewaltsamkeit des Wirtschaftens geht es also um die Erhaltung, d. h. den Schutz bzw. die Wiederherstellung und um die Entfaltung der Lebenskräfte und Arbeitsvermögen aller Mitglieder der Bevölkerung sowie der Wirkkräfte und Naturpotentiale aller Elemente des Naturhaushalts einer jeden Gesellschaft. Es handelt sich stets um eine sowohl geobiogene wie anthropogene Reproduktion - um Erneuerungs- und Ersatzvorgänge, die von der außermenschlichen Natur selber und von den Menschen geleistet werden bzw. zu leisten sind.

Dieser weite Begriff von Reproduktion geht offenbar erheblich über ökonomistische Horizonte hinaus. Reproduktion der Bevölkerung und ihres Arbeitsvermögens erfordert auch einen Gesundheits- und Arbeitsschutz, der noch den heute vermeintlich vernachlässigbaren Beeinträchtigungen Rechnung trägt. Dabei kommt es besonders auf Prävention durch Verringerung von Gefährdungen unter Berücksichtigung unterschiedlicher Empfindlichkeiten an, ohne dass vergessen werden darf, dass es bereits massenhafte Schädigungen gibt. (Vgl. Fabig 2000) Und sie verlangt eine Bildung und Ausbildung von Kindern und Jugendlichen im Sinne zukunftsfähigen Tuns und Lassens, die nicht auf Auslese, sondern auf Entfaltung ihrer vielfältigen Fähigkeiten setzt und die sie nicht in Zwangslagen bringt, welche Gegengewalt provozieren.(Vgl. Laitko 2002, Reichel 2002)

Reproduktion des Naturhaushalts und seiner Naturpotentiale erfordert einen Natur- und Umweltschutz, der nicht der Illusion anhängt, man könne ein zugebautes Stück Landschaft gegen ein freigehaltenes Schutzgebiet anderswo eintauschen, und der die Vielfalt möglicher Naturnutzungen bedenkt und offenhält. (Das ist der Sinn der von Roos/Streibel 1979 - im Anschluss an ökologische Konzepte - entwickelten Konzeption des Naturpotentials.) Für eine solche Reproduktion schließlich ist eine auf Nachhaltigkeit gerichtete Entwicklung der Raumordnung und von Siedlung und Landschaft unverzichtbar, die in der Regel gegen ökonomische Interessen durchzusetzen ist. (Richter/Weise/Biehler 2001) Schließlich, aber keineswegs zuletzt, schließt der erweiterte Begriff der Erhaltung, der Erneuerung oder Wiederherstellung der Lebensgrundlagen der Gesellschaft den Verzicht auf kriegerische Mittel der Politik und den Abbau der Verhältnisse gesellschaftlicher Ungleichheit ein, Schlechterstellungen von Frauen und ausländischen Bürger/inne/n eingeschlossen - im Sinne des UN-Konzepts, wonach den Bedürfnissen aller Gesellschaftsmitglieder bereits der gegenwärtigen Generation zu entsprechen sei.

Strategien nachhaltiger Politik heute

8. Jeder weiß, dass die Propagierung und die Realisierung solcher Zielvorstellungen ungefähr so viel miteinander zu tun haben wie Himmel und Erde. Immerhin sollte man aber wissen, wovon man redet, und das scheint nicht immer der Fall zu sein. Möglicherweise z. B. dann nicht, wenn jemand eine zugleich wirtschaftlich erfolgreiche wie ökologisch verträgliche wie sozial gerechte Entwicklung der Gesellschaft fordert. Was das Verhältnis von wirtschaftlichem Erfolg und sozialer Gerechtigkeit anbetrifft, so ist es sicherlich gut, wenn Wirtschafts- und Sozialpolitik nicht entkoppelt werden sollen. Grundsätzlich zu beachten ist aber, dass in das Wachstum kapitalistischer Wirtschaft soziale Ungleichheit eingebaut ist, in der Weise, dass wirtschaftlicher Erfolg - auf deutsch: Realisierung von Profit - soziale Ungleichheit voraussetzt und stets aufs neue hervorbringt. Was das Verhältnis von ökologischer Verträglichkeit und wirtschaftlichem Erfolg betrifft, so ist zu sagen: Die Lebensgrundlagen einer jeden Gesellschaft sind ein komplexes geobiogenes Gefüge ökologischer Systeme stofflicher, energetischer und informationeller Beziehungen zwischen menschlichen Lebewesen, anderen Lebewesen und unbelebter Natur. Jede Art von Güterproduktion und -konsumtion - selbstverständlich auch eine irgendwie sozialistisch organisierte - wirkt auf diese Geo-Biosphäre störend ein, so dass von Verträglichkeit grundsätzlich nicht die Rede sein kann. Im Sinn von Nachhaltigkeit gesellschaftlicher Entwicklung ist es denn vielmehr,

1. technische Interventionen in die Geo-Biosphäre nach Möglichkeit zu vermeiden oder zumindest milder und angepasster zu gestalten,

2. die ökologischen Systeme an den Stellen protektiv zu organisieren, wo dennoch in sie eingegriffen werden muss, und

3. Potentiale so weit wie möglich mit differenzierten Methoden zu reproduzieren, wenn sie durch nicht vermeidbare technische Interventionen verletzt sind, die das ökonomische System der Produktion, Zirkulation, Distribution und Konsumtion von Waren hervorbringt.

