Neokorporatismus oder Neoliberalismus in Rot-Grün?

Bilanz der Sozialpolitik seit 1998

Man erinnere sich: Dass SPD und Bündnis 90/Die Grünen bei der Bundestagswahl am 27. September 1998 die Mehrheit der abgegebenen gültigen (Zweit-)Stimmen erhielten, lag nicht zuletzt daran, ...

... dass Millionen Wählerinnen und Wähler, von der liberalkonservativen Wirtschafts- und Sozialpolitik tief enttäuscht, den bisherigen Regierungsparteien CDU/CSU und FDP ihre Zustimmung entzogen hatten. Mit dem Slogan "Innovation und Gerechtigkeit" stand die SPD bzw. ihr Kanzlerkandidat Gerhard Schröder für eine andere, solidarischere Form der gesellschaftlichen Modernisierung. Die seinerzeit verbreiteten Hoffnungen auf eine neuerliche "Wende" in der Wirtschafts- und Sozialpolitik wurden allerdings nicht erfüllt. Vielmehr rückten SPD und Bündnisgrüne von Wahlversprechen, ja sogar von einzelnen Positionen ihrer Koalitionsvereinbarung und der Regierungserklärung, die Schröder am 10. November 1998 abgab, schrittweise wieder ab.

Rot-grüner Wettbewerbskorporatismus:"Standortsicherung" durch einen nationalen Sozialpakt

Unmittelbar nach dem Regierungswechsel korrigierte die rot-grüne Parlamentsmehrheit einige sozial- und beschäftigungspolitische Zumutungen der CDU/CSU/FDP-Kabinette: Einschränkungen beim Kündigungsschutz und bei der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall wurden zurückgenommen. Auch andere Verschlechterungen in der Gesetzlichen Krankenversicherung (Beschränkung der Leistungen für Zahnersatz auf vor 1979 Geborene, Kostenerstattungsverfahren, Beitragsrückgewähr, Selbstbehalt usw.) waren schon nach wenigen Wochen per Vorschaltgesetz beseitigt.

Zunächst suspendiert wurden die vom Bundestag während der vorangegangenen Legislaturperiode beschlossenen Rentenkürzungen (Einführung eines "demografischen Faktors") und die Anrechnung von Abfindungen auf das Arbeitslosengeld. Viele andere politische Erblasten der CDU/CSU/FDP-Koalition blieben allerdings unangetastet: Weder wurde der alte Paragraph 116 AFG (neu: Paragraph 146 SGB III), welcher die Zahlung von Lohnersatzleistungen an mittelbar von Streikmaßnahmen außerhalb ihres Tarifgebietes betroffene Arbeitnehmer derselben Branche vorsah, wiederhergestellt noch die Fülle der Leistungskürzungen und massiven Einschränkungen von Arbeitnehmerrechten seit der "Wende" 1982, etwa im Bereich der Sozialhilfe, der (Berechnung von) Arbeitslosenhilfe oder der beruflichen Weiterbildung, revidiert.

Ein positives Signal setzte die neue Bundesregierung in der Arbeitsmarkt- und Beschäftigungspolitik: Mit ihrem Sofortprogramm zum Abbau der Jugendarbeitslosigkeit ("JUMP"), für das jährlich 2 Mrd. DM ausgegeben wurden, gab sie vielen jüngeren Menschen ohne Arbeitsplatz und Lehrstelle eine Chance. Von einer Umlage für Betriebe, die nicht ausbilden, war hingegen keine Rede mehr, obwohl der SPD-Jugendparteitag 1996 in Köln eine solche Regelung gegen den erklärten Willen des späteren Kanzlerkandidaten als "strategische Weichenstellung für den Bundestagswahlkampf" beschlossen hatte.[1]

Oskar Lafontaine, der sich als Finanzminister zusammen mit seinen beiden Staatssekretären Heiner Flassbeck und Claus Noé gegen den neoliberalen Mainstream wandte, als Mittel zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit die Stärkung der Binnenkonjunktur bzw. der Massenkaufkraft durch Senkung der Steuern für Geringverdiener/innen und eine expansive Geldpolitik der Europäischen Zentralbank genauso wie eine neue Weltfinanzordnung forderte, fand zu wenig Rückhalt innerhalb der eigenen Partei, bei den Gewerkschaften und in der Öffentlichkeit. Folgerichtig, aber total überraschend trat er (noch vor Beginn der verfassungs- und völkerrechtswidrigen Bombardierung Jugoslawiens durch die NATO) nach Meinungsverschiedenheiten mit Gerhard Schröder und Abstimmungsschwierigkeiten mit dem Bundeskanzleramt im März 1999 auch als SPD-Vorsitzender und Finanzminister zurück.

Die anderen Repräsentanten der rot-grünen Koalition, darunter Walter Riester als neuer Arbeits- und Sozialminister, ließen keine Entschlossenheit zur Überwindung des Liberalkonservatismus erkennen. Es fehlte ihnen vielmehr eine klare Linie, wie das wochenlange Hin und Her bei der Behandlung "geringfügiger Beschäftigungsverhältnisse" (630-DM bzw. 325-Euro-Jobs), arbeitnehmerähnlicher und Schein-Selbstständigkeit zeigte. Da die rot-grüne Bundesregierung kein überzeugendes Konzept und keine substanzielle Alternative zum Neoliberalismus besaß, passte man sich diesem in der Praxis an, zumal die Wirtschaftslobby sie enorm unter Druck setzte. So wurde übers Jahr aus ihrem "Gesetz zur Bekämpfung der Scheinselbständigkeit" ein "Gesetz zur Förderung der Selbständigkeit", ganz in neoliberaler Diktion.

