Modernisierung durch Investitions und Beschäftigungsoffensive - Alternativen der Wirtschaftspolitik
Jahrhundertreformen
Die Lage: Absehbares Ende der bescheidenen Besserung
1. Schwache Erfolge auf brüchiger Grundlage: Die Beschäftigung
2. Wende ohne Widerstand: Die konjunkturelle Entwicklung
Die Politik: Mißverstandene Modernisierung
3. Geschenke an die Finanzkonzerne I: Die Rentenreform
4. Geschenke an die Finanzkonzerne II: Die Steuerreform
5. Konkurrenz statt Solidarität? Zur Neuordnung des Finanzausgleichs
6. "Aktivierender Sozialstaat" statt Beschäftigungspolitik: Die Stagnation der EU
Die Alternativen: Beschäftigungspolitik in einem starken Sozialstaat
7. Alte Grundlagen, neue Inhalte: Vollbeschäftigung als strategische Hauptaufgabe
8. Das Beschäftigungsprogramm und seine Finanzierung: Eine Erinnerung
9. Arbeitszeitverkürzung: Beginn mit dem Abbau von Überstunden
10. Neuer Schub für Beschäftigung, Versorgung und ökologischen Umbau:
das öffentliche Investitionsprogramm
Frieden, Demokratie und sozialer Ausgleich in Europa: Perspektiven der Osterweiterung
Jahrhundertreformen
Die beiden Jahre seit dem Regierungswechsel waren Zeiten großer Reformen von "historischer" Bedeutung. Nach dem Einstieg in die "Energiewende" und nach dem "umfassendsten Sparpaket" im Jahre 1999 verabschiedete die Bundesregierung im vergangenen Jahr das "größte Steuersenkungsprogramm in der Geschichte der Bundesrepublik" und setzte vor wenigen Wochen die "Jahrhundertreform der Alterssicherung" gegen erheblichen politischen Widerstand durch. Für dieses Jahr stehen ferner die grundsätzliche Neuordnung des Länderfinanzausgleichs und die Reform der betrieblichen Mitbestimmung auf der Tagesordnung. Diese Reformpolitik war eingebettet in eine günstige konjunkturelle Entwicklung und begleitet von steigender Beschäftigung und sinkender Arbeitslosigkeit. Die Zeiten der Wachstumsschwäche, der anhaltenden Massenarbeitslosigkeit und des gesellschaftlichen Reformstaus scheinen hinter uns, die der dynamischen, beweglichen, wissensbasierten und reformfreudigen neuen Wirtschaft vor uns zu liegen, die uns - gewissermaßen als willkommener Nebeneffekt - wieder Vollbeschäftigung bescheren soll.
Genaueres Hinsehen führt jedoch zu einer wesentlich kritischeren Bewertung der gepriesenen Jahrhundertreformen. Die "Energiewende" hat den Ausstieg aus der Atomenergie weder konkret begonnen noch für die absehbare Zeit unumkehrbar gemacht. Die "Haushaltskonsolidierung" besteht vor allem aus umfangreichem Sozialabbau, der die nachfolgenden steuerlichen Entlastungen für die unteren Einkommensgruppen weitgehend zunichte macht. Die Steuerreform bringt daher trotz der Entlastungen der Masseneinkommen durch die Senkung des Lohnsteuertarifs im Ergebnis vor allem Geschenke für die Reichen und die Großunternehmen, und setzt somit die Politik der Umverteilung von unten nach oben fort. Die Rentenreform schließlich hat zu der bislang massivsten Beschädigung des bisher weitgehend paritätisch finanzierten Systems der sozialen Sicherung in Deutschland geführt. Die steigende Zahl der Beschäftigten ging zu erheblichen Teilen mit Lohnsenkungen und Verschlechterungen der Arbeitsbedingungen einher, und die anvisierte Vollbeschäftigung orientiert sich ausschließlich an der Zahl der Beschäftigten, nicht an der sozialen Qualität von Arbeitsplätzen. Die Bundesregierung hat die gute Konjunktur nicht zu einer energischen Beschäftigungspolitik genutzt, sich sogar im europäischen Rahmen einer solchen Politik widersetzt. Wenn das Wachstum jetzt - wie es bereits absehbar ist - wieder sinkt, wird die Zahl der Arbeitslosen erneut steigen, da in der Vergangenheit substantiell beschäftigungsfördernde Maßnahmen weder auf nationaler noch auf europäischer Ebene eingeleitet wurden.
