Über welche Brücken sollen wir gehen, welche Mauern sollen wir überwinden?

In der Linken ist es selten, Argumentationsstrukturen zu analysieren. Zu den wichtigsten Denkformen gehört das Entweder-Oder. Kaum jemand würde im täglichen Leben auf der Basis Entscheidungen treff

Diether Dehm ist Brückenbauer geworden. Anstelle Mauern einzureißen, schlägt er vor, sie in luftiger Höhe zu überqueren. Ein reizvolles Angebot. Man könnte hoffen, ganz neue Einblicke zu gewinnen. Aber auch ein solches Angebot sollte geprüft werden. Wenn Diether Dehm zum Beispiel eine neue griffige Formel findet, wie die PDS das immer wieder beschworene Spannungsverhältnis von kapitalismuskritischer Opposition und gestaltender Reformkraft produktiv austragen kann durch "Regieren aus der Opposition" und "Opponieren aus der Regierung", dann werde ich ihm gerne auf diesen dialektischen Pfaden folgen. Nur brauchen die Autoren des durch Gabi Zimmer eingereichten Entwurfs zum Parteiprogramm dafür zweifelsohne keine Brücke, denn es ist keine Mauer in Sicht, die sie von einer solchen Position trennen könnte. Und ob es eine Brücke für jene ist, die sich der Gestaltung in Regierungsverantwortung prinzipiell verschließen wollen, ist schwer vorstellbar, aber zu hoffen. Diether Dehm baut jedoch auch Brücken, die meines Erachtens geistige Mauern darstellen, unüberschreitbare neue Mauern. Dies gilt zum Beispiel dann, wenn er sich der Geschichte des Staatssozialismus zuwendet.

Es ist selten in der PDS wie in der ganzen Linken, Argumentationsstrukturen zu analysieren. Das Gefühl, auf der richtigen Seite zu sein, scheint das Bedürfnis nach Reflexion nicht gerade zu verstärken. Zu oft lassen sich Diskutanten auf einzelne ›gute‹ Argumente ein und werden damit zu Gefangenen von Denkformen, deren Nützlichkeit gar nicht bedacht wird. Zu den wichtigsten Denkformen, deren Zweck sehr kritisch zu bedenken ist, gehört das ›Entweder-Oder‹, gehört die Verwendung von Extremen, zwischen denen alternativlos zu entscheiden sei. Kaum jemand würde im alltäglichen Leben auf der Basis solcher Denkstrukturen Entscheidungen treffen und treffen können.

Viele Leserinnen und Leser auch dieser Zeitschrift werden schon eine Wohnung gesucht und (hoffentlich) gefunden haben: Fast alles ist ein Abwägen zwischen Besser und Schlechter, wobei dann auch noch zwischen unterschiedlichen, sich nicht selten auch widerstreitenden Kriterien abgewogen werden muß. Die Höhe der Miete, die Größe, die Lage, die Mitmieter, die Umgebung, der Arbeitsweg, die Fenster, Heizung usw. werden bedacht. Mehr noch: Man wird auch nicht ewig suchen, man wird nicht zehntausend Wohnungen besichtigen können, sondern auch den Aufwand des Suchens selbst in Rechnung stellen. Und nicht wenige werden dann im nachhinein begründen können, warum nur diese, ausschließlich diese eine Wohnung in Frage kam. Zumindest einige Monate lang werden sie dies behaupten, da doch viel Kraft und Zeit investiert wurde für die Suche und den Umzug. Aber sie werden auch darauf achten, daß alle ihre Freunde und Bekannten, die sich nicht genau die gleiche Wohnung ausgesucht haben, nicht als Dummköpfe erscheinen, unfähig, die absolut richtige Behausung für sich finden zu können. 1

Im Alltag wissen wir um die Relativität (fast) aller Dinge, wir gehen mit der Ambivalenz, der Mehrdeutigkeit um, wissen, daß jenes, was in einer Hinsicht besser ist, in anderer Hinsicht schlechter sein kann, wissen darum, daß jedes Ding mindestens zwei Seiten hat. Manche Diskutanten in der PDS aber scheint der gesunde Menschenverstand zu verlassen, wenn sie sich der Programmatik oder auch einzelnen politischen Entscheidungen zuwenden. Sie entwickeln einen ideologischen Diskurs, der durch logische Gegensätze im Sinne von ›A‹ oder ›Nicht-A‹ gekennzeichnet ist. Dies sollte zumindest mißtrauisch machen. Immer wenn das Wort ›oder‹ auftaucht, sollte man genau hinsehen, welche Alternativen durch dieses unschuldige Wort ›oder‹ einander gegenübergestellt werden. Dieses Mißtrauen sollte in höchste Skepsis, ja geradezu in Alarmbereitschaft übergehen, wenn die Gegensätze als absolute Gegensätze dargestellt werden und zudem noch unterstellt wird, daß jede andere als die eigene Position moralisch in jeder Hinsicht verwerflich sei.

Ein Diskurs, der auf der Gegenüberstellung absoluter Gegensätze basiert und jede abweichende Position moralisch ohne Wenn und Aber ausgrenzt, ist ›manichäisch‹ 2 , indem er einen absoluten Anspruch auf eine absolute Wahrheit erhebt und keinen geistigen oder moralischen Raum für andere Positionen läßt. Ein solcher manichäischer ideologischer Diskurs teilt nicht ein in besser und schlechter, befreundeter oder gegnerischer, wahrer und falscher, sondern in Gut und Böse, Freund und Feind, wahr und falsch. Zugleich erhebt er den Anspruch auf die ganze Wahrheit, auf die einzig mögliche und legitime Deutung von Wirklichkeit. 3 Jede Abweichung erscheint als das absolut Falsche und Böse schlechthin. Dialog und damit Pluralismus, der über die bloße Koexistenz hinausgeht, ist mit einer manichäischen Sprache unvereinbar.