An erster Stelle steht aber eben eine Reduzierung und Umorientierung jener technischen Interventionen, und zwar im Sinne eines Niedrigenergiepfades, einer Verringerung und Entgiftung der Stoffumsätze sowie einer Erhaltung der Informationsvielfalt im technischen Umgang der Menschen mit der außermenschlichen Natur.(Czeskleba-Dupont 2001, 6ff) Damit ist zugleich ein Maßstab für die Erneuerung oder Wiederherstellung der Sachgüter, Sachanlagen und Bauten vorgegeben: nicht alle Kraftwerke, Chemieanlagen, Automobilfabriken und Autostrassen müssen auf die Dauer erhalten werden.

9. Nachhaltige, gewaltarme gesellschaftliche Entwicklung ist weder durch bloße moralische Appelle noch (wie die untergegangenen sozialistischen Gesellschaften zeigen) durch bloße Abschaffung des Privateigentums an Produktionsmitteln zu erreichen, so unmoralisch der wirtschaftliche Raubbau an den gesellschaftlichen Lebensgrundlagen auch sein mag und so destruktiv die kapitalistische Produktionsweise insbesondere bezüglich der "Mensch"-"Natur"-Beziehungen auch ist.( Zu den Mensch-Natur-Beziehungen im ehemals real existierenden Sozialismus vgl. den verdienstvollen Sammelband: Institut für Umweltgeschichte und Regionalentwicklung, 2001) Die Techniken der raubbauhaften Wirtschaft sind nun einmal installiert, das dazugehörigen Kapital der Unternehmen ist investiert, und auch die übrigen gesellschaftlichen Machtverhältnisse haben sich seit Jahrhunderten aufgebaut. Aber denkbar und machbar sind Reformen im Sinne einer Strategie der Förderung von Nachhaltigkeit und der Einschränkung von Gewaltsamkeit, z. B. durch Lenkung von Investitionen, Technikumbau, Umwelt- und Gesundheitsvorsorge, Aus- und Umbau des Bildungswesens und Steuerung der Flächenentwicklung, wobei man sich über die gewaltigen Schwierigkeiten keine Illusionen machen sollte, die bereits mit der Operationalisierung der Ziele solcher Reformpolitiken von "unten" und von "oben" verbunden sind.

Schwierigkeiten rühren aber bekanntlich vor allem daher, dass entgegenstehende Verfügungsgewalten, bewehrt mit entsprechenden Verfügungsrechten, einzuschränken sind, durch aufgeklärte, wirksame Gegengewalt oder durch rechtliche Mittel. Mitbestimmungseinrichtungen einerseits und Eingriffsrechte des Staates andererseits, z. B. im Chemikalien-, Wasser- und Immissionsschutzrecht, sind hierzulande Ansätze entsprechender Einschränkungen ökonomischer Verfügungsgewalten und Gewaltrechte, und auch die Ökosteuer und das Dosenpfand sollte man nicht einfach verlachen. Beispiele aus anderen Bereichen sind gesetzliche Normen zugunsten einer gewaltfreien Erziehung und solche zum Schutz vor häuslicher Gewalt ebenso wie Normen zugunsten fach- und standortgerechter landwirtschaftlicher Verfahren und solche zum Schutz der Tiere. Woran es mangelt, sind nicht so sehr rechtliche Möglichkeiten und Regelungsansätze, sondern ist, über die hinreichende Implementation letzterer hinaus, die politische Strategie, die sie verbindet und jene Möglichkeiten auszuschöpfen sucht.

10. Wir brauchen, hört man oft, eine andere Kultur des Umgangs miteinander, eine andere Wirtschaftskultur, eine andere Kultur des Umgangs mit der Natur. Deren Wesen könnte darin bestehen, dass sie einer Nachhaltigkeit und Gewaltarmut gesellschaftlicher Entwicklung entgegenkommt. Gehen wir davon aus, dass eine Abschaffung der in unserer Gesellschaft bestehenden Machtverhältnisse und Verfügungsgewalten in Ökonomie, Familie, Politik und in anderen Bereichen nicht in Sichtweite ist, dann spricht für das Kultur-Argument immerhin die Vermutung, dass in bestimmter Weise veränderte Handlungs- und Verhaltensweisen diese Gewaltverhältnisse mildern und abschwächen könnten. Das trifft zu, wenn und sofern man unter Kultur die Art und Weise versteht, mit einmal gegebenen Gewaltverhältnissen umzugehen. Da kann man sich durchaus andere Einstellungen und Vorgehensweisen in der Handhabung der zwischenmenschlichen und der "Mensch"-"Natur"-Beziehungen als die hierzulande vorherrschenden vorstellen. Beispiele gibt es zuweilen noch in benachbarten Gesellschaften mit ebenfalls kapitalistischer Produktionsweise. Kern einer auf Nachhaltigkeit gerichteten Wirtschaftskultur wäre insbesondere eine entsprechende Einschränkung der Verfügungsgewalten über Sachanlagen, Arbeitskräfte und Erzeugnisse durch rechtliche Normen und betriebliche Praxis, das heißt eine entsprechende Kontrolle der zugrundeliegenden Machtpositionen.

