Covid-19 und der Katastrophenkapitalismus (II)

Internationale Warenketten und ökologisch-epidemiologisch-ökonomische Krisen (Teil II)

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Teil I des Beitrags erschien in Z 123 (Sept. 2020): https://www.linksnet.de/artikel/48040 

Imperialismus, Klasse und die Pandemie

SARS-CoV-2 ist, so wie viele andere gefährliche Pathogene der letzten Jahre, eng verbunden mit einer komplexen Reihe von Faktoren. Diese beinhaltet: 1) Die Entwicklung der globalen Agrarindustrie mit ihren zunehmenden genetischen Monokulturen, die die Anfälligkeit für die Ansteckung mit Zoonosen von Wildtieren über Haustiere bis zum Menschen erhöhen; 2) die Zerstörung wilder Lebensräume und die Störung der Aktivitäten wilder Spezies sowie 3) die immer näher rückenden menschlichen Siedlungen. Es besteht kaum ein Zweifel daran, dass globale Warenketten und die Art der Verbindungen, die sie hervorgebracht haben, zu Wegen für die schnelle Übertragung von Krankheiten geworden sind. Dies stellt das gesamte globale Ausbeutungsmuster wachstumsfixierter Entwicklung in Frage. Stephen Roach von der Yale School of Management, ehemaliger Chefökonom von Morgan Stanley und Urheber des Konzepts der globalen Lohnarbitrage, hat im Zusammenhang mit der Coronavirus-Krise geschrieben: Was die Finanzhauptquartiere der Unternehmen wollten, seien „billige Güter, unabhängig davon, welche Folgen diese Kosteneinsparungen in Form von [fehlenden] Investitionen in die öffentliche Gesundheit oder, ich würde auch sagen, von [fehlenden] Investitionen in den Umweltschutz und die Qualität des Klimas“ mit sich brächten. Das Ergebnis eines solchen nicht nachhaltigen Ansatzes der ‚Kosteneffizienz’ sind die gegenwärtigen globalen ökologischen und epidemiologischen Krisen, deren finanzielle Konsequenzen ein System weiter destabilisieren, das bereits vorher jenen für Finanzblasen charakteristischen „exzessiven Aufschwung“ zeigte.[50]

Derzeit befinden sich die reicheren Länder im Epizentrum der Covid-19 Pandemie und der finanziellen Folgen. Aber die Gesamtkrise, inklusive sämtlicher ökonomischer und epidemiologischer Effekte, wird die ärmeren Länder weit stärker treffen. Wie mit einer planetarischen Krise dieses Ausmaßes umgegangen wird, ist letztlich vom imperialistischen Klassensystem abhängig. Im März 2020 gab das COVID-19-Reaktionsteam des Imperial College in London einen Bericht heraus, in dem es hieß, dass in einem globalen Szenario, in dem SARS-CoV-2 ohne soziale Distanzierungsmaßnahmen oder Lockdowns gehandhabt würde, vierzig Millionen Menschen auf der Welt sterben würden. Dabei wäre die Sterblichkeitsrate in den reichen Ländern höher als in den armen Ländern, da der Anteil der Bevölkerung, der 65 Jahre oder älter ist, im Vergleich zu den armen Ländern größer ist. Diese Analyse berücksichtigte anscheinend den besseren Zugang zu medizinischer Versorgung in reichen Ländern. Aber sie ließ Faktoren wie Unterernährung, Armut und die größere Anfälligkeit für Infektionskrankheiten in armen Ländern außer Acht. Nichtsdestotrotz ergaben die auf diesen Annahmen basierenden Schätzungen des Imperial College, dass sich die Zahl der Todesfälle in einem ungemilderten Szenario im Bereich von 15 Millionen in Ostasien und im pazifischen Raum, 7,6 Millionen Menschen in Südasien, 3 Millionen Menschen in Lateinamerika und in der Karibik, 2,5 Millionen Menschen in Afrika südlich der Sahara und 1,7 Millionen im Nahen Osten und in Nordafrika bewegen würde – gegenüber 7,2 Millionen in Europa und Zentralasien und etwa 3 Millionen in Nordamerika.[51]