Gerade dann, wenn der berechtigten Forderung Rechnung getragen werden soll, die Ergebnisse einer Diskussion zu integrieren, wenn Vielfalt produktiv gemacht werden soll, wenn aus dem Nebeneinander der Standpunkte ein Miteinander entstehen soll, dann ist weit über die Beachtung einzelner Argumente hinaus jene Denk-und Sprachstruktur zu untersuchen, in die dieses oder jenes Argument eingebettet ist. Oft sind einzelne Argumente miteinander vereinbar, zwangsläufig unvereinbar mit anderen Positionen dagegen sind Denk- und Sprachstrukturen, die einen manichäischen Charakter besitzen. Wer Pluralität einfordert, darf seine eigenen Positionen nicht in Gestalt einer manichäischen Alternative zwischen absoluten Gegensätzen einbringen, da er dann keinen Platz für andere Auffassungen läßt - weder geistig noch moralisch.

Eine derartige manichäische Sprache tritt dem Leser und der Leserin entgegen, wenn er eine jener drei Brücken beschreiten will, die Diether Dehm uns in seinem Aufsatz Drei Brücken über programmatische Mauern 4 anempfiehlt. Und es ist merkwürdig, daß er diese Sprache bei der Beschreibung der beiden anderen Brücken wieder fallen läßt. Der zentrale Absatz, auf den ich mich im folgenden beziehen will, sei vollständig zitiert: "Wir entscheiden heute, ob die Sowjetunion morgen als gescheitertes, finsterkriminelles System oder als legitimer antikapitalistischer Versuch im Bewußtsein der Menschen bleibt. Diejenigen, die eine brutale Diktatur des transnationalen Monopolkapitals als alternativlos hinstellen, dürfen natürlich keine ermutigende Geschichte des Aufbegehrens zulassen. Sie wollen, daß allein das Scheitern wahrgenommen wird, damit jedes Aufbegehren auf ewig entmutigt bleibt. Aber nicht nur darum haben die heutigen, als sachliche Mächte entmenschten Finanzmärkte etwas mit der Geschichtsschreibung seit der Oktoberrevolution zu tun. Denn in allen noch nicht ausgehöhlten Tarifverträgen und Sozialstandards, in parlamentarisch demokratischen Rechten wie auch im Grundgesetz wirkt der versuchte Sozialismus antipodisch fort, weil selbst westdeutsche Kapitalmacht sich einst, gleichsam vorbeugend, auf derartige Zugeständnisse einlassen mußte. Deshalb ist der Streit um eine ›wahrhafte‹ Geschichtsschreibung mit den aktuellen Kämpfen für soziale Gerechtigkeit verbunden." 5

Diether Dehm konstruiert im zitierten Absatz durch die Gegenüberstellung von absoluten Gegensätzen eine Geschichtserzählung, in der sich der "legitime antikapitalistische Versuch" der Oktoberrevolution und die "brutale Diktatur des transnationalen Monopolkapitals", der "emanzipative Aufbruch der Oktoberrevolution" (so der erste Satz des nächsten Absatzes) und die "als sachliche Mächte entmenschten Finanzmärkte" gegenüberstehen. Und auch für die Sichtweise auf die Sowjetunion werden uns nur absolute Gegensätze anempfohlen: Entweder habe es sich um ein "gescheitertes finster-kriminelles System" gehandelt oder es sei ein "legitimer antikapitalistischer Versuch" gewesen. Die Argumentation basiert auf dem Satz vom ausgeschlossenen Dritten - Tertium non datur! Entweder gilt das eine oder es gilt sein absolutes Gegenteil.

Über viele Einschätzungen, einzelne Vorstellungen in Programmentwürfen läßt sich streiten. Vieles wird in Diskussionen, nach Gesprächen mit besseren Angeboten zu ändern sein. Eines allerdings sollte sich niemand erlauben: Nicht oder zu wenig darüber nachzudenken, welche Grundstruktur des Denkens verwendet wird und was die Folgen sind, wenn eine für Erkenntnis und Diskussionskultur gleichermaßen unverträgliche Struktur gewählt wird.

Die Denkweise in absoluten Gegensätzen, in bloßen Antinomien, erzeugt einen Denk-, Sprach- und Handlungsraum, der keinen Platz für Differenzierungen läßt. 6 Es bleibt kein Platz dafür zu fragen, ob die heutigen, durch Kapitalverwertung dominierten Gesellschaften tatsächlich nur eine brutale Diktatur von Monopolen sind, ob in ihnen nicht doch Raum ist für jene zivilisatorischen Errungenschaften emanzipativer sozialer Bewegungen, auf die Diether Dehm selbst im gleichen Absatz Bezug nimmt: Tarifverträge, Sozialstandards, parlamentarische demokratische Rechte usw. Wie diese mit einer "brutalen Diktatur" koexistieren können, bleibt völlig unklar. Vielleicht ist ja die Wirksamkeit der Vorherrschaft der Kapitalverwertung gerade daran geknüpft, daß sie sich der sanften Mittel der demokratischen Legitimation, der Hegemonie in der Zivilgesellschaft, des Eigeninteresses der Mehrheit der Menschheit zu bedienen weiß.

Würde es sich um nicht anderes als um eine "brutale Diktatur" handeln, dann erhielte auch jede Form von Widerstand, die sich antikapitalistisch oder antiimperialistisch zu begründen sucht, Legitimität zugesprochen, eine Denkstruktur, die einige in der PDS und ihrem Umfeld dann auch dazu veranlaßte, den massenmörderischen Terroranschlägen auf das World-Trade-Center in New York mit Verweis auf die imperiale Herrschaft der USA eine bestimmte Berechtigung zuzusprechen, und sei es in Gestalt von "So was kommt von so was!". Umgekehrt wird zwangsläufig jeder Widerstand, der sich nicht gegen ›das System‹ in seiner Totalität richtet, sondern jene zivilisatorischen Errungenschaften, von denen die Rede war, bis zur Überwindung der Dominanz der Kapitalverwertung ausbauen will, moralisch denunziert. Gäbe es nichts, worauf man sich in dieser Gesellschaft positiv beziehen könnte, dann wäre jedes Handeln, was nichts als reiner Widerstand ist, offene oder geheuchelte Komplizenschaft.