Die neoliberale Hegemonie, auf einer in der Bundesrepublik verbreiteten "Globalisierungshysterie" basierend, dauerte auch nach dem Regierungswechsel im Herbst 1998 fort, was neokorporatistische Arrangements und massiven Staatsinterventionismus (Beispiel: Holzmann-Sanierung) keineswegs ausschloss. "Korporati(vi)smus" bezeichnet die institutionalisierte Einbindung der Verbände, d.h. von Gewerkschaften und Unternehmerorganisationen, in die staatliche Wirtschafts- und Sozialpolitik. Wolfgang Streeck, Direktor des Max-Planck-Instituts für Gesellschaftsforschung in Köln, hat diesen Typus einer "tripartistischen" Einhegung des Klassenkonflikts, bezogen auf die Bundesrepublik bzw. den "rheinischen Kapitalismus", über einen längeren Zeitraum hinweg untersucht und begründet, wie er unter veränderten Weltmarktbedingungen funktionieren kann.[2] "Wettbewerbskorporatismus" wird eine Spezialform solcher Arrangements genannt, die sich im Zeichen der Globalisierung herausbildet und - genauso wie der Neoliberalismus - die Verbesserung der Konkurrenzfähigkeit des eigenen Wirtschaftsstandortes zum strategischen Dreh- und Angelpunkt macht, aber im Unterschied zu jenem nicht auf Konfrontation, sondern auf Kooperation mit den Gewerkschaften setzt.

Während der Neoliberalismus die Wirtschaft bewusst dem "freien Spiel der Kräfte" überlässt, setzt der Neokorporatismus auf Verhandlungen, Abstimmungsprozesse und Sozialpakte. Soll mit deren Hilfe die Wettbewerbsfähigkeit des "eigenen" Standortes auf dem Weltmarkt erhöht werden, werden die Unterschiede zwischen beiden verwischt. Privatisierungs-, Deregulierungs- und Flexibilisierungsmaßnahmen werden nicht beendet oder rückgängig, im Rahmen eines organisierten Konsensfindungsverfahrens vielmehr bloß leichter durchsetzbar gemacht, gesellschaftspolitisch relevante Entscheidungen überdies häufig in den außer- bzw. vorparlamentarischen Raum verlagert (Bündnis für Arbeit, Rentenkonsensgespräche, sog. Süssmuth-Kommission).

Schon der Name des "Bündnisses für Arbeit, Ausbildung und Wettbewerbsfähigkeit", das sich am 7. Dezember 1998 konstituierte, ließ erahnen, dass sich nur der beschrittene Weg, nicht aber das Ziel beider Regierungskoalitionen voneinander unterscheidet: "Im Zentrum stehen die Verbesserung der nationalen Wettbewerbsfähigkeit, die Sanierung der öffentlichen Haushalte und eine verbesserte Beschäftigungsdynamik."[3] Wie bei dem im April 1996 gescheiterten "Bündnis für Arbeit und zur Standortsicherung" dominiert die Überzeugung, auf dem Weltmarkt als "Deutschland AG" oder "Wirtschafts-standort D" gegenüber anderen bestehen zu müssen. Geändert hat sich nur die Art, wie das passieren soll: Statt in einem ruinösen Kostensenkungswettlauf mit den sog. Niedriglohnländern auf der Strecke zu bleiben, will man sie in einem "Innovationswettstreit" besiegen, weshalb mehr Geld in Bildung, Wissenschaft und (angewandte, wirtschaftsnahe) Forschung investiert werden soll.

Von einer Neuauflage der traditionellen Sozialpartnerschaft kann keine Rede sein, weil das Bündnis nicht auf Solidarität und einen Konsens aller Beteiligten, vielmehr einseitig auf Vorteile deutscher gegenüber ausländischen Konkurrenten zielt. "Selbst wenn prinzipiell der Weg einer qualitativen Modernisierung der Ökonomie beschritten wird, besteht immerfort die Gefahr, dass im Hinblick auf die Sozialstandards und deren Regulierung auf einen ‚Wettlauf nach unten‘ eingeschwenkt wird."[4] Auch sind die Betroffenen, deren Schicksal den Regierungsmitgliedern und Verbandsfunktionären vorgeblich am Herzen liegt, nämlich die Erwerbslosen und Jugendliche ohne Lehrstelle, überhaupt nicht durch eigene Repräsentant(inn)en im Bündnis für Arbeit vertreten. Es handelt sich eher um einen liberal-strukturkonservativen Wettbewerbskorporatismus, der soziales Innovations- und Vertrauenspotential marginalisiert.[5]

Im vierten Spitzengespräch des Bündnisses am 12. Dezember 1999 wurden Modellversuche zur Erprobung eines Niedriglohnsektors mit staatlicher Subventionierung von Sozialabgaben (Mainzer und Saarbrücker Modell) verabredet, von denen man sich eine weitere Senkung der Lohnnebenkosten und eine "Expansion der Dienstleistungsbeschäftigung" erhoffte.[6] Bei der Gesprächsrunde am 9. Januar 2000 akzeptierten die Gewerkschaftsvertreter eine längerfristige, am Produktivitätszuwachs orientierte Tarifpolitik gegen vage Zusagen im Hinblick auf eine "Beschäftigungsbrücke zwischen Jung und Alt". Claus Leggewie resümiert, dass sich Thematik und politische Ausrichtung des Bündnisses innerhalb eines Jahres erheblich verschoben hatten: "Ganz im Sinne der ‚Modernisierer‘ liegen die Akzente nun auf der Entlastung der Unternehmen von Steuern und Sozialabgaben sowie der Konsolidierung der öffentlichen Haushalte - und auf der Tarifpolitik."[7]

Marktradikalismus, gemildert durch eine demonstrative Konsens- und Kompromissbereitschaft; Leistungsorientierung, in gewisser Weise abgefedert durch soziales Verantwortungsbewusstsein - so könnte man die Leitlinie der rot-grünen Bundesregierung in der Wirtschafts- und Sozialpolitik charakterisieren. "Alle Instrumente und Maßnahmen des neuen Regierungsstils laufen (...) letztlich auf ein Ziel hinaus: die Bündnisakteure und die öffentliche Meinung wenn nötig auch mit dem politischen Druck, der einer demokratisch legitimierten Regierung zur Verfügung steht, auf das Ziel der Verbesserung der Beschäftigungssituation durch den wettbewerbstauglichen Umbau der Arbeits- und Sozialverfassung auszurichten. Es geht also um eine ‚Formierung der Gesellschaft‘ im Interesse einer wettbewerbsorientierten Lösung der Arbeitsmarktkrise."[8]

