Zur fachlichen und wissenschaftlichen Qualität wohlfeiler Reformkonzepte der Arbeitsmarkt- und Sozialhilfepolitik
Modelle für eine "Arbeitsmarktpolitik aus einem Guss" (Stoiber) haben gegenwärtig Konjunktur. Der Wahlkampf erweist sich als Phase hoher Produktivität für wegweisende Einfälle, ...
Vorbemerkung
... wie in Deutschland eine nachhaltige Reduzierung der Sozialstaatskosten erreicht werden kann, die zugleich die Anzahl der Arbeitslosen halbieren, vierteln, dritteln usw. usw. soll. Fachkommissionen (Hartz u. a.), wissenschaftliche Beiräte (Sinn u.a.) oder exponierte Vertreter renommierter Forschungsinstitute (Zimmermann, Steiner u.a.) sind tagesaktuell und öffentlichkeitswirksam im politischen Geschäft, wobei derzeit der Sachverstand für die sozialpolitischen und sozialwissenschaftlichen Fragestellungen im Management der Unternehmen oder bei den wirtschaftswissenschaftlichen Instituten beheimatet zu sein scheint.
Das Argumentationsmuster der heilsverkündenden Botschaften ist meist sehr ähnlich: Zuerst wird das bisherige Instrumentarium der Arbeitsmarkt- und Sozialhilfepolitik abqualifiziert, um dann der ökonomisch-monotheistischen Glaubensgemeinschaft die Wege der Erlösung zu verheißen. So z. B. Hans-Werner Sinn aus dem wissenschaftlichen Beirat des Finanzministeriums: "Eine der wichtigsten Ursachen für die Arbeitslosigkeit gering qualifizierter Arbeitskräfte in Deutschland bildet die Sozialhilfe" (Sinn u.a. 2002, S. 8), um daran anschließend die Halbierung der finanziellen Leistungen zu empfehlen. Diese dann so genannte "Aktivierende Sozialhilfe" führt mittelfristig - so verspricht es Sinn - zu 2,3 Mill. neuen Arbeitsplätzen. Ähnlich argumentiert Klaus Zimmermann, der Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung: "Zum einen gibt die Regierung noch immer vier Milliarden Euro für unsinnige Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen aus, die sich weitgehend einsparen ließen. Zum anderen würde Geld frei, wenn die Regierung getreu ihrem Motto ‚fördern und fordern‘ den Druck auf Arbeitslose verstärken würde, gering bezahlte Jobs auch anzunehmen" (Zimmermann 2002). Der Vorsitzende der nach ihm benannten Hartz-Kommission bemüht bei seiner Heilsbotschaft der Halbierung der Arbeitslosen bis 2005 sogar die Leere unserer Kirchen und fordert ein Bündnis der "Profis der Nation", in dem die Pfarrer die Beratung und Betreuung der Arbeitslosen verstärkt mit übernehmen sollen (vgl. Hartz 2002a, S. 37).
Allen öffentlichkeitswirksamen Vorschlägen gemeinsam ist, dass das Strukturproblem Arbeitslosigkeit in ein Vermittlungsproblem umdefiniert wird. Nicht fehlende Arbeitsplätze, sondern deren Besetzung hemmende Faktoren sollen beseitigt werden und die sind nach Meinung der Gutachter in erster Linie darin begründet, dass der Arbeitslose zu teuer, zu wenig motiviert und bei den bisherigen Instrumenten offensichtlich vermittlungsresistent ist. Begutachtet wird also konsequent aus der Sicht derer, die mit den Entlassungen zur Arbeitslosigkeit nicht unerheblich beigetragen haben, wobei diese Parteilichkeit mit keinem Wort ausgewiesen wird.
Zur Güte von Gutachten
Es empfiehlt sich, die professionellen Standards wissenschaftlicher Auseinandersetzung in Erinnerung zu rufen, um die Vorschläge zu beurteilen. Essentials für die Güte von Gutachten sind beispielsweise:
1. Eine Politikempfehlung sollte auf einer korrespondierenden Ist-Analyse der Probleme aufbauen, damit z. B. nicht Lösungen für Probleme angeboten werden, die gar nicht existieren oder vernachlässigt werden können.
2. Eine wissenschaftliche Analyse untersucht mehrere Erklärungsvariablen, da komplexe Probleme mit nur einer Ursache signifikant unwahrscheinlich sind - demgemäß die sog. Königswege auch eher aus der Welt der Märchen stammen als aus der Welt der Wissenschaft.