Man muß aus den selbst gewählten Argumentationsformen nicht alle jene logischen Schlußfolgerungen ziehen, die die Argumentation offenkundig in Frage stellen würden (kaum ein Politiker redet sich derart um Kopf und Kragen), aber Kritikern sei gestattet, auf die sich anbietenden Schlüsse zumindest zu verweisen. Die Auseinandersetzung mit dem deutschen Nationalsozialismus hat mit aller Heftigkeit die Frage aufgeworfen, wann welche Formen des Widerstandes legitim sind, wann über den Tod des Führers und Tyrannen hinaus der Tod bloßer Mitläufer oder sogar Unschuldiger in Kauf genommen werden darf. Die Mindestbedingung sollte sein, daß erstens die Verhältnismäßigkeit gewahrt wird (mit der Entfesselung des Zweiten Weltkrieges und einer Politik der Vernichtung ganzer Völker veränderte sich ganz entschieden die Legitimation, gegen die deutsche Führungsclique und ihre Mitläufer und die deutsche Bevölkerung auch mit Mitteln des Terrors vorzugehen) und zweitens, wenn andere Mittel nicht zur Verfügung stehen. Die Unterdrückung aller politischen Freiheiten (insbesondere der Meinungsfreiheit) ist die Grundvoraussetzung - die conditio sine qua non - jedes Schrittes zu einem bewaffneten Widerstand. Denn dieser ist immer eine Verletzung des Rechts auf Leben und er birgt zudem die Gefahr, daß er aus einem bloßen Mittel zum Selbstzweck wird, daß aus dem Terrorismus ein terroristisches Regime erwächst. Damit ist auch eine dritte Bedingung genannt. Der Widerstand selbst legitimiert nicht die zukünftige Herrschaft derer, die Widerstand leisteten.

Die heutigen Gesellschaften, geprägt durch die globale Dominanz des Kapitalismus, sind aber nun genau nicht durch jene Alternativlosigkeit gekennzeichnet, die jede Art des Widerstandes legitimieren würde. Gerade auch die Demonstrationen von Seattle, Prag oder Genua zeigen, daß es wirkungsvollen Raum gibt, Raum, um emanzipative Ziele auch mit emanzipativen Mitteln anzustreben. Es zeugt von einer intellektuellen Verantwortungslosigkeit, wenn durch eine undifferenzierte Darstellung der realen Verhältnisse ein undifferenziertes Verhältnis zum Widerstand befördert wird. Der Verweis auf 40 Millionen Menschen, die jedes Jahr in der Welt an den Folgen von Hunger sterben, legitimiert jede friedliche Demonstration, jede Form zivilen Widerstandes, aber sie legitimiert keinen einzigen Mord.

Das Bemühen, die Oktoberrevolution und die daraus hervorgegangene Sowjetunion unter die Begriffe "emanzipativer Aufbruch" und "legitimer antikapitalistischer Versuch" zu subsumieren - unter diesen Stichwörtern ihr Wesen zu erfassen -, ist unterkomplex und gleichfalls undifferenziert. Nun ist nicht jede Differenz wesentlich, aber nichts Wesentliches ist undifferenziert. Worin besteht das Wesen der Oktoberrevolution? Reduziert es sich auf den Versuch eines emanzipativen Aufbruchs oder worin besteht die Spezifik dieser Revolution?

Im Unterschied zu vielen anderen sozialistischen Bewegungen jener Zeit waren die Bolschewiki überzeugt, daß Sozialismus zumindest in Rußland unmöglich sei ohne die Mittel einer politischen Diktatur. Dies wurde in dem Augenblick deutlich, als sie im Januar 1918 die frei gewählte konstituierende Versammlung mit Gewalt auflösten und gleichzeitig unwiderruflich die Macht der Sowjets in die Macht einer Parteiführung verwandelten, die sich spätestens ab 1922 auch keinen freien innerparteilichen Wahlen mehr stellte. Der Aufstand der Kronstädter Matrosen, die an der Losung der Sowjetmacht festhalten wollten, wurde militärisch niedergeschlagen. Da die zivilen Formen des politischen Wettbewerbs beseitigt wurden, blieb allen Gegnern einer kommunistischen Diktatur nur der Weg in den Bürgerkrieg (der auch deshalb erst nach Auflösung der Konstituierenden Versammlung ausbrach), blieben ihnen nach erfolglosem Widerstand nur Flucht, Unterordnung oder auch Lagerhaft und Tod.

Es ist völlig unverständlich, daß manche demokratische Sozialistinnen und Sozialisten nicht zu jenem Maß an Differenzierung fähig sind, das Rosa Luxemburg schon im Sommer 1918 in ihrer Schrift Zur russischen Revolution bewies. Erstens wird die Russische Revolution genau nicht auf die Machtergreifung der Bolschewiki im Oktober 1917 reduziert, sondern die Politik der Bolschewiki zur Durchsetzung einer Sowjetmacht als Teil einer größeren Revolution begriffen. Zweitens unterscheidet sie strikt zwischen dem "unsterbliche( n) geschichtliche(n) Verdienst (der Bolschewiki - M. B.), mit der Eroberung der politischen Gewalt und der praktischen Problemstellung der Verwirklichung des Sozialismus dem internationalen Proletariat vorangegangen zu sein" und jener Politik der Bolschewiki, die in eine Diktatur führte. "Der Grundfehler der Lenin-Trotzkischen Theorie ist eben der, daß sie die Diktatur, genau wie Kautsky, der Demokratie entgegenstellen. ›Diktatur oder Demokratie‹ heißt die Fragestellung sowohl bei den Bolschewiki wie bei Kautsky. Dieser entscheidet sich natürlich für die Demokratie, und zwar für die bürgerliche Demokratie, da er sie eben als die Alternative der sozialistischen Umwälzung hinstellt. Lenin-Trotzki entscheiden sich umgekehrt für die Diktatur im Gegensatz zur Demokratie und damit für die Diktatur einer Handvoll Personen, d. h. für bürgerliche Diktatur." 7 Für Rosa Luxemburg dagegen besteht die Diktatur des Proletariats "in der Art der Verwendung der Demokratie, nicht in ihrer Abschaffung, in energischen, entschlossenen Eingriffen in die wohlerworbenen Rechte und wirtschaftlichen Verhältnisse der bürgerlichen Gesellschaft, ohne welche sich die sozialistische Umwälzung nicht verwirklichen läßt" 8 .