Hans-Jürgen Urban fragt die Gewerkschaften (selbst)kritisch: "Wollen sie ihre tarif-, sozial- und beschäftigungspolitischen Forderungen gegen eine Wettbewerbspolitik eintauschen, die ihnen die Zustimmung zu Lohnkostensenkungen, Deregulierung der Arbeits- und Tarifverfassung und Druck auf Arbeitslose abverlangt und sie dafür mit vagen Entschädigungsversprechen abfindet?"[9] So, wie das Bündnis die Bindung des DGB und seiner Mitgliedsgewerkschaften an den Neokorporatismus bewirkt, bietet es ihnen kaum eine Chance, die Massenarbeitslosigkeit zu beseitigen. "Umgekehrt, folgen die Gewerkschaften dieser Wegweisung, wird das Resultat nicht realwirtschaftliche Prosperität, sondern die Instabilität eines Shareholder-Kapitalismus sein. Es entsteht kein neues Gemeinwesen, das Arbeit und bessere Lebensbedingungen für alle ermöglicht, sondern eine zutiefst gespaltene, neofeudale Dienstbotengesellschaft."[10]

"Benchmarking", vom ursprünglichen Chefkoordinator Bodo Hombach zur Schlüsselmethode des Bündnisses erhoben, suggeriert dem Publikum, dass es in einem solchen Pakt nicht um den Ausgleich unterschiedlicher oder gegensätzlicher Interessen, sondern um rationale Entscheidungen, zutreffende Argumente und das Nachahmen von "best practices" gehe, die nur (an)erkannt werden müssten, damit die Bundesrepublik Deutschland der Arbeitsmarktkrise erfolgreich begegnen könne. Versteht man unter einem "Wettbewerbsstaat" den für Experimente offenen Wohlfahrtsstaat, welcher die Mittel zu seiner permanenten Selbstüberprüfung und Optimierung im Sinne einer "Konkurrenz um innovative Sozialpolitikansätze" bereithält,[11] wird ignoriert, dass Macht- und Herrschaftsverhältnisse, nicht aber die Leistungsfähigkeit eines bestimmten Systems der sozialen Sicherung über dessen Realisierungschancen entscheiden. Gegen ein "politisches Benchmarking", das dem Ziel dient, im Ausland bessere Lösungen für soziale Probleme der Bundesrepublik zu finden und institutionelle Vorbilder - falls möglich - auf die hiesigen Verhältnisse zu übertragen, wäre gewiss kaum etwas einzuwenden. Meist dient der Vergleich aber nur als Hilfsmittel zur Senkung von Leistungsstandards, zur Erhöhung des Drucks auf das Personal und zur Verbilligung des Wohlfahrtsstaates.

Georg Vobruba zeigt, dass die gemeinsame Interessenbasis eines "Bündnisses für Arbeit" aus drei Gründen schmal und schwach ist: "Die beschäftigungspolitisch relevanten Akteure sind zum einen an unterschiedlichen Wegen zur Vollbeschäftigung interessiert; außerdem sind sie unterschiedlich stark an Vollbeschäftigung interessiert; und zum anderen sind manche eher an der Erreichung des Ziels Vollbeschäftigung, andere aber nur an der Erhaltung von ‚Vollbeschäftigung‘ als in der öffentlichen Diskussion anerkanntem Ziel interessiert."[12] Anschließend weist Vobruba auf die "asymmetrischen Verpflichtungen" hin, denen die Bündnispartner unterliegen: Während die Gewerkschaften moderate Lohn- bzw. Gehaltsforderungen für anstehende Tarifrunden in Aussicht stellen und sich auch - wie 2000/2001 trotz großer Unzufriedenheit der Basis in den Betrieben geschehen - darauf beschränken können, liegt die Einlösung der Ankündigung von Mehrbeschäftigung nicht im Kompetenzbereich von Arbeitgeberverbänden, sondern ihrer Verbandsmitglieder bzw. der einzelnen Unternehmen.

Für den (ohnehin nur sehr geringen) Rückgang der Arbeitslosenquote seit dem Regierungswechsel 1998 sind fast ausschließlich konjunkturelle und demografische Gründe verantwortlich. Die rot-grüne Beschäftigungspolitik hatte weniger Einfluss, zumal sie nicht mit dem neoliberalen Politikmodell brach. Neokorporatismus und -liberalismus gingen vielmehr eine spannungsgeladene und hinsichtlich ihrer Auswirkungen keineswegs gelungene Verbindung ein.

Das Schröder/Blair-Papier als programmatische Grundlage der sozialdemokratischen Neuen Mitte

Kurz vor der Europawahl am 13. Juni 1999 wiesen der britische Premier Tony Blair und Gerhard Schröder in London Europas Sozialdemokraten einen "Weg nach vorne". Was als "Schröder/Blair-Papier" bekannt wurde, sieht im deutschen Sozialstaat ein Beschäftigungshindernis und ein Risiko für die künftige Gesellschaftsentwicklung: "Ein Sozialversicherungssystem, das die Fähigkeit, Arbeit zu finden, behindert, muß reformiert werden. Moderne Sozialdemokraten wollen das Sicherheitsnetz aus Ansprüchen in ein Sprungbrett in die Eigenverantwortung umwandeln."[13] Hier hört man, auch ohne zwischen den Zeilen lesen zu müssen, das Stammtischgerede über die "soziale Hängematte" heraus.