Basierend auf dem Ansatz des Imperial College schrieben Ahmed Mushfiq Mobarak und Zachary Barnett-Howell von der Yale University einen Artikel für die Zeitschrift Foreign Policy mit dem Titel „Poor Countries Need to Think Twice About Social Distancing“. In ihrem Artikel argumentieren Mobarak und Barnett-Howell sehr explizit, dass „epidemiologische Modelle deutlich machen, dass die Kosten eines Verzichts auf Interventionen in reichen Ländern Hunderttausende bis Millionen von Toten betragen würden, ein Ergebnis, das weit schlimmer ist als die tiefste wirtschaftliche Rezession, die man sich vorstellen kann. Mit anderen Worten: Soziale Distanzierungsmaßnahmen und aggressive Unterdrückung, selbst mit den damit verbundenen wirtschaftlichen Kosten, sind in Gesellschaften mit hohem Einkommen in überwältigendem Maße gerechtfertigt“, um Leben zu retten. Dasselbe gelte jedoch nicht für arme Länder, da es dort verhältnismäßig wenige ältere Menschen in der Gesamtbevölkerung gebe, die nach Schätzungen des Imperial College etwa die Hälfte der Sterblichkeitsrate ausmachen würden. Dieses Modell, räumen sie ein, „berücksichtigt nicht die größere Verbreitung von chronischen Krankheiten, Atemwegserkrankungen, Umweltverschmutzung und Unterernährung in Ländern mit niedrigem Einkommen, die die Sterblichkeitsrate durch Coronavirus-Ausbrüche erhöhen könnten“. Diese Autoren vernachlässigen dies in ihrem Artikel ebenso wie in einer damit zusammenhängenden, vom Yale Economics Department durchgeführten Studie und beharren darauf, dass es angesichts der Verarmung und der enormen Arbeitslosigkeit und Unterbeschäftigung in diesen Ländern besser wäre, wenn die Bevölkerung keine soziale Distanzierung oder aggressive Testungen und Einschränkungen praktizieren und ihre Anstrengungen stattdessen auf die wirtschaftliche Produktion konzentrieren würde. Dies würde voraussichtlich auch die globalen Versorgungsketten, die vor allem in den Niedriglohnländern beginnen, intakt erhalten.[52] Offensichtlich wird hier der Tod von dutzenden Millionen Menschen im globalen Süden von den Autoren als eine sinnvolle Abschreibung für das weitere Wachstum des Imperiums des Kapitals gesehen.

Wie Mike Davis argumentiert, läuft der Kapitalismus des 21. Jahrhunderts auf „eine permanente Triage [der medizinische Begriff bezeichnet die Priorisierung von Hilfeleistungen in akuten Notsituationen und das ggf. daraus resultierende Sterbenlassen bestimmter Verletzter/Kranker – a.d.Ü.] der Menschheit hinaus [...], die einen Teil der menschlichen Spezies letztlich zur Auslöschung verurteilt.“ Er fragt: „Aber was passiert, wenn sich COVID-19 in Bevölkerungsgruppen ausbreitet, die nur minimalen Zugang zu Medikamenten haben, deren Ernährungssituation dramatisch schlecht ist und die mit unbehandelten Gesundheitsproblemen und einem geschädigten Immunsystem zu kämpfen haben? Der Altersvorteil wird für arme Jugendliche in afrikanischen und südasiatischen Slums weitaus weniger wert sein. Es besteht auch die Möglichkeit, dass eine Masseninfektion in Slums und armen Städten den Infektionsmodus des Coronavirus und die Art der Krankheit verändern könnte. Vor dem Auftreten von SARS im Jahr 2003 waren hochpathogene Coronavirus-Epidemien auf Haustiere, vor allem Schweine, beschränkt. Die Forscher erkannten bald zwei verschiedene Infektionswege: die fäkal-orale, die das Magen- und Darmgewebe angriff, und die respiratorische, die die Lungen angriff. Im ersten Fall war die Sterblichkeit in der Regel sehr hoch, während der zweite in der Regel zu milderen Fällen führte. Ein kleiner Prozentsatz der aktuellen positiven Meldungen, insbesondere die Fälle auf Kreuzfahrtschiffen, berichtet über Durchfall und Erbrechen. Entsprechend gilt, um einen Bericht zu zitieren, dass ‚die Möglichkeit der Übertragung von SARS-CoV-2 über Abwasser, Abfall, verunreinigtes Wasser, Klimaanlagen und Aerosole nicht unterschätzt werden darf.’ Die Pandemie hat inzwischen die Slums Afrikas und Südasiens erreicht, wo fäkale Verunreinigungen überall zu finden sind: im Wasser, im selbst angebauten Gemüse und als windgetriebener Staub. (Ja, shit storms sind real.) Wird dies den Verbreitungsweg über den Darm begünstigen? Wird dies, wie es bei Tieren der Fall ist, zu mehr tödlichen Infektionen führen, möglicherweise über alle Altersgruppen hinweg?“[53]