Der Grundfehler der Bolschewiki ist die Kehrseite ihres spezifischen Verständnisses von Sozialismus. Sie sind der festen Überzeugung, daß der Weg zu einer befreiten Gesellschaft über eine politische Diktatur führt, verstanden als ein politisches Regime, das jede Form von Andersdenken und Andershandeln unterdrückt, notfalls auch blutig. Wer also undifferenziert vom "emanzipativen Aufbruch der Oktoberrevolution" spricht, verschweigt dabei die Spezifik der ›Großen Sozialistischen Oktoberrevolution‹, die darin bestand, daß sie die Befreiung vom Kapitalismus durch gleichzeitige Vernichtung der wichtigsten politischen Bedingungen jeder politischen Emanzipation vollzog und folglich auch neuen Formen ökonomischer Unterdrückung Vorschub leistete. Zu keiner Zeit vor Gorbatschow sind die Bolschewiki von diesem ihren Weg abgerückt. Und als sie es taten, wurden sie demokratisch abgewählt. Die PDS zog in der Stunde ihrer Gründung durch Umwandlung der bolschewistischen SED daraus den Schluß: "Wir brauchen einen vollständigen Bruch mit dem gescheiterten stalinistischen, das heißt administrativ-zentralistischen Sozialismus in unserem Lande." 9

Es mutet merkwürdig an, wenn Diether Dehm, der so undifferenziert von der brutalen Diktatur des transnationalen Monopolkapitals oder dem emanzipativen Aufbruch der Oktoberrevolution spricht, plötzlich die Sprache der Relativierung wählt, dann nämlich, wenn er einen Textbaustein für ein PDS-Programm formuliert. Dort heißt es unter anderem: "Der zentralstaatlichen, von Bürokraten gesteuerten Massenproduktion entsprach eine gewisse Entmündigung der Citoyens in politischer und kultureller Hinsicht." Wer über diese Brücke gehen will, sollte sie sich vorher genauer ansehen. Man erfährt, daß es in Ländern, wo jede öffentliche Kritik, die die Machtfrage der Gesellschaft berührte, über viele Jahrzehnte mit Gefängnisstrafe, Lager oder Ausweisung beantwortet wurde, wo es keine Möglichkeit zur autonomen politischen Vereinigung gab, wo Wahlen mit dem ›Auswählen‹ zwischen Alternativen nichts zu tun hatten, sondern bloße Akklamation waren, wo die Bürgerinnen und Bürger, wenn sie das Land auf Dauer verlassen wollten, erst eingesperrt und dann verkauft wurden, wo es keine öffentliche Freiheit der Andersdenkenden gab, der Citoyen in "gewisser Hinsicht" entmündigt gewesen sei.

Zartfühlender ist seit 1989 selten mit der Wirklichkeit des Staatssozialismus umgegangen worden. Richtiger wäre es gewesen zu sagen, daß es den Bürgerinnen und Bürgern der DDR und auch den Mitgliedern der SED strikt verboten war, sich staatsbürgerlich zu betätigen. Wer als Sozialistin oder Sozialist versucht hätte, in wirklicher Öffentlichkeit zwischen 1985 und 1989 einen Politikwechsel zu verlangen, damit die DDR nicht zugrunde geht, der wäre verfolgt worden. Noch im November 1989 konnte man dafür Morddrohungen erhalten. Die DDR und die Sowjetunion waren Länder ohne Staatsbürger. Und deshalb wurden sie auch nicht verteidigt, als sie in die Krise gerieten.

Aber der zitierte Satz stellt auch dadurch eine Verharmlosung dar, weil er die Entmündigung der Bürgerinnen und Bürger nicht etwa aus aktiver politischer Unterdrückung durch eine kommunistische Partei erklärt, wie sie mit dem bolschewistischen Weg zum Sozialismus in jedem Land verbunden gewesen war, sondern eher und fast unschuldig als Nebeneffekt einer bürokratisierten Massenproduktion daherkommen läßt. Die Sprache wird bewußt subjektlos gehalten, eine Erklärung im eigentlichen Sinne wird vermieden, um objektive Zwänge dafür zu bemühen, Zwänge, die sich selbstredend jeder Verantwortung entziehen. Keinesfalls zufällig ist dies ein Berührungspunkt mit der Sprache der Ideologen der Sachzwänge globalisierter Märkte.