3. Aussagen, auf denen Empfehlungen basieren, sollten empirisch fundiert oder zumindest nachvollziehbar belegt sein, damit sie prinzipiell überprüfbar sind und nicht als reine Bekenntnisse entweder zu glauben oder aber eben nicht zu glauben sind.
4. Thesen professioneller und wissenschaftlich orientierter Politikempfehlungen sind so zu strukturieren, dass sie grundsätzlich kritisierbar sind und sich nicht z.B. als Tautologien oder unwiderlegbare Äußerungen ("Wenn der Hahn kräht auf dem Mist, dann ändert sich das Wetter oder es bleibt wie es ist") schon a priori gegen jede mögliche Widerlegung immunisieren.
5. Professionelle Politikempfehlungen sollten die Opportunitätskosten ihrer angeratenen Strategien berücksichtigen und nachvollziehbar ausweisen, d.h., es ist zu dokumentieren, welche Folgen bzw. Kosten entstehen, wenn man der Empfehlung folgt und damit andere denkbare Alternativstrategien außer Acht lässt (man spart z.B. heute Geld, hat dafür aber morgen erhebliche Mehrausgaben).
6. Die Berücksichtigung auch der nicht-beabsichtigten Effekte von Politikempfehlungen neben den beabsichtigten gehört zu den Standards professioneller Wissenschaft, da z. B. sonst keine Nettowirkungen beschrieben werden können, wie etwa Mitnahmeeffekte. Wer nur das untersucht, was er gewollt hat, ist blind für alles, was sich jenseits seiner Wunschvorstellungen abspielt.
7. Politik- und Unternehmensberatung steht stets in einem ethisch-normativen Kontext. Diesen explizit zu machen, sollte zu den Standards wissenschaftlich seriöser Gutachten zählen, da stets Handlungsbereiche begutachtet werden, in denen handfeste Interessenkollisionen win-win-Lösungen zur Ausnahme machen.
Therapie ohne Analyse - oder: Der Bote, der die schlechte Nachricht überbringt, ist zu erschlagen
Schaut man sich unter dieser Perspektive die Gutachten bzw. Empfehlungen der letzten Monate zur Sozialhilfe und Arbeitsmarktpolitik an, dann wird deutlich, dass sie nicht einmal diesen allgemeinen Standards der Sozial- und Wirtschaftswissenschaften genügen.
Ad 1: Korrespondenz von Analyse und Empfehlung
Die meisten Vorschläge der Hartz-Kommission wie z.B. JobCenter, PersonalServiceAgenturen (PSA), Familienfreundliche Quick-Vermittlung, Neue Zumutbarkeit etc. (vgl. Hartz 2002b), zielen im Wesentlichen letztlich darauf ab, die Übergänge von Arbeitslosigkeit in Arbeit zu verbessern, was unterstellt, das eigentliche Problem in der Bundesrepublik sei eine Mismatch- bzw. friktionelle Arbeitslosigkeit, d.h., dass vorhandene Arbeitslose nicht passgenau auf die vorhandenen Stellen zu vermitteln wären. Nur: Das ist ausdrücklich nicht das entscheidende Problem, sondern die negative Arbeitsmarktbilanz, die einen Fehlbedarf von ca. sechs Millionen Stellen ausweist. In der Bundesrepublik herrscht seit über 25 Jahren Massenarbeitslosigkeit, die in ihren Grundzügen maßgeblich eher auf Struktur- als auf Vermittlungsprobleme zurückzuführen ist. Zur Erklärung heranzuziehen sind neben den tendenziell sinkenden Wachstumsraten der Volkswirtschaft insbesondere der Produktivitätsfortschritt mit der Ersetzung vor allem gering qualifizierter Arbeitskraft durch High-Tech-Kapital und die Globalisierung von Geld- und Warenströmen bei internationaler Konkurrenz, die Kapital unproduktiv in monetären Werten absorbiert, die zudem die Verschiebung der relativ "teuren" Einfacharbeitsplätze in sog. Billig-Lohn-Länder beschleunigt und schließlich u.a. zu Fusionen zwingt, bei deren Synergieeffekten es