Der "aktivierende Sozialstaat", wie ihn das Schröder-Blair-Papier beschwört, bedeutet im Grunde das Ende für den bisherigen, aktiven Sozialstaat. Man erhebt damit die Förderung der Selbstständigkeit von Hilfebedürftigen zum Programm, ist jedoch hauptsächlich darauf bedacht, sie so schnell wie möglich aus dem Leistungsbezug zu entlassen und die Kosten für ihre Unterstützung zu senken. "Das herzlose Wort vom sozialen Netz als ‚Trampolin‘ oder ‚Sprungbrett‘ spricht weniger für neue Ideen der SPD denn für ihre neue Gefühllosigkeit: Beide Gerätschaften eignen sich nämlich nur für den gesunden und leistungsfähigen Menschen."[14]

Volker Offermann sieht in dem Diskussionsbeitrag von Schröder und Blair, der vor allem die deutschen Medien beschäftigte, "keine relevanten Handlungsempfehlungen zur Bewältigung objektiv im Wohlfahrtsstaat bestehender Problemlagen", zumal ihn auch der Rat, statt sozialer nur noch Chancengleichheit bzw. Fairness anzustreben, nicht überzeugt: "Soziale Gerechtigkeit ist mehr als Chancengleichheit, wenn auch Chancengleichheit als eine Voraussetzung sozialer Gerechtigkeit angesehen werden kann. Gerechtigkeit setzt in einem bestimmten Maße eben auch Gleichheit im Ergebnis voraus."[15]

Klaus Dörre meint, das Schröder/Blair-Papier habe die "glasklare Botschaft" vermittelt, dass sich im Gefolge der Globalisierung die Gewichte zwischen Ökonomie und Politik für immer zu Lasten der Letzteren verschöben und für die Sozialdemokratie nur noch übrig bleibe, den Wohlfahrtsstaat an die Zwänge der offenen Weltmärkte anzupassen. "Überlebensfähig ist nur, was sich im internationalen Restrukturierungswettlauf behauptet. ‚Renaissance der sozialen Marktwirtschaft‘ heißt in diesem Zusammenhang, alle Institutionen des ‚rheinischen Kapitalismus‘ - vom Flächentarifvertrag bis zu den sozialen Sicherungssystemen - dem Markttest zu unterwerfen."[16] Nicht so sehr der Inhalt ihrer Politik, sondern ihre bessere Eignung zur Herstellung von Kompromiss und Konsens unterscheide die Sozialdemokratie gegenwärtig von den bürgerlichen Konkurrenzparteien.[17]

Bodo Zeuner sprach gar vom Bruch der Sozialdemokratie mit ihrer reformistischen Tradition, ihrer engen Bindung an die Arbeiterbewegung und ihrer (wohlfahrtsstaatlichen) Grundorientierung: "Statt den Kapitalismus zu zähmen, durch gesellschaftliche Kraftentfaltung von Unterdrückten, durch gewerkschaftliche Organisation, durch staatliche Regulierung, soll nunmehr der globale Markt das Maß aller Politik sein. Der Staat, das Gemeinwohl, die Volkssouveränität, mithin die Demokratie, ja die Politik selbst, stehen zur Disposition der unkontrollierbar gewordenen wirtschaftlichen Macht, und wer dagegen aufbegehrt, ist nicht ‚modern‘."[18]

Unabhängig davon, ob das Schröder/Blair-Papier nun neoliberal oder kommunitaristisch ist,[19] hat es die Gefahr offenbart, dass Deutschlands Sozialdemokraten unter ihrem neuen Vorsitzenden dem geistigen Mainstream und modischen Trends folgen. Ihm liegt nicht das Konzept selbstbewusst ihre Rechte einfordernder "Sozialstaatsbürger/innen" zugrunde, vielmehr ein Modell, das Bedürftigen wieder mehr Pflichten auferlegt. Sozialpolitik verkommt zu einem Geschäft auf Gegenseitigkeit: Von der Allgemeinheit materiell unterstützte Personen schulden ihr etwas. Das biblische Motto "Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen!" wird keineswegs auf die Bezieher von Kapitaleinkünften, vielmehr auf Sozialhilfeempfänger/innen angewandt, die unter der euphemistischen Bezeichnung "Hilfe zur Arbeit" einem zunehmenden Druck ausgesetzt sind. Das seit der Zwangsarbeit im NS-Staat nach 1945 hier zu Lande allgemein anerkannte Prinzip der Freiwilligkeit von Erwerbsarbeit stellte man in grünen, sozialdemokratischen und Gewerkschaftskreisen zunehmend in Frage.[20] Nach der ideologischen Vorarbeit durch den Bundeskanzler (Gerhard Schröder: "Es gibt kein Recht auf Faulheit") setzte sich endgültig die Devise "Fördern und Fordern" durch. Erwerbslose erhalten seit dem 1. Januar 2002 aufgrund sog. Eingliederungsvereinbarungen nach dem "Gesetz zur Reform der arbeitsmarktpolitischen Instrumente" (Job-AQTIV-Gesetz) eher Angebote zur Arbeitsaufnahme bzw. zur beruflichen Weiterbildung, gleichzeitig wird ihnen aber die Beweislast auferlegt, wenn es darum geht, eine Sperrzeit wegen der Ablehnung einer Stelle zu verhängen. 

Haushaltskonsolidierung auf Kosten der Beschäftigten,Bedürftigen und sozial Benachteiligten?

Nach dem Rücktritt Oskar Lafontaines wurde der Verzicht auf wirkliche Sozialreformen durch die Ernennung Hans Eichels, der als Ministerpräsident die hessische Landtagswahl im Februar 1999 verloren hatte, zum Bundesfinanzminister und zweier nicht keynesianisch-nachfrageorientierter, aus der Wirtschaft bzw. von der Weltbank kommender Staatssekretäre auch personell dokumentiert. Nun erklärte man die Verringerung der Staatsschulden zur Voraussetzung für eine wirksame Bekämpfung der Arbeitslosigkeit und diese damit zu einem abgeleiteten, einem bloßen Sekundärproblem. In der rot-grünen Finanzpolitik erfolgte spätestens mit dem "Gesetz zur Sanierung des Bundeshaushalts" (Haushaltssanierungsgesetz) ein Kurswechsel, wie auch in der Steuerpolitik unter der Ägide Eichels eine "Wende zur Stärkung der Kapitalgesellschaften und der Aktionäre" stattfand.[21]