Ich zumindest für meinen Teil muß sagen: Ich war dabei gewesen und habe aktiv an dieser Unterdrückung teilgenommen, da ich sie für legitim hielt. Und als ich mich dagegen auflehnte, war es zu spät. Ich will aus der Verantwortung nicht entlassen werden. Ich weigere mich heute entschieden, eine Diktatur dadurch zu erklären, daß, wie Diether Dehm schreibt, der realversuchte Sozialismus dort entstanden sei, wo "noch kein Kapitalismus ›die Lohnarbeit über die Grenzen ihrer Naturbedürftigkeit hinaus‹ (Marx) getrieben hatte und in denen auch die politische Emanzipation der Individuen noch unentwickelt war" 10 . Damit könnte man auch die Diktatur des Internationalen Währungsfonds und der Welthandelsorganisation sowie die ihrer undemokratischen Statthalterregime in vielen Ländern der Welt ›erklären‹. Noch einmal Rosa Luxemburg, die gegen Trotzkis Auslassungen über die Notwendigkeit einer Diktatur einwendet: "Gerade die riesigen Aufgaben, an die die Bolschewiki mit Mut und Entschlossenheit herantraten, erforderten die intensivste politische Schulung der Massen und Sammlung der Erfahrung." 11 Dies aber verlange die "uneingeschränkte breiteste politische Demokratie, öffentliche Meinung" 12 . Sozialismus aufzubauen durch Zerstörung von Demokratie, für die es ja in Rußland vor und vor allem nach der Februarrevolution sowie auch in der Sowjetischen Besatzungszone zwischen 1945 und 1948 wichtige Bedingungen gab, heißt genau, ihn nicht aufzubauen. Ich empfehle auch deshalb niemandem, die von Diether Dehm bezogen auf die Frage des programmatischen Verhältnisses der PDS zur DDR und Sowjetunion gebaute Brücke zu betreten, weil sie den Bau neuer Mauern zumindest in Entwicklungsländern prospektiv legitimiert.

Der schon auszugsweise zitierte Textbaustein für das Programm endet nach Verweis auf soziale Leistungen im Staatssozialismus mit den Sätzen: "Dies ermöglichte auf bescheidener materieller Basis eine individuelle Lebensgestaltung und praktische Solidarität mit all jenen, die nicht arbeiten können - wie Kinder, Rentner und Kranke. Die rigorose Abschottung durch ein brutales Grenzregime erschien als politischer Preis." 13 Wiederum wählt Diether Dehm eine Sprache, die die Subjekte menschlichen Handelns verbirgt. Denn wem erschien denn die Abschottung als Preis? Wurden denn die Bürgerinnen und Bürger der DDR befragt vor dem 13. August 1961? Befragt wurde die Führung der SED und entschieden wurde der Bau der Mauer in Moskau. Und denen die befragt wurden und jenen, die entschieden haben, ging es vielleicht auch um bescheidenen Wohlstand und praktische Solidarität, aber sie gingen auf jeden Fall davon aus, daß der Staatssozialismus in der DDR und die sowjetische Vormacht im östlichen Mitteleuropa ohne eine "rigorose Abschottung durch ein brutales Grenzregime" nicht mehr möglich schienen. So realistisch diese Einschätzung war, sie sagt sehr viel über die Gesellschaft aus, die eines solchen Grenzregimes bedurfte.

Ich habe noch von keinem Land in Ostmitteleuropa oder Osteuropa gehört, das nach 1989 auf der Basis einer demokratischen Entscheidung zu dem Schluß gekommen sei, es müsse seinen Wohlstand durch Mauern verteidigen, die die Freiheit der Ausreise beeinträchtigen würden. Schutzzölle, Einschränkungen für die Bürgerinnen und Bürger anderer Länder, sich niederzulassen und Immobilien zu erwerben, sind verbreitet, und viele wollen dies auch durch Übergangsfristen beim Beitritt zur Europäischen Union noch bewahren, aber niemand will seinen eigenen Mitbürgerinnen und Mitbürgern die Ausreise verwehren. Die Verkopplung mit der Weltgesellschaft mag auf sehr unterschiedliche Weise geregelt sein, das Recht auf Verbot der Ausreise kann von einem demokratisch-sozialistischen Standpunkt in keinem Falle akzeptiert werden. Es wäre (und war auch historisch) das Ende vom Ende jeder demokratischen Selbstbestimmung. Und dies ist nicht zufällig so.

Das Verbot auf freie Ausreise aus dem Land, dessen Staatsbürgerin oder Staatsbürger man ist, gehört mit gutem Grund zu den Grundrechten, die auch durch die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen von 1948 geschützt sind. 14 Gemeinsam mit dem Recht auf Asyl soll es Menschen weltweit aus der Abhängigkeit von jenem Staat, in den man hineingeboren wurde und durch Beitritt hinein geriet, befreien. Ohne das Recht auf das Verlassen des eigenen Landes verbliebe der oder die einzelne in der Leibeigenschaft des Staates, wäre dem eigenen Staat auf Gedeih und Verderb ausgeliefert. Dies gilt vor allem dann, wenn man seine Stimme nicht erheben kann, um die Verhältnisse im eigenen Land zu verändern, wenn man befürchten muß, dafür politisch verfolgt zu werden. 15

Das auf den ersten Blick so sekundäre Recht auf freie Ausreise ist in Wirklichkeit eine fundamentale Bedingung jedes Staatswesens, das Herrschaft (und jeder Staat ist Herrschaft) durch Berufung auf Menschenrechte zu verwirklichen sucht. Dazu gehört nämlich, daß jeder und jede dieser Herrschaft im Prinzip frei zugestimmt hat. Selbst ein politisches Gemeinwesen, das durch die vollständige Zustimmung aller seiner Mitglieder zu den grundlegenden Regeln, nach denen verbindliche Entscheidungen getroffen werden, zu einem bestimmten Zeitpunkt gegründet wurde, kann in der Abfolge der Generationen zu vollständiger Tyrannei werden. Nur dann, wenn die Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger, obwohl sie die Freiheit dazu haben, den Staat nicht verlassen, nehmen sie ihn im Vergleich zu jenen wirtschaftlichen und sozialen Bürden, die mit einer Auswanderung zwangsläufig verbunden sind, zumindest als das kleinere Übel hin. 16 Freizügigkeit verbürgt nicht mehr und nicht weniger als die relative Freiheit, sich einer staatlichen Unterordnung zu unterwerfen oder - oft unter großen Mühen - sich ihr zu entziehen. Kehrseite dieser Freiheit ist die schon genannte Pflicht anderer Staaten, Flüchtlinge unter bestimmten Bedingungen bei sich aufzunehmen.