zu gigantischen Vernichtungen von Erwerbsarbeit kommt. So ist die Arbeitslosigkeit offensichtlich nicht durch Vermittlungsinkompetenz oder durch eine - wie auch immer geartete - Passivität der Arbeitslosen bedingt, die etwa durch neue Zumutbarkeitsregelungen heilbar wäre. Ursache ist vielmehr neben nationalstaatlich gar nicht mehr zu beeinflussenden Faktoren insbesondere eine lang andauernde Passivität der Arbeitsmarkt- und Beschäftigungspolitik, die den Strukturwandel nicht angemessen zu begleiten wusste. Die Hartzsche Therapie ist offenkundig nicht durch eine fundierte Diagnose vorbereitet, was aber den ungetrübten Genesungsoptimismus (Halbierung der Arbeitslosigkeit bis 2005) dann auch nicht weiter behindern kann. Auf den drei Seiten allgemeiner Analyse des knapp 350 Seiten starken Kommissionsberichts (vgl. Hartz u.a. 2002c) findet sich im Wesentlichen nur ein Satz -"Die bloße Konzentration auf die Vermittlung kann das Problem nicht lösen" (S. 37) -, der den Matching-Optimismus einschränkt, und im Empfehlungsteil nur ein Modul, der sog. JobFloater, d.h. die Option auf zinsgünstige Kredite bei Schaffung zusätzlicher Arbeitsplätze, das - wenn auch wenig differenziert - auf das zentrale Problem der negativen Arbeitsmarktbilanz Bezug nimmt (vgl. Hartz u.a. 2002c, S. 265-269).
Ad 2: Multikausale Strategieempfehlungen
Die Vorstellung, auf einen Schlag alle Probleme zu lösen, ist märchenhaft und lässt sich so auch gut vermarkten. Wenn man erst mehrere Ursachen ermittelt und dann zu differenzierten Strategien raten muss,lässt sich dies weder kurz und knapp noch öffentlichkeitswirksam platzieren. Gutachten unterliegen insbesondere dann dieser Versuchung, wenn sie im Wesentlichen nur einen Grund für das zu lösende Problem zum Gegenstand machen, wie etwa die Sozialhilfe als Ursache von Arbeitslosigkeit des gering qualifizierten Erwerbspersonenpotenzials. In diesem Fall muss auch nur eine Lösung aufgetan werden - Halbierung der Sozialhilfe mit gerade einmal zwei flankierenden Ergänzungen (vgl. Sinn u.a. 2002 S. 19 ff.) - und das Herkuleswerk ist vollbracht. Solche einseitigen Modelle sind in fast allen Fällen auffallend zu einfach gestrickt, da sie zumeist nur einen sehr kleinen Anteil der tatsächlich unterschiedlichen Erscheinungen des Problems erfassen können. Auch die massive Diskussion um die Untauglichkeit der Bundesanstalt für Arbeit, die zur Einsetzung der Hartz-Kommission beigetragen hat, unterstellte zumeist nur einen einzigen entscheidenden Grund für die Probleme, nämlich den Dilettantismus der Anstalt, die dann von Amts wegen verhängnisvollerweise auch noch die katastrophalen Arbeitsmarktzahlen monatlich zu verkünden hat. Vorschläge, die Anstalt aufzulösen oder die wesentlichen Teile als Zeitarbeitsfirmen / PSA auszulagern (vgl. Hartz 2002b, Modul 8), haben insofern etwas vom zweifelhaften Charme "bewährter" Problemlösungsstrategien des Altertums, als gelegentlich der Bote, der die schlechten Nachrichten zu überbringen hatte, kurzum erschlagen worden ist, was aber das jeweilige Verhängnis (heute: Massenarbeitslosigkeit) nicht ungeschehen macht. Sicherlich ist die Bundesanstalt für Arbeit noch kein professionelles Dienstleistungsunternehmen, doch kann das nicht schlicht mit dem Hauptgrund der Arbeitslosigkeit verwechselt werden. Gefordert sind vielmehr vielseitige Erklärungsmuster, um verschiedenartige Problemlösungen zu entwickeln, die dann im Sinne von Versuch und Irrtum Lernprozesse in die Wege leiten.