Das am 23. Juni 1999 vom Kabinett in Grundzügen und zwei Monate später endgültig beschlossene "Zukunftsprogramm der Bundesregierung zur Sicherung von Arbeit, Wachstum und sozialer Stabilität" ähnelte dem liberal-konservativen "Programm für mehr Wachstum und Beschäftigung" vom 25. April 1996 insofern, als es "Sparen" ebenfalls mit drastischen Kürzungen im Sozialbereich und Verschiebungen der Kosten von der Bundes- auf die Länder- und Gemeindeebene gleichsetzte. Die zentrale Botschaft Eichels ("Haushaltskonsolidierung ist die beste Sozialpolitik") stellt höchstens eine Halbwahrheit dar: Würde die Senkung der Staatsverschuldung wirklich von Besserverdienenden und Wohlhabenden finanziert, wäre dagegen nichts einzuwenden. "Sparen, auch eisernes Sparen, ist für sich noch lange kein Angriff auf den Sozialstaat. Zum Angriff wird das Sparen aber dann, wenn es höchst einseitig geschieht, wenn bei Normal- und Geringverdienern gespart, aber der Wohlstand der Reicheren und Reichen geschont wird; wenn die Solidarität eingeschränkt und der Sozialstaat als politisches Grundprinzip verneint wird."[22]

Keine offizielle Begründung für das "Zukunftsprogramm 2000" kam in der Folgezeit ohne Verweis auf die (angeblichen) Interessen der Kinder und künftiger Generationen aus. Finanzminister Eichel gab am 24. Juni 1999 vor dem Bundestag eine Regierungserklärung zum Sparprogramm ab. Er hob besonders hervor, dass "wir" nicht mehr über unsere finanziellen Verhältnisse leben dürften: "Dies wäre gegenüber unseren Kindern und der Zukunft unseres Landes verantwortungslos. Wir müssen verhindern, daß künftige Generationen für die Schulden arbeiten und Steuern zahlen müssen, die die jetzige Generation aufhäuft."[23]

Gläubiger und Schuldner verteilen sich jedoch gleichmäßig über die Generationen. Jan Priewe und Thomas H.W. Sauer bemängeln denn auch, es sei Mode geworden, rot-grüne Austeritätspolitik mit der Forderung nach intergenerativer Gerechtigkeit und dem Verweis darauf zu legitimieren, dass wachsende Staatsschulden für die schon Erwachsenen heute finanzielle Vorteile mit sich brächten, hingegen die Nachgeborenen später um so härter träfen: "Tatsächlich stehen jedoch den Zahlern in jeder Periode auch Empfänger in der gleichen Periode gegenüber, so daß es sich (da der Anteil der Auslandsschulden gering ist) zunächst einmal um intragenerative Umverteilungsvorgänge handelt."[24]

Norbert Reuter bemerkt, dass sich eine staatliche Konsolidierungspolitik nach Art des rot-grünen "Sparpakets" weder auf das Argument größerer Generationengerechtigkeit stützen noch den aufgrund einer Vernachlässigung der öffentlichen Infrastruktur für die Mehrheit der Bevölkerung drohenden Nachteilen entgehen kann. "Während eine kollektive fiskalische Belastung zukünftiger Generationen nicht existiert und auch von einer Verdrängung privatwirtschaftlicher Initiative durch öffentliche Verschuldung keine Rede sein kann, zeichnet sich die Gefahr einer kollektiven realwirtschaftlichen Belastung kommender Generationen als Folge des finanziellen Unvermögens des Staates ab, eine ausreichende öffentliche Zukunftsvorsorge zu leisten."[25]

Friedhelm Hengsbach monierte, das "Zukunftsprogramm" der Regierung Schröder/Fischer verfestige die Dreiteilung der bundesrepublikanischen Gesellschaft, indem es die Wohlhabenden schone, das "soziale Mittelfeld" eher ungleichmäßig treffe und den "unteren Rand", also Kleinrentner/innen, Sozialhilfeempfänger/innen und Bezieher/innen von originärer Arbeitslosenhilfe, spürbar belaste: "Im Text des Sparpakets finden sich die widerlegten Glaubenssätze der früheren Regierung, daß die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft bedroht sei und der demographische Wandel die solidarischen Sicherungssysteme sprenge, als hinge die Leistungsfähigkeit einer Volkswirtschaft von der biologischen Zusammensetzung ihrer Bevölkerung ab."[26]

Die populäre Formel der "Nachhaltigkeit" von der Ökologie, wo sie das Problem der Verwendung nichtregenerativer Energien ins öffentliche Bewusstsein ruft, auf die Finanz-, Wirtschafts-, Sozial- oder Bildungspolitik zu übertragen, wie es Politiker/innen der Bündnisgrünen tun, bedeutet für Micha Brumlik, einen "Bruch mit den Prinzipien einer liberalen, repräsentativen Demokratie" in Kauf zu nehmen: "Die Gleichsetzung von Steuerbelastungen mit schwindenden Ressourcen stellt (...) auf der theoretischen Ebene einen massiven Kategorienfehler dar, der politisch nicht nur zu einem Abbau öffentlicher Investitionen zugunsten aller möglichen privaten ‚Vorsorge-systeme‘ sowie zu einer weiteren Zunahme öffentlicher Armut zugunsten ungleich verteilten privaten Reichtums führt."[27]

Die rot-grüne Steuerreform als modifizierte Fortsetzung der Umverteilung von unten nach oben

Wurden die Großunternehmen (vor allem aus der Versicherungs- und Energiewirtschaft) von der rot-grünen Bundesregierung anfänglich stärker belastet und Steuerschlupflöcher (etwa in Form überaus großzügiger Abschreibungsmöglichkeiten und Rückstellungsregelungen) z.B. durch die Einführung der Mindestbesteuerung gestopft, so schlug das Pendel bald wieder in die umgekehrte Richtung aus. Als der Bundesrat nach entsprechenden Zugeständnissen an einzelne CDU-regierte Länder im Juli 2000 der rot-grünen Einkommensteuerreform zugestimmt hatte, feierten die Medien den Kompromiss des Vermittlungsausschusses als Triumph des Kanzlers und seines neuen Finanzministers, obwohl er sich nicht wesentlich vom Konzept der alten Regierung unterschied. Jetzt rächte sich, dass die SPD kein eigenes Steuerreformkonzept entwickelt, das "Petersberger Modell" der liberal-konservativen Koalition vielmehr schon zu Oppositionszeiten in Grundzügen übernommen und bloß von einigen "Grausamkeiten gegenüber den Arbeitnehmern" gereinigt hatte.[28]