Rechtsphilosophisch formuliert Manfred Riedel diesen Tatbestand so: "Das Menschenrecht wird zuletzt freilich nicht durch Gesetzestexte, sondern durch die Tat interpretiert. Paradigma einer Tatinterpretation ist das Auswanderungsrecht. Der Staat verdient erst den Namen ›freier Rechtsstaat‹, wenn er es verfassungsmäßig garantiert. Indem er seinen Bürgern die Möglichkeit der Freilassung einräumt, verzichtet der Staat auf zeitlich unbegrenzte, und das heißt: auf politisch absolute Herrschaft. Das Recht auf Auswanderung entläßt den Bürger nicht in Herrschaftsfreiheit, sondern läßt ihn Herrschaft frei wählen." 17 Die harten sozialen Grenzen dieser Freiheit machen sie nicht wertlos.

Ein letzter Grund sei geltend gemacht, der es meines Erachtens wenig sinnvoll macht, die Dehmsche Brücke zu einem neuen programmatischen Verständnis des Staatssozialismus zu überqueren: sein Verhältnis zur Wettbewerbsfähigkeit des sozialistischen Systems. Noch einmal sei ausführlich zitiert: "Die ökonomische Unterlegenheit der Sowjetunion gegenüber den USA - oder der DDR gegenüber der BRD - wären durch mehr Demokratie allenfalls partiell ausgeglichen und damit aushaltbarer geworden. Insofern war der von Ulbricht geprägte Slogan ›überholen ohne einzuholen‹ nicht das Dümmste aus den Führungskommuniques des sozialistischen Lagers. Dahinter verbirgt sich nämlich die (mutige) Einsicht, daß der ›Systemwettbewerb‹ gemessen an technologischen Parametern gar nicht zu gewinnen war. Die solidarischeren Gesellschaften hätten durch mehr Demokratie, ein besseres Gesundheitssystem - und vor allem durch einen ganz anderen Glücksentwurf - verteidigt und weiter entwickelt werden können." 18

Diese Argumentation ist erstens historisch falsch, so weit sie sich auf Ulbricht bezieht. Seine Konzeption war es, die Vorteile des Rückstandes auszunutzen und sofort die modernsten internationalen Technologien anzuwenden, so, wie es die Bundesrepublik nach 1945 tun konnte. Es war ein primär technokratisches Konzept, das auch die Unvermeidlichkeit wirtschaftlicher Reformen einschloß und auf den Sieg auf dem Gebiet der Arbeitsproduktivität setzte, da, so die einhellige Meinung dieser Zeit, nur dadurch die DDR dauerhaft stabilisiert werden könne. Der Einkauf moderner Technologien im Westen und ein volkswirtschaftlich nicht bilanziertes Programm der Einführung von Automationstechnik gehörten dazu.

Das Verständnis der realen Akteure von diesem Konzept zeigte sich schon in der Kritik durch die eigene Hegemonialmacht. In einem Gespräch SED-Führung mit Leonid Breshnew nach dem Sturz Ulbrichts äußerte ersterer: "Da gibt es eine Frage. Die Sache mit dem Überholen ohne Einzuholen. Einzuholen ist schon falsch. Sie ist nicht richtig. Diese Losung hat Chrustschow 1964 plötzlich, ohne Abstimmung, mit uns anläßlich der Eröffnung einer Ausstellung verkündet. Sie ist falsch. Wir sollen dadurch zugeben, daß wir rückständig sind in bezug auf die USA. Das ist doch nicht so, das sind wir doch nicht. Wir können uns nicht mit den USA auf eine Stufe stellen. Die USA hatten keine Folgen des Krieges im eigenen Land. Im Gegenteil. Ihre Teilnahme an Kriegen machten sie reicher. Sie hat Raubzüge durchgeführt. Sollen wir etwa auch Raubzüge durchführen? Wir sind doch ein sozialistisches Land. Dort in den USA gibt es zu Millionen Diebe und Räuber. Die herrschenden Kreise der kapitalistischen Länder sind es auch. Sie leben auf Kosten des Schweißes und des Blutes ihrer und anderer Völker. Also die Losung vom Überholen ist falsch. Unsere Gesellschaftsordnung ist von einem anderen, von einem höheren Typ. Bei uns werden die Prinzipien des Humanismus verwirklicht. Arbeitsplatz, Bildung für alle, soziale Sicherheit etc. In den USA leben Neger auf den Straßen, unter Brücken sind sie Freiwild, werden ermordet. Wir bauen bei uns Unis für sie. Bei uns studieren Neger. Was sollen wir da überholen? Wir sollten doch nicht unsere Rückständigkeit popularisieren, die es doch gar nicht gibt. Gewiß, wir müssen schneller unsere Produktivkräfte entwickeln. Dafür haben wir, haben die sozialistischen Länder doch alle Voraussetzungen. Das ist meine, unsere Meinung dazu." 19

Das Argument Dehms ist aber keineswegs nur historisch nicht korrekt, sondern es hat zweitens eine Reihe von Implikationen, die genau geprüft werden müßten. Zunächst muß man sich darüber verständigen, was unter ökonomischer Unterlegenheit zu verstehen ist - eine quantitative oder eine qualitative Unterlegenheit. Die Unterlegenheit der Sowjetunion gegenüber den USA war in den achtziger Jahren zu einem qualitativen technologisch-ökonomischen Rückstand geworden. Die Sowjetunion war nicht mehr in der Lage, die gleichen technologischen Produkte zu einem gesellschaftlich vertretbaren Preis zu erzeugen. Ursache war eine grundsätzliche Unterlegenheit, Erfindungen (Inventionen) in Innovationen zu verwandeln. Es kam zu einer technologischen Kluft, die sogar das Gebiet der Rüstung erfaßte. Diether Dehms Argument muß sich also auf eine qualitative technologisch-ökonomische Unterlegenheit alternativer solidarischer Gesellschaften beziehen und nicht etwa auf einen quantitativen ökonomischen Rückstand, der durch soziale, kulturelle oder politische Vorzüge hätte ausgeglichen werden können.