Davis‘ Argument macht die grobe Unmoral einer Position deutlich, die besagt, dass soziale Distanzierung und aggressive Unterdrückung des Virus als Reaktion auf die Pandemie nur in reichen und nicht in armen Ländern stattfinden sollte. Solche imperialistischen epidemiologischen Strategien sind umso bösartiger, als sie die Armut der Bevölkerungen des globalen Südens, die ja ein Produkt des Imperialismus ist, als Rechtfertigung für einen malthusianischen oder sozialdarwinistischen Ansatz heranziehen, bei dem Millionen Menschen sterben würden, um das Wachstum der Weltwirtschaft aufrechtzuerhalten – in erster Linie natürlich zum Wohle derer, die an der Spitze des Systems stehen. Man vergleiche dies mit dem Ansatz des sozialistisch geführten Venezuela, dem Land in Lateinamerika mit der geringsten Zahl von Todesfällen pro Kopf seit Ausbruch der COVID-19-Pandemie, in dem kollektiv organisierte soziale Distanzierung und soziale Versorgung kombiniert werden mit weitverbreiteten Massentests, mit dem Ausbau von Krankenhäusern und Gesundheitsfürsorge sowie mit einem erweiterten personalisiertem Screeningverfahren, das feststellt, wer am verletzlichsten ist – ein Vorgehen, das auf dem kubanischen und chinesischen Modell aufbaut.[54]

Wirtschaftlich gesehen ist der globale Süden als Ganzes – ganz abgesehen von den unmittelbaren Auswirkungen der Pandemie – dazu bestimmt, die höchsten Kosten zu tragen. Der Zusammenbruch globaler Lieferketten durch Auftragsstornierungen im globalen Norden (sowie durch soziale Distanzierung und Ausgangssperren rund um den Globus) und die bereits absehbare Umgestaltung der Warenketten werden ganze Länder und Regionen am Boden zerstört hinterlassen.[55]

An dieser Stelle ist es von entscheidender Bedeutung, dass die COVID-19-Pandemie mitten in einem von der Trump-Administration entfesselten und gegen China gerichteten Wirtschaftskrieg um globale Hegemonie auftritt. Auf China entfallen seit 2008 etwa 37 Prozent des gesamten kumulativen Wachstums der Weltwirtschaft.[56] Dieser ökonomische Konflikt wird von der Trump-Administration als ein Krieg mit anderen Mitteln angesehen. Als Folge des Zollkrieges hatten bereits viele US-Unternehmen ihre Lieferketten aus China abgezogen. Levi's zum Beispiel hat seine Produktion in China von 16 Prozent im Jahr 2017 auf ca. 1-2 Prozent im Jahr 2019 reduziert. Angesichts des Zollkriegs und der COVID-19-Pandemie haben zwei Drittel von 160 in den Vereinigten Staaten befragten Führungskräfte verschiedenster Branchen vor kurzem angegeben, dass sie bereits umgezogen sind, einen Umzug planen oder in Erwägung ziehen, ihre Betriebe von China nach Mexiko zu verlegen, wo die Lohnstückkosten jetzt vergleichbar sind und wo sie näher an den US-Märkten wären.[57] Washingtons Wirtschaftskrieg gegen China ist derzeit so heftig, dass sich die Trump-Administration bis Ende März weigerte, die Zölle auf persönliche Schutzausrüstung zu senken, die für medizinisches Personal unerlässlich ist.[58] Währenddessen ernannte Trump Peter Navarro, den Ökonomen, der für seinen Wirtschaftskrieg um die Hegemonie mit China verantwortlich war, zum Leiter des Defense Production Act zur Bewältigung der COVID-19-Krise.