Ad 3: Empirische Fundierung von Empfehlungen
Ein etwas modifizierter Erklärungsansatz von Arbeitslosigkeit liegt einem weiteren Vorschlag der Hartz-Kommission zu Grunde, und zwar der sog. Ich-AG: Hier wird unterstellt, dass eine maßgebliche Ursache von Arbeitslosigkeit die vorherrschende Schwarzarbeit sei (vgl. Hartz 2002b, Modul 9), der mit der Schaffung bzw. Legalisierung von Mini-Dienstleistungsjobs bei voller Sozialversicherung und 10%iger Besteuerung beizukommen sei. Auch wenn die Ursachenvermutung "Schwarzarbeit" zuerst einmal etwas anders ausschaut als die Mismatch-Hypothese, so ist doch das Argumentationsmuster verwandt. Das verhärtete Strukturproblem "Arbeitslosigkeit" (s.o.) wird zu einem Problem persönlichen Fehlverhaltens der Betroffenen gemacht, denen ähnlich wie bei der PSA-, dem JobCenter- und dem Zumutbarkeits-Vorschlag durch Fördern und Fordern mit neuen Repressionen - etwa der Umkehr der Beweislast bei Ablehnung einer Stelle (vgl. Hartz 2002b, Modul 3) - "auf die Sprünge" geholfen werden muss. Gemeinsam ist diesen "Argumentations"-Figuren, dass das Opfer der arbeitsmarktlichen Strukturentwicklung zum Täter umdefiniert wird (blame the victim), das letztlich durch sein individuelles Fehlverhalten (Schwarzarbeit, Motivationsmangel etc.) für die Krise verantwortlich zu machen ist. Dass dabei durch die Umkehr der Beweislast quasi unterwegs fundamentale Grundsätze des Rechtsstaats über Bord geworfen werden, geht anscheinend im allgemeinen Aktivierungsfieber unter. Aus wissenschaftlicher Sicht ist allerdings entscheidend, dass die zentrale Hypothese, aus der die Ich-AG-Empfehlung ihre Legitimation bezieht, nämlich die Unterstellung, dass Arbeitslose in maßgeblichem Umfang schwarzarbeiten, - 10-25% des Schwarzarbeitsvolumens (vgl. Hartz u.a. 2000c, S. 276) - letztlich empirisch völlig unbelegt bleibt. Hier reicht offensichtlich die Unterstellung anstatt des Beweises und das Versprechen, dass dadurch bis zu 500.000 neue Beschäftigungsverhältnisse zu schaffen wären (vgl. Hartz u.a. 2002c, S. 276). Empirische Studien zum Phänomen "Schwarzarbeit von Arbeitslosen" lassen eher Vorsicht hinsichtlich einer Überschätzung angeraten sein (vgl. z. B. Trube 2002); das muss allerdings nicht weiter irritieren, wenn man Empfehlungen auf Behauptungen aufbaut, anstatt mühselige Detailforschung zu betreiben.
Ad 4: Logische Konsistenz und Überprüfbarkeit
Nicht nur von wissenschaftlich höchst zweifelhafter Güte sind Aussagen, die Basisanforderungen der Logik nicht genügen. Zu diesen Aussagen gehören Tautologien oder Zirkelschlüsse, die beispielsweise das, was sie erklären wollen, aus dem folgern, was zu erklären ist (Der Mensch ist sündig, weil er schon sündig auf die Welt gekommen ist). Bei Hans-Werner Sinn lässt sich diese bemerkenswerte Konstruktion bewundern, indem im Ifo-Gutachten ausgeführt wird: "Die Sozialhilfe zieht eine Untergrenze in das Lohngefüge ein und erzeugt dadurch Arbeitslosigkeit. Kein Unternehmer stellt jemanden ein, dessen Wertschöpfung kleiner ist als der Lohn, den er dafür bezahlen muss... Anspruchsberechtigte, deren Produktivität nicht oder nur wenig über dem Sozialhilfeniveau liegt, sind nicht vermittelbar" (2002, S.49). Auf den Punkt gebracht: Sozialhilfeempfänger sind Sozialhilfeempfänger, weil Sozialhilfeempfänger unproduktiv sind, und deshalb auch Sozialhilfeempfänger sind. Der Nachteil dieser hermetischen Schlussfolgerungskette ist wissenschaftlich allerdings folgender: Es gibt grundsätzlich kein einziges empirisches Ereignis, das zwischen die Glieder diese Kette dringen könnte, um quasi als experimentum crucis die Aussage widerlegbar zu machen: Weil Sozialhilfeempfänger immer schon unproduktiv sind, weil sie ja Sozialhilfeempfänger sind, kann es keine Sozialhilfeempfänger geben, die ausreichend produktiv sind, weil sie ja dann keine Sozialhilfeempfänger mehr wären. In dieser Fassung unterscheiden sich wissenschaftliche Gutachten nicht mehr von Glaubensbekenntnissen, da sie so angelegt sind, dass sie nicht widerlegbar sind, also der rationalen Kritik sich grundsätzlich verschließen.