Wie aber sollen alternative Gesellschaften, die sich in einem qualitativen Rückstand befinden, im Unterschied zur Sowjetunion stabilisiert werden? Sollte man wirklich annehmen, daß sich ganze Völker freiwillig und demokratisch aus der Entwicklung der produktiven Fähigkeiten, die immer doch auch technologische Fähigkeiten sind, ausschließen? Kann man sich vorstellen, daß große Gesellschaften auf die Entwicklung solcher Produktivkräfte wie des Internets verzichten wollen und einen "ganz anderen Glücksentwurf" suchen? Dies hieße vor allem anzunehmen, daß Produktivkräfte (als historische Typen, nicht als einzelne Techniken) nicht immer auch und gerade Kräfte der produktiven Entwicklung der Individuen sind beziehungsweise sein können. Und selbst, wenn ein derartiger Mehrheitsbeschluß herbeigeführt würde, müßte er dann gegen relevante Minderheiten gewaltsam durchgesetzt werden. Und wenn aus kleinen Minderheiten sich Mehrheiten bilden, dann würde eine Mauer gebraucht, damit sie sich diesem "Glücksentwurf" nicht entziehen können. Welchen Grund sollten Sozialistinnen und Sozialisten dieses Mal dafür angeben können? Wäre dies dann noch ein emanzipatives Projekt, das die freie Entwicklung einer und eines jeden zur Bedingung der freien Entwicklung aller machen will?

Der in der Programmdiskussion der PDS immer wieder zu hörende Standpunkt, der Kapitalismus sei als technologischer-ökonomischer Innovationsmechanismus unschlagbar, zieht die Frage nach sich, ob demokratische Sozialisten und Sozialistinnen eine Gesellschaft gestalten wollen, die weniger innovativ ist, in geringerem Maße zur Entwicklung der Produktivkräfte der Individuen und der Gesellschaft fähig. Glaubt man wirklich, dies sei der Mehrheit der Bevölkerung demokratisch zu vermitteln? Dies wäre keine Strategie der Aufhebung des Kapitalismus, sondern des Rückfalls hinter ihn. Wie soll man Mehrheiten gewinnen und mitnehmen, wenn man ihnen die Möglichkeiten produktiver Entfaltung nimmt. Eine solche sozialistische Politik wäre wiederum kein Schritt der Emanzipation, sondern ein zurück zu neuer vorkapitalistischer Borniertheit. So sehr eine andere soziale Ausrichtung innovativer Dynamik geboten ist, so sehr dies gerade den Rückgang des stofflichen Verbrauchs in den hochentwickelten Ländern ermöglichen soll, so sehr kann gleichzeitig nicht hinter das qualitative Niveau von Produktivkraftentwicklung und Ressourceneffizienz zurückgegangen werden. 20

Vom Standpunkt eines emanzipativen demokratischen Sozialismus gibt es keinen Grund, historisch höhere Gesellschaften nicht mit einer qualitativ höheren Entwicklung der produktiven Kräfte zu verbinden. Dies setzt bezogen auf den technologisch-ökonomischen Bereich, der zweifelsohne nicht alles ist, zumindest voraus, daß keine qualitative Unterlegenheit eintritt. Ansonsten bewahrheitet sich Marxens Prognose noch einmal. "Die Bourgeoisie reißt durch die rasche Verbesserung aller Produktionsinstrumente, durch die unendlich erleichterten Kommunikationen alle, auch die barbarischsten Nationen in die Zivilisation. Die wohlfeilen Preise ihrer Waren sind die schwere Artillerie, mit der sie alle chinesischen Mauern in den Grund schießt, mit der sie den hartnäckigsten Fremdenhaß der Barbaren zur Kapitulation zwingt. Sie zwingt alle Nationen, die Produktionsweise der Bourgeoisie sich anzueignen, wenn sie nicht zugrunde gehn wollen..." 21 Dies geschah 1989 und wird immer wieder geschehen, solange nicht Produktionsverhältnisse geschaffen wurden, die den Menschen eine überlegenere Form der Entwicklung ihrer produktiven Kräfte und Befriedigung von Bedürfnissen und Genüssen ermöglicht.

Man sollte die Brücken in Ruhe prüfen, die da gebaut werden, um Mauern zu überschreiten. Zumindest eine jener Brücken, die Diether Dehm in der programmatischen Diskussion der PDS entwickelt hat, scheint mir für demokratische Sozialistinnen und Sozialisten nicht begehbar. Es werden Denkmuster eines manichäischen ideologischen Diskurses gepflegt. Es wird der Grundfehler der Bolschewiki, ihr Weg in die Diktatur und damit ihre Preisgabe und Unterdrückung eines emanzipativen sozialistischen Aufbruchs an zentraler Stelle verschwiegen. Es wird eine Vision von Sozialismus entworfen, die auf die einzig lebensfähige Grundlage einer gegenüber dem Kapitalismus technologisch-ökonomisch qualitativ zumindest gleichwertigen und auf dieser Basis sozial und human überlegenen Entwicklung der produktiven Kräfte der Individuen verzichtet. Eine solche Brücke ist weder emanzipativ noch demokratisch und deshalb auch nicht sozialistisch. Gerne will ich auch über sieben Brücken gehen, wenn sie uns zu mehr Demokratie und mehr Sozialismus im Programm der PDS führen. Dazu gehört auch mindestens eine der Brücken, die Diether Dehm der PDS baut - die zur Dialektik von Regieren aus der Opposition heraus und zum Opponieren aus der Regierung. Aber nicht noch einmal überquere ich auch nur eine einzige Brücke, die uns zurück in die Fallen von Diktatur und Unterdrückung lockt.