Trotz mancher Akzentverschiebungen führte die rot-grüne Regierungskoalition in der Steuerpolitik weitgehend den angebotsorientierten Kurs ihrer Vorgängerinnen fort, den sie in der Opposition noch bekämpft und im Bundesrat blockiert hatte.[29] Ungeachtet höherer Grundfreibeträge und mehrerer Entlastungen für Familien kann eine Steuerreform, bei welcher der Spitzensteuersatz (um 11 Prozentpunkte von 53% auf 42%) stärker sinkt als der Eingangssteuersatz (um 10,9 Prozentpunkte von 25,9% auf 15%), wohl kaum sozial genannt werden. Während Einkommensmillionäre knapp 100.000 DM weniger Steuern pro Jahr zahlen, fällt die Ersparnis von Haushalten mit geringem oder durchschnittlichem Einkommen, berücksichtigt man ihre starke Belastung durch die sogenannten Ökosteuern, kaum ins Gewicht.

Auch in der Öffentlichkeit weniger beachtete Änderungen im Tarifverlauf, vor allem die Verkürzung des Progressionsbereichs, der 2005 bei 52.152 Euro (ca. 102.000 DM) statt bisher bei gut 120.000 DM endet, tragen zur Vergrößerung der sozialen Schieflage bei. Nicht nur in absoluten Geldbeträgen, sondern auch prozentual werden Spitzenverdiener noch stärker entlastet als Bezieher gehobener Einkommen. Ginge es nach dem Grundsatz der persönlichen Leistungsfähigkeit des Steuerzahlers und der daraus resultierenden Umverteilung im Hinblick auf die Finanzierung staatlicher Aufgaben, wäre umgekehrt eine Streckung des Progressionsbereichs angemessen gewesen.[30] Vergleichbares gilt übrigens bei der Dividendenbesteuerung: Durch die Umstellung vom Vollanrechnungs- auf das Halbeinkünfteverfahren werden ausgerechnet jene Anleger begünstigt, deren Einkommensteuersatz 40% übersteigt, und Kleinaktionäre benachteiligt.[31]

Wie die rot-grüne Bundesregierung auf das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Besteuerung der Familien (genauer: von Ehepaaren mit Kindern) vom 10. November 1998 reagiert hat, kann unter dem Gesichtspunkt der sozialen Gerechtigkeit keineswegs befriedigen: Statt durch die Konzentration des Familienlastenausgleichs auf ein einheitliches Kindergeld oder - falls diese Lösung zu teuer war - durch einen Kindergrundfreibetrag die krassen sozialen Unterschiede zu verringern,[32] vertieft die Einführung eines Betreuungs-, Erziehungs- und Ausbildungsfreibetrages auch für gut verdienende Ehepaare (bei gleichzeitiger Abschmelzung des Haushaltsfreibetrages für Alleinerziehende) die Kluft zwischen Arm und Reich, was weder bedürftigen Kindern noch der Gesellschaft insgesamt dient: Davon profitieren die Reichen mit Kindern, nicht die armen Kinderreichen, um deren Besserstellung es geht bzw. gehen sollte.

Außer einem gerüttelten Maß an Neokorporatismus und Standortnationalismus (Gerhard Schröder in seiner Regierungserklärung: "Weil wir Deutschlands Kraft vertrauen ...") lässt die rot-grüne Politik auch Elemente eines generativen Konservatismus erkennen, welcher die Familie zum Fetisch und Kinderlose wie Greise zu Feindbildern im gesellschaftlichen Verteilungskampf macht. Je mehr sich Kinderarmut auch hier zu Lande ausbreitete, umso leichter fiel es, Rentnerinnen und Rentner, denen es häufig nicht viel besser geht, unter Hinweis auf die knappen Ressourcen eine Beschränkung der Erhöhung ihrer Altersbezüge auf die Inflationsrate zu verordnen. Das verkrampfte Bemühen um "mehr Generationengerechtigkeit", der noch nie so große Beachtung zuteil wurde wie heute, lenkt in erster Linie von der dramatisch wachsenden sozialen Ungleichheit innerhalb sämtlicher Generationen ab.[33]

Die sog. Riester-Rente als wichtiger Schritt auf dem Weg zu mehr Generationengerechtigkeit?

Walter Riester begründete die Notwendigkeit einer Rentenstrukturreform damit, dass man den Rentenversicherungsbeitrag als wichtiges Element der Lohnnebenkosten in Deutschland stabilisieren müsse, und mit dem demografischen Wandel, dessen Rückwirkungen auf das System der sozialen Sicherung allerdings in der Regel überschätzt werden.[34] Alle seriösen Berechnungen zeigen, dass sich die Folgen des demografischen Wandels für Einnahmen und Ausgaben der Gesetzlichen Renten-, Kranken- und Pflegeversicherung in Grenzen halten. Weder besteht ein Anlass zur Dramatisierung dieser Entwicklung noch ein Zwang zur Leistungskürzung. Parallel zu den Veränderungen des Altersaufbaus der Bevölkerung wachsen nämlich sowohl die (Arbeits-) Produktivität als auch das Volkseinkommen: "Das heute erreichte Niveau sozialstaatlicher Leistungen basiert auf den Produktivitätssteigerungen der Vergangenheit, und die künftig weiter steigende Leistungsfähigkeit der wohlhabenden Volkswirtschaften ermöglicht bei sachgerechter Organisation von Produktion und Verteilung zumindest die Aufrechterhaltung des erreichten Sozialniveaus."[35]