Ad 5: Ausweisung von Opportunitätskosten
Solide Politikempfehlungen beinhalten eine Prognose der Kosten und des Nutzens der jeweiligen Reformvorschläge. Dies reicht allerdings für eine sachgerechte Abwägung der eingebrachten Empfehlungen nicht aus, denn die Realisierung der Empfehlungen bedeutet zugleich, dass denkbare Alternativen nicht umgesetzt werden, was wiederum mit speziellen Kosten, verbunden sein wird. Wenn Hartz z.B. vorschlägt, die Energien und Ressourcen auf das Vermittlungsgeschäft, die Gründung unternehmerischer Marginalexistenzen (Ich-AG‘s) sowie die Subventionierung von Arbeitnehmerverleih aus den Mitteln der BA zu fördern, ist dies jeweils mit spezifischen Opportunitätskosten der unterlassenen Alternativstrategien versehen, die aber in dem Gutachten weithin außer Acht gelassen werden. Im Einzelnen heißt dies z.B., wenn die Ressourcen auf das Vermittlungsgeschäft, das "Herzstück" des Harz-Konzepts (Hartz u.a. 2000c, S. 148), konzentriert werden und durch Abschaffung des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes Chancen zur zusätzlichen Beschäftigung in privaten Zeitarbeitsfirmen geschaffen werden sollen (vgl. Hartz u.a. 2002c, S. 150), dann stehen diese in den privaten Sektor fließenden öffentlichen Gelder beispielsweise nicht mehr für die intelligente Verknüpfung von Arbeitsmarkt- und Strukturpolitik zur Verfügung. Damit aber könnten auf dreierlei Weise Arbeitsplätze und Nutzen geschaffen werden: Erstens würden unmittelbar ansonsten arbeitsmarktlich Ausgegrenzte beschäftigt, zum zweiten würde die öffentliche, soziale und ökologische Infrastruktur verbessert und drittens würden direkte und vollständige Einnahmen in den gesetzlichen Sozialversicherungen erzielt, die die Minimal-Jobs nicht zu bieten haben. Diese unmittelbaren Effekte werden aufgegeben zugunsten einer vagen Hoffnung auf eventuelle "Klebeeffekte" von Zeitarbeit (Hartz u.a. 2000c, S. 147), und zwar in einem sich reduzierenden Arbeitsmarktsegment für die Geringqualifizierten, wobei allerdings die öffentlichen Subventionen bei Hartz den privaten Unternehmen und nicht der gesellschaftlichen Infrastruktur zugute kommen werden.
Ähnlich verhält es sich mit den empfohlenen Ich-AGs, die zuerst einmal nur für haushaltsnahe Dienstleistungen vorgesehen werden sollen und durch die öffentlichen Zuschüsse zu den Sozialabgaben und eine Mini-Steuer von 10% die schon begüterten Haushalte nochmals begünstigen (vgl. Hartz u.a. 2002c, S. 165 ff). Indem einerseits der Preis für die angebotene Dienstleistung durch Subventionierung der Sozialbeiträge künstlich gesenkt wird und zudem die Besserverdienenden die Dienstleister nochmals steuerlich absetzen können sollen (vgl. Hartz u.a. 2000c, S. 170), ergibt sich andererseits für die zuvor Arbeitslosen zumeist eine Existenz in Armut ("working poor"), die als einzige Erwerbstätigkeit wohl kaum den Lebensunterhalt gewährleisten kann. Angesichts der öffentlichen Armut, insbesondere was das Angebot menschenwürdiger Pflegeeinrichtungen, zuverlässiger Kinderbetreuung, Sanierung von Schulen usw. angeht, ist es verwunderlich, dass die öffentliche Subvention nicht direkt dort hin geleitet wird, wo die Effizienz der Verteilungswirkung am größten ist. Das wäre nämlich dort, wo der Bedarf am wenigsten ohne Förderung gedeckt werden kann, und zwar in Verknüpfung mit geregelter Beschäftigung, die außerdem auch noch hinreichend existenzsichernd ist. Einer solchen Alternative der Verbesserung der sozialen und lokalen Infrastruktur mit gleichzeitiger Bekämpfung der Arbeitslosigkeit sind insgesamt zwei halbe Seiten (268/269) des voluminösen Gutachtens - allerdings auch im Hinblick auf Großprojekte - gewidmet worden, wobei die Finanzierung durch eine weitere Kreditaufnahme der schon völlig verschuldeten Kommunen empfohlen wird.