Dieser Kritik ist die Bundesregierung jedoch nicht zugänglich. Ihr geht es im Kern um etwas anderes. Die Grundlage für ihre reformpolitische Aktivität und beschäftigungspolitische Inaktivität ist ihr geradezu missionarisches Verständnis von gesellschaftlicher "Modernisierung" als Staatsaufgabe. Der Regierungsblick auf die Gesellschaft sieht Verkrustungen, Reformstaus, regulative Entwicklungsbarrieren und gesellschaftliche Dinosaurier, soweit das Auge reicht. Aus dieser Sicht stagniert die Beschäftigung, weil die Arbeitslosen durch zu hohe soziale Unterstützung zu unflexibel geworden sind, Arbeit auch unter schlechten Bedingungen anzunehmen. Zu hohe Gewinnsteuern verleiden den Unternehmen das Investieren. Die paritätische Finanzierung einer lebensstandardsichernden gesetzlichen Rente schließlich zwängt die Unternehmen in ein lähmendes Korsett gesellschaftlicher Solidarität, hält die Beitragszahler von der Dynamik der Finanzmärkte fern und verschließt den Finanzkonzernen lukrative Geschäftsfelder. "Zukunftsfähig" ist eine Gesellschaft im Zeitalter der Globalisierung und der schärferen internationalen Konkurrenz dieser Logik nach nur, wenn sie diese "Entwicklungsblockaden" überwindet und "Reformstaus" auflöst. Diese Auffassung hat sich die rot-grüne Regierung offensichtlich zu eigen gemacht.
Im folgenden unterziehen wir dieses Verständnis von Modernisierung und die sich daraus ergebende Politik der Kritik und unterbreiten Vorschläge für eine andere Politik. Dies ist umso mehr erforderlich, als auch die beschäftigungspolitischen "Erfolge" der letzten beiden Jahre in das modernisierungspolitische Muster der Regierung fallen und von zweifelhafter Qualität sind.
Die Lage: Absehbares Ende der
bescheidenen Besserung
1. Schwache Erfolge auf brüchiger Grundlage: Die Beschäftigung
Auch für das vergangene Jahr 2000 verkündet die Bundesregierung beschäftigungspolitische Erfolge, die sogar stärker ausgefallen seien als im Jahr davor. Die Zahl der Erwerbstätigen ist im Jahresdurchschnitt um 600.000 gestiegen (1999: +400.000), und die Zahl der Arbeits-losen hat um 210.000 abgenommen (1999: -180.000). Die Quote der registrierten Arbeits-losen liegt im Jahresdurchschnitt mit 10,7% um anderthalb Prozentpunkte unter der von 1998 (12,3%).
Diese Meldungen müssen zwar durch den Hinweis relativiert werden, daß die Zahl der Erwerbstätigen und die der abhängig Beschäftigten im Jahren 2000 immer noch knapp unter der von 1991 geblieben sind, die Arbeitslosenquote um mehr als ein Drittel höher liegt und am Ende des vergangenen Jahrzehntes gut eineinhalb Millionen mehr Arbeitsplätze fehlen als an seinem Beginn. Es sollte auch nicht übersehen werden - dies ist von der EU-Kommission kritisch angemerkt worden -, daß in keinem Land in der EU während des Aufschwungs so wenig neue Arbeitsplätze geschaffen wurden wie in Deutschland. Hat sich dennoch seit 1997 allmählich eine Kehrtwende bei der Beschäftigung durchgesetzt?
Es wäre sicher erfreulich, wenn dieser propagandistisch verfestigte Eindruck einer genaueren Prüfung standhielte und eine wirklich solide Verbesserung der Beschäftigungslage in Deutschland zu beobachten wäre. Davon kann aus drei Gründen jedoch keine Rede sein:
Erstens findet in den neuen Bundesländern nicht nur keine Verbesserung auf den Arbeitsmärkten statt, sondern die Verschlechterung setzt sich fort. Während die Arbeitslosenquote in Ostdeutschland im Jahre 1991 mit 10,3% um rund zwei Drittel höher lag als die westdeutsche (6,3%), beträgt sie mittlerweile mit 18,8% mehr als das Doppelte der alten Bundesländer (8,7%). Auch die Zunahme der gesamtdeutschen Beschäftigung konzentrierte sich im vergangenen Jahr ausschließlich auf Westdeutschland. Im Osten dagegen ging die Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten im Juni 2000 um 125.000 Personen oder 2,5% gegenüber dem Vorjahresmonat weiter zurück. Auf die neuen Bundesländer mit 18,5% der gesamtdeutschen Bevölkerung entfällt mit 34% ein fast doppelt so hoher Prozentsatz der gesamtdeutschen Beschäftigungslücke.