Michael Brie - Jg. 1954; Prof. Dr., Philosoph, Mitglied des geschäftsführenden Vorstands der Rosa-Luxemburg-Stiftung und Mitautor des von der PDS-Vorsitzenden Gabi Zimmer vorgelegten Entwurfs zu einem neuen Parteiprogramm.

1 Vgl. zur spezifischen Rationalität von Entscheidungsprozessen die erhellenden Analysen von March, James G. (1989): Decisions and Organizations, Oxford.

2 Der ›Manichäismus‹ geht auf den Perser Mani (lat. Manichaeus, 216-276) zurück und basiert auf der These, daß die Welt durch den Kampf der absolut entgegengesetzten Kräfte des Lichtes und der Finsternis, von Geist und Materie, des guten und des bösen Prinzips bestimmt sei.

3 Wie Peter V. Zima schreibt: "Nur so kann es ihr (der Ideologie) gelingen, Individuen und Gruppen als Subjekte im Rahmen bestimmter diskursiver Schemata zu mobilisieren und die Erkenntnisansprüche konkurrierender Ideologien auszuschalten" (Zima, Peter V. (1989): Ideologie und Theorie. Eine Diskurskritik. Tübingen, S. 265).

4 Wie weit es überhaupt sinnvoll ist, Mauern zu "überbrücken", sei dahingestellt. Wer Mauern baut, braucht sie erfahrungsgemäß als Schutz vor äußeren Feinden, zur Verhinderung der Flucht Eingesperrter oder/und um Zugang und Weggang von Fremden und Eigenen mitsamt ihren Gütern zu kontrollieren. Wenn eine Mauer weder in der ersten, zweiten oder dritten Bedeutung gebraucht wird, sollte man sie abreißen.

5 Dehm, Diether (2001): Drei Brücken über programmatische Mauern, in: UTOPIE kreativ, Nr. 132 (Oktober), S. 879.

6 Der interessierte Leser sei auf die Einführung in die strukturale Semantik, in die Methoden der Analyse von Bedeutungsstrukturen von Texten verwiesen, wie sie vorgelegt wurden durch : Greimas, Algirdas-Julien (1971): Strukturale Semantik, Braunschweig. Auch Bourdieu geht auf die Bedeutung von Sprachpolitik ein: Bourdieu, Pierre (1990): Was heißt sprechen? Die Ökonomie des sprachlichen Tausches, Wien.

7 Luxemburg, Rosa (1974): Zur russischen Revolution, in: Werke, Bd. 4, S.362.

8 Ebenda, S. 363.

9 Gysi, Gregor: Zur Formierung einer modernen Partei des demokratischen Sozialismus, in: Hornbogen, L., Nakath, D., Stephan G.-R. (1999): Außerordentlicher Parteitag der SED/PDS. Protokoll der Beratungen am 8./9. und 16./17. Dezember 1989 in Berlin, Berlin, S. 51.

10 Dehm, Diether (2001): Drei Brücken..., a. a. O., S. 880.

11 Luxemburg, Rosa (1974): Zur russischen Revolution, a. a. O., S. 359.

12 Ebenda, S. 362.

13 Dehm, Diether (2001): Drei Brücken..., a. a. O., S. 880.

14 Dort heißt es in Art. 13.2.: "Jeder Mensch hat das Recht, jedes Land, einschließlich seines eigenen, zu verlassen sowie in sein Land zurückzukehren" (Vereinte Nationen: Allgemeine Erklärung der Menschenrechte vom 10. Dezember 1948, in: Klenner, (1982): Marxismus und Menschenrechte. Studien zur Rechtsphilosophie, Berlin, S. 412.

15 Vgl. dazu Hirschman, Albert O. (1992): Abwanderung, Widerspruch und das Schicksal der Deutschen Demokratischen Republik, in: Leviathan, 20. Jg., H. 3, S. 330-356.

16 Der Augsburger Religionsfrieden von 1555, der die landesherrliche Kirchenhoheit durchsetzte und den Untertanen zumutete, die Religion ihrer Herren anzunehmen (Cuius regio, eius religio), erlaubte immerhin den Untertanen, nach Verkauf ihres Besitzes auszuwandern, wenn sie bei ihrer vom Landesherren abweichenden Deutung des Christentums bleiben wollten.

17 Riedel, Wolfgang (1980): Freiheit und Verantwortung. Zwei Grundbegriffe der kommunikativen Ethik, in: Apel, K.-O., Böhler, D., Berlich, A., Plumpe, G. (Hrsg.): Praktische Philosophie, Bd. 1. Frankfurt/M., S. 111.

18 Dehm, Diether (2001): Drei Brücken..., a. a. O., S. 879.

19 Vermerk der SED-Führung über Gespräche mit Leonid Breschnew in Moskau vom 20. August 1970, in: Przybylski, Peter (1992): Tatort Politbüro, Bd. 2, Berlin, S. 344 f.

20 Damit wird keinesfalls einem Technologismus das Wort geredet, der jede technische Neuerung an sich positiv sieht und davon ausgeht, daß jede nur mögliche technologische Entwicklung auch real vollzogen werden muß. Die demokratische politische Selektion der zu fördernden und auch der zu verhindernden Technologien (gegenwärtig intensiv am Beispiel der Gen- und Biotechnologien diskutiert) ist ein Grundanliegen jeder sozialistischen Politik. Eine solche Selektion setzt aber die Fähigkeit zur innovativen Entwicklung voraus und ersetzt sie nicht.

21 Marx, Karl, Friedrich Engels: Manifest der Kommunistischen Partei, in: MEW, Bd. 4, S. 466.