Ad 6. Berücksichtigung nicht-intendierter Effekte
Von geradezu bestürzend geringer Nachdenklichkeit ist das Hartz-Papier - im Übrigen wie auch das Sinn-Gutachten - bei der angemessenen Berücksichtigung der nicht beabsichtigten Folgen der angedienten Problemlösungsstrategien. Das Ifo-Gutachten verwendet beispielsweise keine Zeile darauf, was aus dem Personenkreis wird, dem die Sozialhilfe auf die Hälfte reduziert wird, und diese gleichwohl die angebotene Arbeitsgelegenheiten bei den Kommunen möglicherweise nicht als Hilfen bzw. Förderung erkennen und dann auch nicht annehmen können. Vielleicht ist es von professoralen Gutachtern zu viel verlangt, sich ein Leben mit 146,50 EUR (halbierter Regelsatz) im Monat vorzustellen, was aber nicht entschuldigt, nicht einmal die gesellschaftlichen und sozialstaatlichen Folgen eines solchen Vorschlags mit ins Kalkül zu ziehen.
Bei Hartz liegen die "blinden Flecken" vor allem bei der konsequenten Unterlassung der Ausweisung von Netto-Nutzen-Wirkungen, indem fast durchgängig die Verdrängungs-, Substitutions- und Mitnahmeeffekte seiner Vorschläge ignoriert bzw. bagatellisiert werden. Dies gilt sowohl für die Anhebung der Grenzen der geringfügigen Beschäftigung auf 500 EUR, die Vorschläge zur Ich-AG oder zur subventionierten Leiharbeit. Gefährlich werden solche Blind-Gutachten, wenn die von Ihnen vorgeschlagenen Problemlösungen mit der Gefahr verbunden sind, dass die nicht beabsichtigten Nebeneffekte die eigentlich beabsichtigten Effekte übersteigen könnten, so dass im Saldo ein größerer Schaden als Nutzen entsteht. Dies ist insbesondere bei den Verdrängungseffekten normaler Beschäftigungsverhältnisse durch die für die Unternehmen deutlich günstigeren geringfügigen Beschäftigungsverhältnisse und die Subunternehmerschaft von Ich-AGs möglich. Es wäre betriebswirtschaftlich irrational, wenn ein Unternehmer, sich die dann bietenden Gelegenheiten zur Personalkostensenkung entgehen ließe (vgl. Bofinger 2002). Die im Hartz-Papier eingebaute "Sicherung", dass zur Vermeidung von Missbrauch bei Unternehmen die Anzahl von Beschäftigten aus Ich-/Familien-AGs im Verhältnis zu normalen Beschäftigten höchstens 1:1 betragen darf (vgl. Hartz u.a. 2000c, S. 167 f), erlaubt im Umkehrschluss maximal eine Vernichtung von 50% der vorhandenen regulären Einfacharbeitsplätze, und zwar mit erheblichen unternehmerischen Einsparungen die Lohn- und Lohnebenkosten betreffend.
Ad 7: Die Ausweisung des normativen Bezugs
Die aktuell diskutierten Gutachten operieren mit dem Schein einer wissenschaftlich neutralen Bestandsaufnahme und Konzeptentwicklung. Aber: Alle strukturellen Faktoren ausgeblendet, bleiben nur noch die Arbeitslosen als individuell verantwortlich zu machende Vermittlungshemmnisse. Diese interessengeleitete Aktivierungsphilosophie verlangt von den Betroffenen Verhaltensänderungen, während für die Arbeitsplatzanbieter es in der Regel kostengünstiger werden soll, Arbeit produktiv zu nutzen. Dass dies zugleich bedeutet, dass Arbeit immer weniger als Mittel zum Leben taugt, bleibt unausgesprochen. Die normative Prämisse lautet: Hauptsache Arbeit, wenn nötig auch mit Zwang (vgl. Hartz u.a. 2000c, S. 97 ff.), egal ob qualifizierte oder lebenssichernde Erwerbsarbeit geboten werden kann.