Während sich die öffentliche Debatte über das Rentenmodell Riesters auf jenen "Ausgleichsfaktor" konzentrierte, durch den die Altersbezüge von Neurentner(inne)n ab 2011 um 0,3 Prozentpunkte jährlich sinken sollten, der aber nach einer Expertenanhörung des Bundestages im Dezember 2000 fallen gelassen wurde, spielten die private Altersvorsorge und deren (durch den Staat bezuschusster und durch Steuerbegünstigungen für Besserverdienende erleichterter) Aufbau ohne finanzielle Beteiligung der Arbeitgeberseite nur eine Nebenrolle. Nach der Pflegeversicherung, die durch den Wegfall eines Gesetzlichen Feiertages (außer in Sachsen, wo die Arbeitnehmer/innen den vollen Versicherungsbeitrag entrichten) von den Arbeitnehmer(inne)n allein bezahlt wird, bricht nun auch ein "klassischer" Versicherungszweig mit dem Prinzip einer paritätischen Finanzierung sozialer Sicherung. "Privatvorsorge fungiert im rot-grünen Konzept nicht als Ergänzung der gesetzlichen Rentenversicherung, sondern - weil alleine von den Arbeitnehmern finanziert - als teurer Ersatz für bislang paritätisch finanzierte und künftig drastisch gekürzte Leistungen der sozialen Sicherung."[36]

Die rot-grüne Rentenreform ist Folge der Bereitschaft zur (Teil-)Priva-tisierung sozialer Sicherung, zur einseitigen Begünstigung der Unternehmer und zur Einschränkung der Leistungen im Sinne einer Minimalabsicherung großer Teile der Bevölkerung gegenüber elementaren Lebensrisiken. Schon die vorübergehende Abkopplung der Rentenerhöhung vom Anstieg der Nettolöhne und -gehälter signalisierte, dass die rot-grüne Bundesregierung der intragenerationellen die intergenerationelle Umverteilung vorzieht. Fondslösungen und private Zusatzversicherungen ("mehr Eigenvorsorge") entlasten nicht nur die Unternehmer, sondern bieten Versicherungskonzernen und Banken auch ein neues Geschäftsfeld mit riesigen Gewinnmöglichkeiten.

Einen guten Monat, bevor die Rentenreform am 26. Januar 2001 mit der Koalitionsmehrheit im Bundestag beschlossen wurde, hatte das Parlament die Invalidenrenten mit Zustimmung der Union und der FDP, aber vielleicht gerade deshalb weitgehend unbemerkt von der Öffentlichkeit, neu geordnet. Durch den miteinander gekoppelten Wegfall der Berufsunfähigkeits- und die Einführung der Erwerbsminderungsrente sinken zwar wieder einmal die gesetzlichen Lohnnebenkosten; dafür nehmen jedoch die Probleme jener Menschen, die ihren erlernten Beruf krankheitsbedingt nicht mehr ausüben können, dramatisch zu. Denn wer ein hohes Risiko darstellt oder schwere Vorerkrankungen hat, wird künftig wohl ganz ohne Versicherungsschutz bleiben oder bei privaten Anbietern geeigneter Policen so schlechte Konditionen erhalten, dass ihm/ihr die Berufsunfähigkeitsrente wenig nützt.[37]

Heiner Ganßmann sieht in der Berücksichtigung des Kapitaldeckungsprinzips einen weiteren Schritt zur Entsolidarisierung. Seiner Meinung nach gibt es "außer für die Anbieter privater Versicherungen und die Manager von potentiell riesigen Investment-Fonds keine überzeugenden Gründe, die für ein Umstellen der gesetzlichen Altersversicherung auf private Altersversicherungen sprechen (wer sie will, kann sie als Zusatzversicherung freiwillig immer abschließen)", und zudem sogar "noch weniger überzeugende Gründe, die für eine Umstellung der gesetzlichen Altersversicherung sprechen. Zumindest diejenigen, die sich zur Vertretung der Interessen der abhängig Beschäftigten berufen fühlen, sollten sich mehr darum kümmern, daß die Arbeitseinkommen mit der allgemeinen Wirtschaftsentwicklung Schritt halten, als um die als demographisches Schicksal fehldeklarierten Folgen einer schrumpfenden Lohnquote und hoher Arbeitslosigkeit für die Rentenversicherung."[38]

Nachdem sie anfänglich (teilweise sogar mit Warnstreiks) gegen die Abkehr von der solidarischen Rentenversicherung protestiert hatten, schwenkten die DGB-Gewerkschaften am Ende auf den Kurs der Bundesregierung ein, was ihnen durch die Tatsache, dass mit Walter Riester ein früherer hoher IG-Metall-Funktionär als Verhandlungspartner auftrat, sowie durch Zugeständnisse im Hinblick auf die betriebliche Altersvorsorge erleichtert wurde. Bei der sich im Frühsommer 2001 anschließenden Novellierung des Betriebsverfassungsgesetzes widerstand die rot-grüne Koalition den Drohungen des Unternehmerlagers, das z.B. gegen zusätzliche Kostenbelastungen durch eine großzügigere Regelung der Freistellung von Betriebsräten aufbegehrte, und übernahm einige gewerkschaftliche Forderungen. Gleichwohl wurden die Mitbestimmungsrechte bis auf eine Ausnahme bei der Berufsbildung nicht erweitert.

[1]   Siehe Oskar Lafontaine, Das Herz schlägt links, München 1999, S. 68.

[2]   Vgl. z.B. Wolfgang Streeck, Korporatismus in Deutschland. Zwischen Nationalstaat und Europäischer Union, Frankfurt am Main/New York 1999.

[3]   Klaus Dräger u.a., Zukunftsfähigkeit und Teilhabe. Alternativen zur Politik der rot-grünen Neuen Mitte, Hamburg 2000, S. 26.

[4]   Hans-Jürgen Bieling/Frank Deppe, Europäische Integration und industrielle Beziehungen. Zur Kritik des Konzeptes des "Wettbewerbskorporatismus", in: Horst Schmitthenner/Hans-Jürgen Urban (Hrsg.), Sozialstaat als Reformprojekt. Optionen für eine andere Politik, Hamburg 1999, S. 286.

[5]   Vgl. Claus Leggewie, Böcke zu Gärtnern? - Das Bündnis für Arbeit im Politikprozess, in: Hans-Jürgen Arlt/Sabine Nehls (Hrsg.), Bündnis für Arbeit. Konstruktion - Kritik - Karriere, Opladen/Wiesbaden 1999, S. 16.

[6]   Siehe Wolfgang Streeck/Rolf G. Heinze, Runderneuerung des deutschen Modells. Aufbruch für mehr Jobs, in: ebd., S. 148.