Zweitens konzentrierte sich der Anstieg der Beschäftigung im vergangenen Jahr vor allem auf die Zunahme von Teilzeitarbeit und prekärer Beschäftigung. Dies geht daraus hervor, daß das Arbeitsvolumen, d.h. die Zahl der geleisteten Arbeitsstunden, mit 57,05 Mrd. gegenüber dem Vorjahr fast unverändert geblieben ist (+ 0,03%). Die Zunahme geringfügiger Beschäftigungsverhältnisse ist im wesentlichen gleichzusetzen mit der Zunahme prekärer, d.h. ungeschützter und schlecht bezahlter Arbeit und muß daher generell kritisiert werden. Demgegenüber könnte eine neue Verteilung von Arbeit durch die Ausdehnung von Teilzeitarbeit durchaus einen wesentlichen Beitrag zur Überwindung der Massenarbeitslosigkeit leisten. Voraussetzung hierfür ist allerdings, daß Teilzeitarbeit freiwillig gewählt wird, die soziale Sicherung im Alter, bei Krankheit und Arbeitslosigkeit nicht absenkt und in tarifvertraglich geschützten Arbeitsverhältnissen stattfindet. Wo jedoch, wie in Deutschland, die soziale Sicherung unzureichend ist, verliert die Teilzeitarbeit an Attraktivität und wird vielfach nicht freiwillig gewählt, sondern nur mangels Alternativen akzeptiert. Insgesamt ist also die Zunahme der Beschäftigung in den letzten beiden Jahren mit einer Verschlechterung der Qualität der Arbeitsverhältnisse einhergegangen. Dies wird von Seiten der Arbeitgeber und der Bundesregierung auch gar nicht in Abrede gestellt, sondern als sachnotwendig verteidigt: Mehr Beschäftigung lasse sich eben nur dann erreichen, wenn die Beschäftigten insgesamt ihre Ansprüche senken würden. Diese Behauptung haben wir seit Jahren als reine Unternehmensideologie kritisiert. Die in der Vergangenheit zu beobachtende Umverteilung der Einkommen zu Lasten der Löhne und zu Gunsten der Gewinne dokumentiert alles andere als eine "Anspruchsinflation" auf Seiten der ArbeitnehmerInnen oder eine "Kostenkrise" auf Seiten der Unternehmen.
Drittens ist der Anstieg der Beschäftigung ausgesprochen fragil und wird nicht dauerhaft sein. Er war nämlich von einem konjunkturellen Aufschwung getragen, dessen Fortsetzung nicht erwartet werden kann, und dessen Höhepunkt bereits im Laufe des vergangenen Jahres überschritten worden ist. Seine zyklische Umkehr wird sich im Laufe dieses Jahres fortsetzen und - wenn es nicht zu energischer wirtschaftspolitischer Gegensteuerung kommt - verstärken. Dann werden Absatzrückgang, Unternehmenszusammenbrüche, Rationalisierungen und Kostensenkungsprogramme zu neuen Entlassungswellen führen, wie sie jetzt schon in den USA angekündigt werden. Geschützte und gut bezahlte werden beschleunigt in prekäre Arbeitsverhältnisse verwandelt, und die Arbeitslosigkeit wird erneut steigen. Deutschland bliebe dann dem seit zwei Jahrzehnten vorherrschenden Treppenmuster bei der Entwicklung der Arbeitslosigkeit verhaftet -, sie sinkt im Aufschwung nicht oder nur wenig und steigt im Abschwung steil an - und der seit zwei Jahrzehnten aufwärts zeigender Trend bei der Arbeitslosigkeit wäre nicht gebrochen.
2. Wende ohne Widerstand:
Die konjunkturelle Entwicklung
Der Aufschwung der letzten beiden Jahre war wesentlich vom Boom in den USA vorangetrieben und getragen und hat auf Europa übergegriffen, während Japan davon nicht profitiert hat. In den USA ist das Bruttoinlandsprodukt (BIP) im vergangenen Jahr um 5,1% gewachsen, in der EU um 3,3% (Japan: 1,8%). In Deutschland war das Wachstum mit 3,1% geringer als in den anderen Ländern der EU mit Ausnahme Italiens (2,7%).