Die "neue Qualität" des Hartz-Gutachtens
Die neue Qualität des Hartz-Gutachtens, die im Unterschied zum ifo-Gutachten zu breiter öffentlicher Zustimmung geführt hat, besteht in der Kombination von Aktivierungs- und Entbürokratisierungselementen. Einerseits folgen die auf Aktivierung zielenden Ansätze dem bekannten Muster des Generalverdachts individueller Untauglichkeit und Verweigerung, indem den Arbeitslosen mit Arbeitszwang und Leistungskürzungen - z.B. Abschaffung der Dynamisierung des Arbeitslosengeldes (vgl. Hartz u.a. 2000c, S. 133) - Mobilität und Flexibilität beigebracht werden sollen, wobei überdies den Gewerkschaften zusätzliche Angebote gemacht werden, die das Ganze für sie hinnehmbarer machen sollen, wie etwa die sozialversicherungspflichtige und tarifliche Regelung der Leiharbeit (vgl. Hartz u.a. 2000c, S. 152 f.). Durch die Entbürokratisierung und Deregulierung andererseits soll parallel eine Situation erzeugt werden, die allen Seiten, d.h. den Arbeitslosen, der Arbeitsverwaltung und den Arbeitgebern, einen Reformprofit verspricht.
Das auf den ersten Blick faire Angebot, enthält allerdings jede Menge Elemente, die eine Parität vermissen lassen, was Lasten und Pflichten anbetrifft. Es reiht sich damit bruchlos in die allgemeine - zumeist zivilgesellschaftlich verbrämte- Aktivierungsstrategie der neosozialen Reformoptionen ein, die vielfach die Gefahr laufen, allgemeine Lebensrisiken zu reprivatisieren (z.B. Rentenreform etc.). Dass dies im Fall von Arbeitslosigkeit bzw. Berufsnot nun offensichtlich verstärkt ansteht, macht beispielsweise der Vorschlag deutlich, dass Ausbildungsplätze über so genannte Ausbildungszeitwertpapiere von Eltern, Großeltern etc. erworben werden sollen, die auf der Basis dieser Einzahlungen oder Spenden zur Berufsausbildung arbeitsloser Jugendlicher berechtigen (vgl. Hartz u.a. 2000c, S. 110 ff). Ebenso bemerkenswert in diesem Sinne ist auch die Idee, dass die potenziellen Verursacher von Arbeitslosigkeit, d.h. die Unternehmen, wenn sie Entlassungen vermeiden, einen Anspruch auf Reduzierung ihrer Beiträge zur Arbeitslosenversicherung erhalten sollen (vgl. Hartz u.a. 2000c, S. 144), was umgekehrt für Arbeitnehmer, die nicht kündigen, natürlich nicht gilt. Auch der Pflicht der Arbeitslosen, unterqualifizierte und unterbezahlte (Leih)arbeit zu akzeptieren, steht andererseits keinesfalls ein individueller Rechtsanspruch auf passgenaue Angebote zur Erwerbsintegration gleichberechtigt gegenüber, obwohl gerade diese individuell zugeschnittenen Wahl- und Handlungsoptionen allenthalben in ihrer Wichtigkeit betont und postuliert werden (vgl. Hartz u.a. 2000c, S. 45, 48 ff.). Insofern ist auch das Motto, "Kunden und Mitarbeiter ... begegnen sich auf gleicher Augenhöhe (Hartz u.a. 2000c, S. 97), wohl eher lyrisch als empirisch zu verstehen, zumal die zur Bundesagentur mutierte Bundesanstalt sanktionsbewehrt fordern kann und der Bürger hingegen statt zu fordern zu folgen hat. "Fordern und Folgen" ist aber ein recht eigenwilliges Verständnis von "Modernen Dienstleistungen am Arbeitsmarkt" (Titel der Hartz-Papiers), das sich nur schwer mit dem postulierten Grundsatz der Neuen Arbeitsmarktpolitik, d.h. der Förderung von Eigenaktivität vertragen wird (vgl. Hartz u.a. 2000c, S. 45 ff).