In seinen Funktionen bei der Leitung des US-Handelskrieges gegen China und als politischer Koordinator des Defense Production Act hat Navarro China beschuldigt, einen „Handelsschock“ verursacht zu haben, durch den „über fünf Millionen Arbeitsplätze in der verarbeitenden Industrie und 70.000 Fabriken“ verloren gegangen und „zehntausende Amerikaner getötet“ worden seien, indem Arbeitsplätze, Familien und Gesundheit zerstört wurden. Er erklärt nun, dass dem ein „China-Virus-Schock“ gefolgt sei.[59] Auf dieser propagandistischen Grundlage ging Navarro dazu über, die US-Politik in Bezug auf die Pandemie um die Notwendigkeit herum zu integrieren, den so genannten „China-Virus“ zu bekämpfen und US-Lieferketten aus China abzuziehen. Da jedoch etwa ein Drittel aller globalen Zwischenprodukte der verarbeitenden Industrie derzeit in China hergestellt werden, vor allem in den Hochtechnologiesektoren, und da dies nach wie vor der Schlüssel zur globalen Arbeitsarbitrage ist, wäre der Versuch einer solchen Umstrukturierung, soweit er überhaupt möglich ist, äußerst mühselig.[60]

Einige multinationale Konzerne, die ihre Produktion aus China bereits ausgelagert haben, erfuhren später auf die harte Tour, dass die Entscheidung sie nicht aus ihrer Abhängigkeit von China ‚befreite’. Samsung zum Beispiel hat damit begonnen, elektronische Komponenten aus China zu seinen Fabriken in Vietnam zu fliegen – ein Zielort für Unternehmen, die den Handelskriegszöllen entgehen wollen. Aber Vietnam ist ebenso verwundbar, weil es in Bezug auf Material und Zwischenteile stark von China abhängig ist.[61] Ähnliche Fälle sind auch in anderen südostasiatischen Nachbarländern aufgetreten. China ist der größte Handelspartner Indonesiens und etwa 20 bis 50 Prozent der Industrierohstoffe des Landes kommen aus China. Bereits im Februar mussten Fabriken in Batam, Indonesien, mit dem zunehmendem Ausbleiben von Rohstoffen fertig werden (die 70 Prozent dessen ausmachen, was in dieser Region überhaupt produziert wurde). Die Unternehmen dort ließen verlauten, dass sie in Erwägung zögen, Materialien aus anderen Ländern zu beziehen, aber „das ist nicht gerade einfach“. Für viele Fabriken bestand daher die einzig machbare Option darin, „den Betrieb vollständig einzustellen“.[62] Kapitalisten wie Cao Dewang, der chinesische Milliardär und Gründer der Glasindustrie in Fuyao, prognostiziert die Schwächung der Rolle Chinas in der globalen Lieferkette nach der Pandemie, kommt aber zu dem Schluss, dass es zumindest kurzfristig „schwierig ist, eine Wirtschaft zu finden, die China in der globalen Industriekette ersetzt“ – was unter anderem auf Schwierigkeiten wie „Infrastrukturmängel“ in südostasiatischen Ländern, höheren Arbeitskosten im globalen Norden und auf Hindernisse zurückzuführen sei, denen sich „reiche Länder“ gegenübersähen, wenn sie „die Produktion im eigenen Land wieder aufbauen“ wollten.[63]