Grundlage des massiven Aufschwungs in den USA war im wesentlichen der private Verbrauch, der seinerseits durch den Boom auf den Finanzmärkten angeheizt und über eine äußerst niedrige Sparneigung und hohe Verschuldung der Haushalte sowie Kapitalimporte finanziert wird. Der private Konsum trägt knapp 70% zum amerikanischen BIP bei und expandierte im vergangenen Jahr erneut um 5,3%. Demgegenüber liegt der Anteil des privaten Verbrauchs am BIP in der EU bei knapp 60% und wuchs im vergangenen Jahr nur um 2,9%. Für Deutschland sind die Zahlen noch niedriger: Die private Verbrauchsquote liegt mit 57% etwas unter dem EU-Durchschnitt; die Zunahme des Verbrauchs war mit 1,9% niedriger als in allen anderen Ländern der EU. Maßgeblich hierfür waren die Tarifabschlüsse, die für das Jahr 2000 eine jahresbezogene Tarifanhebung der Löhne und Gehälter um lediglich nominal 2,4% durchsetzen konnten. Diese Erhöhung lag nur wenig über der Preissteigerungsrate und deutlich unter dem verteilungsneutralen Spielraum von 5%. Die hierdurch verursachte Bremswirkung für die gesamtwirtschaftliche Nachfrage wurde durch die Zunahme der Zahl der Beschäftigten nicht ausgeglichen, da die Zahl der Arbeitsstunden insgesamt nahezu unverändert blieb.
Im Unterschied zu den USA war der Aufschwung in Deutschland im wesentlichen vom Export getragen, der real um 12,9% stieg und rund ein Drittel zur gesamtwirtschaftlichen Nachfrage beitrug. Dabei darf allerdings nicht übersehen werden, daß hohen und steigenden Ausfuhren in der Regel auch hohe Einfuhren gegenüberstehen, die einen Abzug von der inländischen effektiven Nachfrage darstellen. Sie sind im Jahre 2000 preisbereinigt um 10% gestiegen. Der Außenbeitrag als Nettogröße, also der Außenhandelsüberschuß, schlug nur mit rund 0,5% des BIP positiv zu Buche.
Der weitere Verlauf der Konjunktur in Deutschland hängt im wesentlichen von der weltwirtschaftlichen Entwicklung und von der Wirtschaftspolitik in Deutschland und der EU ab. Da für die meisten Sektoren die Tarifverhandlungen des vergangenen Jahres bereits sehr niedrige Lohnsteigerungen für 2001 festgelegt haben, ist von dieser Seite nicht mit einer Stützung oder gar Belebung der Binnennachfrage zu rechnen.
Die weltwirtschaftliche Entwicklung deutet eindeutig auf das Ende des Booms und den Übergang zu schwächerem Wachstum oder gar zu einer Rezession hin. Sie ist in erster Linie durch die Abschwächung der Konjunktur in den USA und die weiterhin kritische Lage der japanischen Wirtschaft geprägt. Auch wenn heute nicht prognostiziert werden kann, ob es eine harte oder weiche Landung der amerikanischen Wirtschaft geben wird, steht doch fest, daß die Wachstumsraten drastisch abnehmen und damit auch die Importe der USA zurückgehen werden, die eine wesentliche Schubkraft für die Weltkonjunktur gewesen sind. Da die USA nach Frankreich der zweitwichtigste Exportmarkt für deutsche Unternehmen sind, werden diese von diesem Rückgang - sowie von Drittlandeffekten - erheblich betroffen sein. Die negativen Folgen würden dann verstärkt, wenn es zusätzlich noch zu einer spürbaren Abwertung des US-Dollars und einer entsprechenden Aufwertung des Euro kommt.
In der Wirtschaftspolitik gibt es weder in Deutschland noch in der EU Ansätze zu einer konjunkturpolitischen Gegensteuerung - obwohl sowohl die Bundesregierung als auch die Europäische Kommission die optimistischen Wachstumsprognosen für das laufende Jahr einer ersten Korrektur unterzogen haben (der wahrscheinlich weitere folgen werden). Auf beiden Ebenen steht vielmehr die Haushaltskonsolidierung durch Senkung der öffentlichen Ausgaben ganz oben auf der wirtschaftspolitischen Prioritätenliste, gefolgt von der "Modernisierung" der Systeme der sozialen Sicherung, die auf eine Auflösung des Prinzips der gesellschaftlichen Solidarität zugunsten eines stärkeren sozialen Konkurrenzdruckes hinauslaufen.