[7]   Claus Leggewie, Böcke zu Gärtnern?, a.a.O., S. 19.

[8]   Hans-Jürgen Urban, Das Drehbuch zum "Bündnis für Arbeit" oder: Welche Rolle die Gewerkschaften spielen müssen, um bündnisfähig zu sein. Ein Diskussionsbeitrag zur Zukunftsdebatte, in: ders. (Hrsg.), Beschäftigungsbündnis oder Standortpakt? - Das "Bündnis für Arbeit" auf dem Prüfstand, Hamburg 2000, S. 37.

[9]   Ebd., S. 45.

[10] Richard Detje, Aktualität des politischen Mandats. Gewerkschaften im Bündnis für Arbeit, in: Hans-Jürgen Urban (Hrsg.), Beschäftigungsbündnis oder Standortpakt?, a.a.O., S. 93.

[11] Siehe Rolf G. Heinze u.a., Vom Wohlfahrtsstaat zum Wettbewerbsstaat. Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik in den 90er Jahren, Opladen 1999, S. 42/212f.

[12] Georg Vobruba, Alternativen zur Vollbeschäftigung. Die Transformation von Arbeit und Einkommen, Frankfurt am Main 2000, S. 54.

[13] Gerhard Schröder/Tony Blair, Der Weg nach vorne für Europas Sozialdemokraten. Ein Vorschlag, in: Hans-Jürgen Arlt/Sabine Nehls (Hrsg.), Bündnis für Arbeit, a.a.O., S. 297.

[14] Heribert Prantl, Rot-Grün. Eine erste Bilanz, Hamburg 1999, S. 73.

[15] Volker Offermann, Die "Neue Mitte" und der Wohlfahrtsstaat, in: Sozialer Fortschritt 11/1999, S. 278.

[16] Klaus Dörre, Die SPD in der Zerreißprobe. Auf dem "Dritten Weg", in: ders. u.a., Die Strategie der "Neuen Mitte". Verabschiedet sich die moderne Sozialdemokratie als Reformpartei?, Hamburg 1999, S. 7.

[17] Vgl. ebd., S. 8.

[18] Bodo Zeuner, Der Bruch der Sozialdemokraten mit der Arbeiterbewegung. Die Konsequenzen für die Gewerkschaften, in: Klaus Dörre u.a., Die Strategie der "Neuen Mitte", a.a.O., S. 133.

[19] So Hans Joas, Das Blair-Schröder-Papier ist nicht "neoliberal", in: Die Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte 11/1999, S. 990.

[20] Vgl. Axel Bust-Bartels, Vollbeschäftigung ohne Niedriglohn, Opladen 1999, S. 35f.

[21] Siehe Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik, Memorandum 2000. Den Aufschwung nutzen - Politik für Arbeitsplätze, soziale Gerechtigkeit und ökologischen Umbau, Köln 2000, S. 54f.

[22] Heribert Prantl, Rot-Grün, a.a.O., S. 146.

[23] Hans Eichel, Deutschland erneuern - Zukunftsprogramm 2000. Erklärung der Bundesregierung, abgegeben in der 47. Sitzung des Deutschen Bundestages, in: Presse- und Informationsamt der Bundesregierung (Hrsg.), Bulletin 39/1999, S. 397.

[24] Jan Priewe/Thomas H.W. Sauer, Grüne Wirtschaftspolitik ohne Reformprojekt, in: PROKLA 116 (1999), S. 403.

[25] Norbert Reuter, Generationengerechtigkeit in der Wirtschaftspolitik. Eine finanzwissenschaftliche Analyse staatlicher Haushalts- und Rentenpolitik, in: PROKLA 121 (2000), S. 555.

[26] Friedhelm Hengsbach, Ein verlorenes Jahr?, Die rot-grüne Koalition im konzeptionellen Vakuum, in: Blätter für deutsche und internationale Politik 12/1999, S. 1446.

[27] Micha Brumlik, Freiheit, Gleichheit, Nachhaltigkeit. Zur Kritik eines neuen Grundwerts, in: Blätter für deutsche und internationale Politik 12/1999, S. 1464.

[28] Siehe Oskar Lafontaine, Das Herz schlägt links, a.a.O., S. 61.

[29] Vgl. Stefan Bach, Die Unternehmensteuerreform, in: Achim Truger (Hrsg.), Rot-grüne Steuerreformen in Deutschland. Eine Zwischenbilanz, Marburg 2001, S. 87.

[30] Vgl. Bernhard Seidel, Die Einkommensteuerreform, in: ebd., S. 42.

[31] Vgl. Stefan Bach, Die Unternehmensteuerreform, a.a.O., S. 60 und 68.

[32] Vgl. dazu: Gerhard Bäcker, Armut und Unterversorgung im Kindes- und Jugendalter: Defizite der sozialen Sicherung, in: Christoph Butterwegge (Hrsg.), Kinderarmut in Deutschland. Ursachen, Erscheinungsformen und Gegenmaßnahmen, 2. Aufl. Frankfurt am Main/New York 2000, S. 264 ff.

[33] Vgl. hierzu: Christoph Butterwegge/Michael Klundt (Hrsg.), Kinderarmut und Generationengerechtigkeit. Familien- und Sozialpolitik im demografischen Wandel, Opladen 2002.

[34] Vgl. Georg Vobruba, Alternativen zur Vollbeschäftigung, a.a.O., S. 136.

[35] Karl Georg Zinn, Sozialstaat in der Krise. Zur Rettung eines Jahrhundertprojekts, Berlin 1999, S. 80f.

[36] Johannes Steffen, Der Renten-Klau. Behauptungen und Tatsachen zur rot-grünen Rentenpolitik, Hamburg 2000, S. 95f.

[37] Vgl. Holger Balodis, Abstieg in die Pförtnerloge. Die staatliche Berufsunfähigkeitsrente läuft aus, private Versicherungen sind gefragt, in: Die Zeit v. 28.12.2000.

[38] Heiner Ganßmann, Politische Ökonomie des Sozialstaats, Münster 2000, S. 147. Erschienen in Z Heft 49, März 2002, 13. Jhrg