Die COVID-19-Krise ist nicht als das zufällige Ergebnis einer externen Kraft oder eines unvorhersehbaren Schwarzer-Schwan-Ereignisses zu verstehen. Sie gehört vielmehr zu einem Komplex von Krisentendenzen, die weitgehend vorhersehbar sind, wenn auch nicht in Bezug auf den tatsächlichen Zeitpunkt ihres Eintretens. Heute ist das Zentrum des kapitalistischen Systems mit einer säkularen Stagnation in Bezug auf Produktion und Investitionen konfrontiert. Es stützt sich für seine Expansion und die Anhäufung von Reichtum an der Spitze auf historisch niedrige Zinssätze, hohe Schulden, den Abfluss von Kapital aus dem Rest der Welt und Finanzspekulationen. Die Einkommens- und Vermögensungleichheit erreicht ein nie da gewesenes Ausmaß. Der Riss in der Weltökologie hat planetarische Dimensionen erreicht und schafft ein planetarisches Umfeld, das für die Menschheit keinen sicheren Ort mehr darstellt. Neue Pandemien entstehen auf der Grundlage eines Systems des globalen Monopol-Finanzkapitals, das sich selbst zum Hauptüberträger von Krankheiten gemacht hat. Überall greifen die staatlichen Systeme auf ein höheres Maß an Repression zurück, sei es unter dem Deckmantel des Neoliberalismus oder des Neofaschismus.

Der außerordentlich ausbeuterische und zerstörerische Charakter des Systems zeigt sich in der Tatsache, dass Blue-Collar-Arbeiter nahezu überall zu systemrelevanten Arbeiter*innen erklärt wurden (ein Konzept, das in den Vereinigten Staaten durch das Heimatschutzministerium formalisiert wurde) und von ihnen erwartet wird, dass sie die Produktion größtenteils ohne Schutzausrüstung durchführen. Währenddessen frönen die privilegierteren und entbehrlicheren Klassen ihren sozialen Distanzierungsmaßnahmen.[64] Ein echter Lockdown wäre viel umfassender und würde eine staatliche Versorgung und Planung erfordern, die den Schutz der gesamten Bevölkerung sicherstellen könnte, anstatt sich auf die Rettung finanzieller Interessen zu konzentrieren. Dies gälte gerade wegen des Klassencharakters der sozialen Distanzierung und des Zugangs zu Einkommen, Wohnraum, Ressourcen und medizinischer Versorgung, der bewirkt, dass vor allem farbige Bevölkerungsgruppen von Morbidität und Mortalität aufgrund von COVID-19 in den Vereinigten Staaten betroffen sind, die Gruppen, die am schlimmsten von wirtschaftlicher und ökologischer Ungerechtigkeit betroffen sind.[65]

 

Soziale Produktion und planetarischer Stoffwechsel

Grundlegend für die materialistische Sichtweise von Marx war das, was er eine Hierarchie menschlicher Bedürfnisse[66] nannte. Diese Sichtweise geht davon aus, dass der Mensch ein materielles Wesen ist, Teil der natürlichen Welt und dass er innerhalb dieser Welt seine eigene soziale Welt erschafft. Als materielles Wesen gilt es für ihn zunächst seine materiellen Bedürfnisse zu befriedigen, indem Essen und Trinken, Nahrung, Unterkunft, Kleidung und andere Grundvoraussetzungen für eine gesunde Existenz sichergestellt sind, bevor er seinen höheren Entwicklungsbedürfnissen, die für die volle Verwirklichung des menschlichen Potentials notwendig sind, nachgehen kann.[67] In Klassengesellschaften war es jedoch schon immer so, dass die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung, die wirklichen Produzenten, in Zustände zurückversetzt wurden, in denen sie in einem ständigen Kampf um die Befriedigung ihrer elementarsten Bedürfnisse gefangen waren. Daran hat sich grundsätzlich nichts geändert. Trotz des enormen Reichtums, der in Jahrhunderten des Wachstums geschaffen wurde, befinden sich Millionen und Abermillionen von Menschen selbst in den reichsten kapitalistischen Gesellschaften nach wie vor in einem prekären Zustand in Bezug auf so grundlegende Dinge wie Ernährungssicherheit, Wohnen, sauberes Wasser, Gesundheitsversorgung und Verkehrsmittel – während beispielsweise in den Vereinigten Staaten drei Milliardäre so viel Reichtum besitzen wie die untere Hälfte der Bevölkerung.