Die positiven gesamtwirtschaftlichen Wirkungen, die von der deutschen Steuerreform durch die Entlastungen der unteren Einkommen zustande kommen könnten, werden aus zwei Gründen kaum eintreten: Zum einen ist es wahrscheinlich, daß die Haushalte ihre im letzten Jahrzehnt drastisch - nämlich von 13,2% in 1991 auf 9,8% in 2000 - reduzierte Sparquote wieder aufstocken werden. Die Tendenz hierzu wird durch die Förderung der Altersvorsorge durch die Rentenreform unterstützt. Zum anderen werden die positiven Nachfragewirkungen der Steuerreform durch die negativen Wirkungen des Ende 1999 verabschiedeten Sparpakets mit einem über 5 Jahre verteilten Kürzungsvolumen von gut 180 Mrd. DM überkompensiert. Hinzu kommen die Belastungen durch die Ökosteuer vor allem für diejenigen, die von der Senkung der Rentenbeiträge in keiner Weise profitieren.
Auch auf EU-Ebene steht die notwendige konjunkturpolitische Gegensteuerung trotz der drohenden Rezession nicht auf der politischen Tagesordnung. Die Europäische Zentralbank (EZB) setzt - im Unterschied zur amerikanischen Federal Reserve Bank - ihre kontraproduktive Politik des knappen Geldes und des Kampfes gegen eine - trotz Ölpreissteigerung nicht erkennbare - Inflation in unbelehrbar dogmatischer Starrsinnigkeit fort. Die vom EU-Vertrag geforderte Koordinierung der Finanzpolitik findet in der Form verstärkten Drucks zur Haushaltskonsolidierung statt. Ansätze einer weniger rigiden Politik, wie sie etwa von Frankreich vorgeschlagen wurden, stoßen auf den harten Widerstand Deutschlands und Großbritanniens.
Deutsche Wirtschaftspolitik hat sich von der Perspektive makroökonomischer Verantwortung und gesamtwirtschaftlicher Steuerung mittlerweile weitestgehend verabschiedet. Ihr Interesse richtet sich vielmehr auf "grundsätzliche Strukturreformen", die gesamtwirtschaftlich belastend wirken. Durch sie soll die Fähigkeit und Bereitschaft erhöht werden, sich schnell an die wechselnden Anforderungen anzupassen, die in einer globalisierten Welt an die Gesellschaft, die Politik, die Unternehmen und die Menschen herangetragen und durch den disziplinierenden Druck der Märkte - in besonderer Weise der Finanzmärkte - durchgesetzt werden. Neben der rigorosen Sparpolitik hat sich die Bundesregierung vor allem auf folgende drei Kernprojekte konzentriert:
a. eine Rentenreform, die den Ausstieg aus der paritätischen Finanzierung und den Einstieg in die Kapitalmarktfinanzierung der Renten bedeutet und in erster Linie den Unternehmen und den Versicherungskonzernen nützt;
b. eine Steuerreform, die den Umbau von Unternehmensstrukturen zugunsten einer stärkeren Finanzmarktorientierung forciert und zu einer neuen Konzentrationswelle führen wird;
c. eine Neuordnung des Länderfinanzausgleichs, die den Übergang vom solidarischen Ausgleich der regionalen Finanzkraft zwischen den Bundesländern zum Wettbewerbsföderalismus einleitet.
Gemeinsam ist diesen Projekten die - von harten ökonomischen Interessen gestützte und vorangetriebene - Vorstellung von der universellen Überlegenheit des Marktes gegenüber einer demokratischen politischen Regulierung. Diese Überzeugung entbehrt jeder theoretischen Grundlage, und wo sie politisch umgesetzt wurde - z.B. in Neuseeland oder Großbritannien - lassen sich ihre sozial katastrophalen und ökonomisch schädlichen Folgen mittlerweile deutlich besichtigen.