Im Ergebnis bleibt festzuhalten: Mit dem Hartz-Konzept hat der aktivierende Sozialstaat nunmehr ein neues Niveau sich selbst bestätigender Effektivitätsvergewisserung entwickelt. Denn auch wenn Ich-AGs mobil in ganz Deutschland und darüber hinaus zu tariflich abgesicherten Niedriglöhnen jede Form "zumutbarer" Arbeit machen werden bzw. die ursprünglich Arbeitslosen in den Verleihfirmen bei fortdauerndem Bezug von Arbeitslosengeld "verschwinden", dann dürfte die Arbeitslosigkeit in Zukunft tatsächlich kein bewegendes Thema mehr sein. Geht das Konzept in dieser Form nicht bruchlos auf, dann dürfte es an den Merkmalen der wenig flexiblen, gering motivierten und undynamischen Betroffenen gelegen haben, die folglich immer stärker zu aktivieren sind. Das Aktivierungskonzept ist von seiner logischen Struktur her eindeutig kein "Lernendes System", da im Fall eines Misserfolgs schon wie bislang die Ursachen bei den Betroffenen und nicht im System zu suchen sein werden.
Literaturhinweise:
Bofinger, Peter 2002: Manager sind mäßige Ratgeber; im Handelsblatt 31.07.2002
Hartz, Peter 2002a: Ich bin Überzeugungstäter - Interview mit Stefan Aust, Konstantin v. Hammerstein, Michael Sauga; in: Der Spiegel, Heft 26 v. 24.06.02, S. 36-38
Hartz, P. 2002b: 13 Module zum Abbau der Arbeitslosigkeit v. 31.07.2002, Bonn (masch. vervielf. Ms)
Hartz, P.; Bensel, Norbert; Fiedler, Jobst; Fischer, Heinz; Gasse, Peter; Jann, Werner; Kraljic, Peter; Kunkel-Weber, Isolde; Luft, Klaus; Schartau, Harald; Schickler, Wilhelm, Schleyer, Hanns-Eberhard; Schmid, Günther; Tiefensee, Wolfgang; Voscherau, Eggert 2002c: Moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt - Vorschläge der Kommission zum Abbau der Arbeitslosigkeit und zur Umstrukturierung der Bundesanstalt für Arbeit, Bonn
Sinn, Hans-Werner; Holzner, Christian; Meister, Wolfgang; Ochel, Wolfgang; Werding, Martin 2002: Aktivierende Sozialhilfe - Ein Weg zu mehr Beschäftigung und Wachstum; in: ifo Schnelldienst - Sonderausgabe, 55. Jhg. Heft 9 v. 14.05.02
Trube, A. (2002): Vom Wohlfahrtsstaat zum Workfarestate - Sozialpolitik zwischen Umstrukturierung und Neujustierung; in: Dahme, Hans-Jürgen; Otto, Hans-Uwe; Trube, A.; Wohlfahrt, N.: Soziale Arbeit für den neuen Sozialstaat - Analysen und Perspektiven zu aktuellen Herausforderungen (Sozialpolitik und Sozialmanagement, Bd. 3) Münster (i.E.)
Zimmermann, Klaus 2002: Mehr Druck machen - Interview mit Michael Sauga; in: Der Spiegel, Heft 2 v.14.01.02
Hervorhebungen:
Die Arbeitslosigkeit ist nicht durch Vermittlungsinkompetenz oder durch Passivität der Arbeitslosen bedingt.
Die Hartzsche Therapie ist offenkundig nicht durch eine fundierte Diagnose vorbereitet.
Wer die Bundesanstalt für Arbeit auflösen will, erschlägt den Boten für die schlechte Nachricht.
Die Unterstellung, dass Arbeitslose in maßgeblichem Umfang schwarzarbeiten, bleibt empirisch völlig unbelegt.
Werden die Ressourcen auf Vermittlung konzentriert, stehen sie nicht mehr für die intelligente Verknüpfung von Arbeitsmarkt- und Strukturpolitik zur Verfügung.
Die öffentlichen Subventionen kommen bei Hartz den privaten Unternehmen und nicht der gesellschaftlichen Infrastruktur zugute.
Vielleicht ist es von professoralen Gutachtern zu viel verlangt, sich ein Leben mit 146,50 EUR im Monat vorzustellen.
Bei Hartz werden fast durchgängig die Verdrängungs-, Substitutions- und Mitnahmeeffekte seiner Vorschläge ignoriert und bagatellisiert.
"Fordern und Folgen" ist ein recht eigenwilliges Verständnis von "Modernen Dienstleistungen am Arbeitsmarkt"