Mittlerweile sind die lokale und regionale Umwelt ebenso wie alle Ökosysteme der Welt und das Erdsystem selbst als sicherer Ort für die Menschheit gefährdet. Die Betonung globaler „Kosteneffizienz“ (ein Euphemismus für billige Arbeitskräfte und billiges Land) hat das multinationale Kapital dazu veranlasst, ein komplexes System globaler Warenketten zu schaffen, das zu jedem Zeitpunkt darauf ausgelegt ist, die Über- und Superausbeutung von Arbeitskräften auf weltweiter Basis zu maximieren und gleichzeitig die ganze Welt in einen Markt für Grund und Boden zu verwandeln, der größtenteils als Betätigungsfeld für die Agrarindustrie dient. Das Ergebnis war ein gewaltiger Abfluss von Überschüssen aus der Peripherie des globalen Systems und eine Plünderung der planetarischen Gemeinschaftsgüter. Im engen System der Wertberechnung des Kapitals werden der größte Teil der materiellen Existenz, einschließlich des gesamten Erdsystems und der sozialen Bedingungen der Menschen, sofern diese nicht auf den Markt gelangen, als Externalitäten betrachtet, die im Interesse der Kapitalakkumulation geraubt und geplündert werden müssen. Was fälschlicherweise als Tragödie der Gemeingüter („tragedy of the commons”) bezeichnet wurde, ist, wie Guy Standing in Plunder of the Commons betont hat, eher als „Tragödie der Privatisierung“ zu verstehen. Heute hat das berühmte Lauderdale-Paradox, das von dem Earl of Lauderdale im frühen 19. Jahrhundert erstmals benannt wurde und das auf die Vermehrung privater Reichtümer durch die Zerstörung öffentlichen Reichtums verweist, den gesamten Planeten erfasst.[68]

Die Kapitalkreisläufe des Spätimperialismus haben diese Tendenzen zur vollen Entfaltung geführt und eine sich rasch entwickelnde planetare ökologische Krise hervorgerufen, die die menschliche Zivilisation, wie wir sie kennen, in einem Katastrophensturm zu verschlingen droht. Dies ergänzt ein System der Akkumulation, das entkoppelt ist von einer rationalen Ordnung der Bedürfnisse der Bevölkerung, die von der Vermittlung durch Geld unabhängig wäre.[69] Akkumulation und die generelle Anhäufung von Reichtum sind zunehmend von der Vermehrung von Abfällen aller Art abhängig. Inmitten dieser Katastrophe ist, angeführt durch eine zunehmend instabile und aggressive USA, ein neuer Kalter Krieg heraufgezogen, der mit einer zunehmenden Wahrscheinlichkeit atomarer Zerstörung einhergeht. Dies hat das Bulletin of Atomic Scientists dazu veranlasst, seine berühmte Weltuntergangsuhr auf 100 Sekunden vor Zwölf zu stellen, so nahe dran wie noch nie seit dem Start der Uhr im Jahr 1947.[70]

Die COVID-19-Pandemie und die Bedrohung durch häufigere und noch tödlichere Pandemien sind ein Produkt eben dieser spätimperialistischen Entwicklung. Ketten globaler Ausbeutung und Enteignung haben nicht nur die Ökologie, sondern auch die Beziehungen zwischen den Arten destabilisiert und ein giftiges Gebräu aus Krankheitserregern geschaffen. All dies kann als Folge der Einführung der Agrarindustrie mit ihren genetischen Monokulturen, der massiven Zerstörung des Ökosystems durch die unkontrollierte Vermischung von Arten gesehen werden. Es ist das Ergebnis eines Systems globaler Inwertsetzung das darauf basiert, Land, Körper, Spezies und ganze Ökosysteme wie so viele ‚freie Güter‘ zu behandeln, die ungeachtet bestehender natürlicher oder sozialer Grenzen ausgebeutet werden können.