Die Politik:
Mißverstandene Modernisierung
3. Geschenke an die Finanzkonzerne I:
Die Rentenreform
Die Rentenreform der Bundesregierung ist im Januar vom Bundestag verabschiedet worden. Wir haben hierzu im September ein Sondermemorandum vorgelegt, in dem das Projekt als die bislang weitgehendste Beschädigung des Systems der sozialen Sicherheit in der Bundesrepublik bezeichnet wurde. Diese Einschätzung ist damals von der Mehrheit der deutschen Gewerkschaften und sehr vielen sozialen Organisationen und Gruppierungen geteilt worden. Sie gilt auch weiterhin, nachdem die Mehrheit der Gewerkschaften nunmehr - nach einer Aufstockung der späteren Standard-Rentenhöhe auf 64% (und nicht 67%, wie vom Arbeitsminister behauptet) gegenüber ursprünglich geplanten 61% (und nicht 64%, wie vom Arbeitsminister behauptet) der Nettoeinkommen - ihre Zustimmung erklärt haben. Abgesehen davon, daß es sich dabei immer noch um eine Senkung um 5 Prozentpunkte gegenüber dem status quo handelt, bedeutet die Neuregelung eine fatale dreifache Abkehr von dem bisherigen System der Alterssicherung, nämlich
- erstens die Abkehr von der lebensstandardsichernden gesetzlichen Rente,
- zweitens den Ausstieg aus der paritätischen Finanzierung der Altersvorsorge und
- drittens die Auslieferung eines Teil der Altersvorsorge an die Unsicherheiten der internationalen Finanzmärkte.
Die Argumente, die zur Rechtfertigung dieser dreifachen Wende angeführt wurden, sind allesamt nicht stichhaltig. Sie beruhen auf der dogmatischen Annahme, daß die bisherige Höhe der Arbeitgeberbeiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung bis zum Jahre 2030 den Satz von 11% des Bruttoentgeltes nicht überschreiten dürfte und daß daher die gesetzliche Rente gekürzt werden müsse. Gleichzeitig fordert die Bundesregierung die ArbeitnehmerInnen zum Einstieg in die private Altersvorsorge über den Kapitalmarkt auf, zu der die Arbeitgeber freilich keinen Beitrag leisten. Für ArbeitnehmerInnen, die dieser Aufforderung Folge leisten, steigen die Aufwendungen daher in Zukunft auf 15% des Bruttolohns oder -ge-haltes, während sie für die Arbeitgeber bei 11% gekappt werden. Für ArbeitnehmerInnen, die der Aufforderung der Bundesregierung nicht Folge leisten (können), steigt das Risiko der Altersarmut. Ohne die Reform würden die Beiträge bis 2030 auf 23,6% steigen, was bei paritätischer Finanzierung einem jeweiligen Beitrag von 11,8% entspricht. Daß die Arbeitgeber, deren Gewinnanteil am Bruttoinlandsprodukt in den letzten zwanzig Jahren um über 10 Prozentpunkte gestiegen ist, die Erhöhung nicht verkraften könnten, ist eine absurde Behauptung. Das wird durch eine einfache Rechnung deutlich: Eine Steigerung der Produktivität um 2,5% jährlich führt in den nächsten 30 Jahren zu einer Zunahme des realen Einkommens und - bei unveränderten Verteilungsverhältnissen - der Gewinne um den Faktor 2,1, also zu etwas mehr als einer Verdoppelung. Wenn in dieser Zeit die Beiträge zur Rentenversicherung für Arbeitgeber und ArbeitnehmerInnen von heute 9,55% auf 11,8% stiegen (womit das bisherige Rentenniveau ohne "Reformen" aufrecht erhalten würde), ergäbe sich nach dreißig Jahren eine Steigerung des um die Rentenbeiträge verminderten Einkommens um den Faktor 2,05, also immer noch eine gute Verdoppelung. Es kann daher nicht einleuchten, daß die Bundesregierung, der diese Zahlen auch bekannt sind, das System der Rentenversicherung wegen dieser 0,8 Prozentpunkte zerstört hat. Es leuchtet umso weniger ein, als es selbst bei einer Deckelung der Arbeitgeberbeiträge bei 11% eine Fülle von Alternativen zu der tatsächlichen Reform gegeben hätte: Sie reichen von der Senkung der Beiträge zur Arbeitslosenversicherung über die Einbeziehung von Selbständigen und Beamten in die Beitragspflicht, eine Verbreiterung der Beitragsbemessungsgrundlage bis zur Schließung eventueller Deckungslücken aus Steuermitteln (die jetzt in Höhe von mindestens 20 Mrd. DM pro Jahr zur Förderung der privaten Altersvorsorge ausgegeben werden sollen).