Kultur ist gut, Kontrolle ist unverzichtbar.

Literatur:

Ambrose, S. H., 1998: Late Pleistocene human population bottlenecks, volcanic winter, and differentiation of modern humans. In: Journal of Human Evolution 34, 632-651

Crosby, A. W., 1991: Die Früchte des weißen Mannes, Ökologischer Imperialismus 900-1900 (Ecological Imperialism [dt.]), Frankfurt-M., New York

Czeskleba-Dupont, R., 2001: Restructuring societal metabolism for sustainable world-system development, Contributed paper to the 25th anniversary conference The Modern World System in the Lonque Durée, Fernand Braudel Center Binghamton University

Diamond, J., 2000: Arm und Reich, Die Schicksale menschlicher Gesellschaften (Guns, Germs, and Steel [dt.]), Frankfurt-M.

Fabig, K. R., 2000: Das Multiple Chemikalien-Sensitivitäts-Syndrom (MCS). In: Hamburger Ärzteblatt (12), 600-603

Institut für Umweltgeschichte und Regionalentwicklung, Hrsg., 2001: Naturschutz in den Neuen Bundesländern - Ein Rückblick, Berlin

Laitko, H., 2002: Wissensgesellschaft und Nachhaltigkeit. In: Z - Zeitschrift Marxistische Erneuerung 13, Heft 49, S. 48-54

Lambrecht, L./Tjaden, K. H./Tjaden-Steinhauer, M., 1998: Gesellschaft von Olduvai bis Uruk, Soziologische Exkursionen, Kassel

Lentz, D. L., 2000: Imperfect Balance, Landscape Transformations in the Precolumbian Americas, New York

Marx, K., 1968/69: Das Kapital, MEW 23/24/25, Berlin (DDR)

Moegling, K., Peter, H., 2001: Nachhaltiges Lernen in der politischen Bildung, Opladen.

Reichel, K., 2002: Intifada in Erfurt. In: Ossietzky 5, Heft 10, S. 331-332

Richter, U./Weise, P./Biehler, H., Hrg. 2001: Nachhaltige Siedlungs- und Flächenentwicklung in Großstadtregionen, Berlin

Roos, H./Streibel, G., 1979: Umweltgestaltung und Ökonomie der Naturressourcen, Berlin (DDR)

Sauer, G. W., 2001: Die ökologische Herausforderung, Umweltzerstörung als sicherheitspolitische Determinante, Wiesbaden

Tjaden, K. H., 2000: Techniklinien und Geschichtsverkettungen. In: Z - Zeitschrift Marxistische Erneuerung 42, 91-107

Tjaden, K. H., 2002: Anforderungen aus Sicht der Geistes- und Sozialwissenschaften [an die Ökosystemforschung]. In: Fränzle, O. [et al.], Hrg., Handbuch der Umweltwissenschaften, Grundlagen und Anwendungen der Ökosystemforschung, Landsberg, Teil II.1-2 [8. Erg. Lfg.]

Tjaden-Steinhauer, M./Tjaden, K. H., 2001: Gesellschaft von Rom bis Ffm, Ungleichheitsverhältnissen in West-Europa und die iberischen Eigenwege, Kassel

Tjaden-Steinhauer, M./Tjaden, K. H., 2002: An Ape's View of Human History. In: Das Argument, Heft 2 (im Druck)

WCED 1987: Word Commission on Environment and Development, Our Common Future, Oxford, New York

Wolf, E. R., 1986: Die Völker ohne Geschichte, Europa und die andere Welt seit 1400 (Europe and the People Without History [dt.]), Frankfurt-M., New York

Hervorhebung:

Gewaltsame Eingriffe von Menschen in den Naturhaushalt und seine nicht-nachhaltigen Nutzungen reichen viel weiter zurück als die Anfänge der kapitalistischen Produktionsweise.

Es geht um die Erhaltung und Entfaltung der Lebenskräfte und Arbeitsvermögen aller Mitglieder der Bevölkerung sowie der Wirkkräfte und Naturpotentiale aller Elemente des Naturhaushalts einer jeden Gesellschaft

Jeder weiß, dass die Propagierung und die Realisierung solcher Zielvorstellungen ungefähr so viel miteinander zu tun haben wie Himmel und Erde.