Noch sind neue Viren das einzige aufkommende globale Gesundheitsproblem. Der exzessive Einsatz von Antibiotika innerhalb des Agrarbusiness ebenso wie in der modernen Medizin hat zur Entstehung und Vermehrung gefährlicher resistenter Keime geführt. Diese führen zu einer zunehmenden Anzahl von Todesfällen und könnten gegen Mitte des Jahrhunderts bereits die jährliche Rate an Krebstoten übersteigen. Bereits jetzt veranlasst dies die WHO dazu, einen globalen Gesundheitsnotstand zu erklären.[71]

Es sind die Arbeiterklasse, die Armen und die Bevölkerungen der Peripherie, die aufgrund der ungleichen Bedingungen der kapitalistischen Klassengesellschaft am stärksten unter übertragbare Krankheiten leiden. In diesem Sinne kann ein System, das Krankheiten hervorbringt, indem es rein quantitativen Reichtum erzeugt, zurecht des sozialen Mordes bezichtigt werden, wie es Engels und die Chartisten bereits im neunzehnten Jahrhundert getan haben.

Wie die revolutionären Entwicklungen in der Epidemiologie, die durch Programme wie „One Health“ und „Structural One Health“ repräsentiert werden, gezeigt haben, ist die Entstehung der neuen Pandemien auf das allgemeinere Problem der durch den Kapitalismus hervorgebrachten ökologischen Zerstörung zurückzuführen.

Hier zeigt sich, wie bereits so viele Male in der Vergangenheit, erneut die Notwendigkeit einer „revolutionären Umgestaltung der ganzen Gesellschaft“.[72] Die Logik der gegenwärtigen historischen Entwicklung verweist auf die Notwendigkeit eines stärker gemeingüter- und gemeinwohl-orientierten Systems der sozialen Reproduktion und des planetarischen Stoffwechsels. Es wäre ein System, in dem die sich auf freiwilliger Basis zusammenschließenden Produzenten ihren Austausch mit der Natur rational regulieren, um somit die freie Entwicklung der einzelnen als Basis der freien Entwicklung aller zu befördern und dabei Energieressourcen und Umwelt zu bewahren.[73] Die Zukunft der Menschheit im 21. Jahrhundert liegt nicht in einer Erhöhung der ökonomischen und ökologischen Ausbeutung und Enteignung, die nur mit Imperialismus und Krieg einhergehen können. Heute besteht die drängendste Aufgabe darin, das, was Marx „die Freiheit überhaupt“ und einen überlebensfähigen planetarischen „Stoffwechsel“ nannte, zu bewahren, wenn die menschliche Gegenwart und Zukunft sowie letztlich das Überleben der Menschheit überhaupt gesichert werden sollen.[74]

 

*   Zuerst erschienen in: Monthly Review, 1.6.2020, https://monthlyreview.org/2020/06/01/covid-19-and-catastrophe-capitalism/. Übersetzung und Nachdruck mit freundlicher Genehmigung der Autoren und der Redaktion von Monthly Review. Übersetzung: Philipp Piechura. Teil I erschien in Z 123 (September 2020), S. 14-28.

[50] Stephen Roach, This Is Not the Usual Buy-on-Dips Market, Economic Times, 18.03.2020.

[51] COVID-19 Response Team, Imperial College, Report 12: The Global Impact of COVID-19 and Strategies for Mitigation and Suppression (London 2020), 3–4, 1.

[52] Ahmed Mushfiq Mobarak/Zachary Barnett-Howell, Poor Countries Need to Think Twice About Social DistancingForeign Policy, 10.04.2020; Zachary Barnett-Howell/Ahmed Mushfiq Mobarak, The Benefits and Costs of Social Distancing in Rich and Poor Countries, ArXiv, 10.04.2020.

[53] Davis, Mike Davis on Pandemics, Super-Capitalism, and the Struggles of Tomorrow.