Die Rentenreform erweist sich faktisch in erster Linie als ein Milliardengeschenk an die großen Versicherungen und Investmentfonds, die verstärkt ins Altersvorsorgegeschäft einsteigen. Zur Erklärung dieses Geschenkes muß man nicht auf Verschwörungs- und Korruptionstheorien zurückgreifen. Letztlich ist die Rentenreform wohl eher auf den Auftrag zur gründlichen Entrümpelung und "Modernisierung" des verkrusteten Sozialstaates zurückzuführen, den die Regierung in geradezu missionarischem Eifer von den Ideologen des Marktradikalismus übernommen hat.
4. Geschenke an die Finanzkonzerne II:
Die Steuerreform
Im Juli 2000 ist die Steuerreform der Bundesregierung als "größtes Steuersenkungsprogramm in der Geschichte der Bundesrepublik" verabschiedet worden. Auf den ersten Blick scheint sie eine gleichmäßig kräftige Entlastung aller Einkommensschichten zu bringen: Im Vergleich zu 1998 wird der Grundfreibetrag von 12.365 DM auf 15.011 DM im Jahre 2005 steigen, der Eingangssteuersatz dagegen von 25,9% auf 15,0%, der Spitzensteuersatz von 53,0% auf 42,0% und der Satz der Körperschaftsteuer von 45% (bzw. 30% bei ausgeschütteten Gewinnen) auf einheitlich 25% sinken.
Bei genauerer Betrachtung erweist sich die Steuerreform jedoch vor allem als ein Projekt, das in besonderer Weise die Reichen und die Unternehmen bevorzugt und somit den Kurs der Umverteilung von unten nach oben fortsetzt. Denn insbesondere für die unteren Einkommensgruppen werden die steuerlichen Entlastungen weitgehend kompensiert oder sogar überkompensiert durch verschärften Sozialabbau. Die von der Bundesregierung 1999 verfügten Einsparungen in Höhe von gut 180 Mrd. DM über fünf Jahre betreffen nämlich in erster Linie die Sozialleistungen, auf die BezieherInnen niedriger Einkommen in besonderem Maße angewiesen sind. Hinzu kommen die Belastungen aus der Ökosteuer für diejenigen, die von der Verminderung der Lohnnebenkosten nicht profitieren. Dauerhaft entlastet durch die Steuerreform werden dagegen die oberen Einkommensgruppen sowie die Kapitalgesellschaften, für die eine bescheidene Verbreiterung der Steuerbasis die Entlastungen bei weitem nicht aufzehrt. Damit wird die Tendenz zu wachsender Ungleichheit bei der Einkommens- und noch stärker der Vermögensverteilung nicht gestoppt oder gar korrigiert, sondern fortgesetzt. Sie hatte dazu geführt, daß die 10% der reichsten (west)deut-schen Haushalte ihren Anteil am gesamten Geldvermögen in den 10 Jahren von 1988 bis 1998 von knapp 43% auf knapp 50% steigern konnten, während der Anteil der 50% ärmeren Haushalte in der gleichen Zeit von 9,2% des gesamten nachgewiesenen Nettogeldvermögens auf fast die Hälfte (4,8%) sank (vgl. Grafik).
Im Zeitraum von 1993 bis 1998 ging in Deutschland beim Nettogeldvermögen die Grenze des ersten Quartils, also die Vermögensgrenze, die von einem Viertel der Haushalte nicht überschritten wird, von 8.000 DM auf 5.400 DM zurück, während sich die Grenze, die vom obersten Zehntel nicht unterschritten wird, von knapp 130.000 DM auf etwas unter 150.000 DM verschob. Die Steuerreform hat die Weichen dafür gestellt, daß dieser Prozeß der privaten Vermögenskonzentration auch in Zukunft weitergehen wird. Diese Weichenstellung wird auch dadurch unterstrichen, daß von der noch im Koalitionsvertrag angekündigten Wiedereinführung der Vermö-
gensteuer für private Haushalte nicht mehr die Rede ist, und auch die ersatzweise in Aussicht gestellte Erhöhung der Erbschaft- und Schenkungsteuer nicht in Angriff genommen wird.