[54] President Maduro: Venezuela Faces the COVID-19 With Voluntary Quarantine Without Curfew or State of ExceptionOrinoco Tribune, 18.04.2020; Frederico Fuentes, Venezuela: Community Organization Key to Fighting COVID-19Green Left, 09.04.2020.

[55] Analysis: The Pandemic Is Ravaging the World’s Poor Even If They Are Untouched by the Virus, Washington Post, 15.04. 2020; Matt Leonard, India, Bangladesh Close Factories Amid Coronavirus Lockdown, Supply Chain Dive, 26.03.2020; Finbarr Bermingham, Global Trade Braces for ‘Tidal Wave’ Ahead, as Shutdown Batters Supply ChainsSouth China Morning Post, 03.04.2020; I. P. Singh, Punjab: No Orders, No Raw MaterialTimes of India, 01.04.2020.

[56] Roach, This Is Not the Usual Buy-On-Dips Market.

[57] Kapadia, From Section 301 to COVID-19.

[58] Bown, COVID-19: Trump’s Curbs on Exports of Medical Gear.

[59] David Ruccio, The China SyndromeOccasional Links and Commentary, 14.04.2020; Alan Rappeport, Navarro Calls Medical Experts ‘Tone Deaf’ Over Coronavirus Shutdown, New York Times, 13.04.2020; John Bellamy Foster, Trump in the White House (New York 2017), 84–85.

[60] Cary Huang, Is the Coronavirus Fatal for Economic Globalisation?, South China Morning Post, 15.03.2020; Frank Tang, American Factory Boss Says Pandemic Will Change China’s Role in Global Supply Chain, South China Morning Post, 15.04.2020.

[61] John Reed/Song Jung-a, Samsung Flies Phone Parts to Vietnam After Coronavirus Hits Supply ChainsFinancial Times, 16.02.2020; Finbarr Bermingham, Vietnam Lured Factories During Trade War, but Now Faces Big Hit as Parts from China Stop FlowingSouth China Morning Post, 28.02.2020.

[62] Fadli, Batam Factories at Risk as Coronavirus Outbreak Stops Shipments of Raw Materials from ChinaJakarta Post, 18.02.2020; Covid-19: Indonesia Waives Income Tax for Manufacturing Workers for Six MonthsStar, 16.03.2020.

[63] Tang, American Factory Boss Says Pandemic Will Change China’s Role in Global Supply Chain.

[64] Christopher C. Krebs, Advisory Memorandum on Identification of Essential Critical Infrastructure Workers, U.S. Department of Homeland Security, 28.03.2020.

[65] Lauren Chambers, Data Show that COVID-19 is Hitting Essential Workers and People of Color Hardest, Data for Justice Project, American Civil Liberties Union, 07.04.2020.

[66] Karl Marx, Randglossen zu Adolph Wagners „Lehrbuch der politischen Ökonomie” (Zweite Auflage), Bd. I, 1879. MEW 19, 367.

[67] Vgl. Friedrich Engels, Das Begräbnis von Karl Marx, MEW 19, 335.

[68] Guy Standing, Plunder of the Commons: A Manifesto for Sharing Public Health (London 2019), 49; John Bellamy Foster/Brett Clark, The Robbery of Nature (New York 2020), 167–72.

[69] John Bellamy Foster/Robert W. McChesney, The Endless Crisis (New York 2012).

[70] It’s Now 100 Seconds to MidnightBulletin of Atomic Scientists, 23.01.2020.

[71] Microbial Resistance a Global Health Emergency, UN News, 11.12.2018; Ian Angus, Superbugs in the AnthropoceneMonthly Review 71, Nr. 2 (Juni 2019).

[72] Karl Marx/Friedrich Engels, Manifest der Kommunistischen Partei, MEW 4, 462.

[73] Karl Marx, Das Kapital, Band 3, MEW 25, 828.

[74] Karl Marx, Debatten über Preßfreiheit, MEW 1, 69; Wallace et al., COVID-19 and Circuits of Capital.