Die Bundesregierung begründet die Entlastungen bei der Unternehmensbesteuerung erstens mit der empirisch unhaltbaren Behauptung, Deutschland sei ein Hochsteuerland und daher nicht wettbewerbsfähig, und zweitens mit der weder theoretisch plausiblen noch empirisch belegbaren These, daß niedrigere Gewinnsteuern die Investitionen dauerhaft ankurbelten. Demgegenüber ist festzuhalten, daß die Steuerreform, in deren Ergebnis "Deutschland nach Luxemburg die niedrigste Körperschaftsteuer in Europa" hat (Eichel), den ruinösen internationalen Steuerwettbewerb weiter angeheizt hat - und damit die Erosion der Steuerbasis und die Verschiebung der Steuerlasten zu Ungunsten der ArbeitnehmerInnen und VerbraucherInnen beschleunigt. Im übrigen stehen steuerliche Überlegungen ziemlich unten auf der Rangliste der Gründe, die Unternehmen zu Investitionen veranlassen.
Eine besondere Pointe der Steuerreform stellt überdies die handstreichartig eingebrachte (d.h. von der Bundesregierung zunächst gar nicht angekündigte) und steuersystematisch nicht zu begründende Steuerbefreiung für Veräußerungsgewinne von Kapitalgesellschaften (ab 2002) dar. Sie ist nichts anderes als ein Steuergeschenk für die großen Konzerne, insbesondere die großen Finanzkonzerne. Für sie wird der Verkauf von Unternehmensbeteiligungen äußerst lukrativ, die sie in der Regel vor sehr langer Zeit gekauft haben und deren Marktwert gegenüber dem Kaufpreis auf ein Vielfaches gestiegen ist. Wenn die aus der Veräußerung erzielten Gewinne von der Steuer befreit werden, verzichtet der Staat auf Einnahmen in zweistelliger Milliardenhöhe. Auch dieses Geschenk an die deutschen Kapitalgesellschaften ist nicht durch platte Korruption, sondern durch die Vorstellung maßgeblicher Kreise der Bundesregierung zu erklären, daß es ihre Aufgabe sei, verkrustete Unternehmensstrukturen ("Deutschland AG") aufzubrechen und dem Kapitalmarkt mehr Gewicht bei der Neuformierung einer zeitgemäßen Wirtschaft zu geben. Der Kapitalmarkt besteht aber im wesentlichen aus den großen Banken und institutionellen Akteuren, deren Gewicht als Umschlagplatz für Kapitalgesellschaften oder "Unternehmenskontrolle" in Zukunft weiter steigen wird. Schon in den vergangenen Jahren hat es eine massive Welle von Unternehmensfusionen und Beteiligungen gegeben. Sie wird sich in den kommenden Jahren beschleunigen, und die Steuerreform leistet dieser Entwicklung Vorschub. Das Ergebnis wird nicht eine größere Beweglichkeit in der Unternehmenslandschaft, sondern eine Zunahme der Unternehmenskonzentration und eine Verstärkung des Drucks sein, der von den Hauptakteuren auf den Finanzmärkten gegenüber kleineren Unternehmen und Regierungen ausgeübt werden wird. Dies wird die Umverteilung von unten nach oben weiter vorantreiben, die soziale Polarisierung vertiefen und letztlich zu einer zunehmenden Gefahr für die Demokratie führen.
5. Konkurrenz statt Solidarität?
Zur Neuordnung des deutschen
Finanzausgleichs
Der gesamte Finanzausgleich steht wegen der Unübersichtlichkeit und Komplexität seiner Bestimmungen nicht im Zentrum des öffentlichen Interesses. Dennoch handelt es sich bei den aktuellen Auseinandersetzungen über seine Reform um die Antwort auf die Frage nach dem sozialen Charakter der Bundesrepublik als föderalem Bundesstaat. Es geht im Kern darum, wie das Verfassungsgebot zur Herstellung "gleichwertiger Lebensverhältnisse" in der Bundesrepublik (Art. 72, Abs. 2 GG sowie Art. 106, Abs. 3,2 GG) zu erfüllen ist, ohne daß die weitgehende politische Autonomie der Bundesländer übermäßig eingeschränkt wird. Die bisherigen Regelungen sehen vor, daß die Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse im wesentlichen dadurch hergestellt werden soll, daß die öffentliche Finanzkraft der einzelnen Bundesländer weitgehend ausgeglichen wird.
Das geschieht durch die Umverteilung von Steuereinnahmen in drei Schritten: Zunächst wird ein Viertel des Länderanteils an der Umsatzsteuer dazu genutzt, die Ausstattung der einnahmeschwächeren Länder mit öffentlicher Finanzkraft auf 92% des Durchschnitts der Ländersteuern anzuheben. Der nachfolgende Länderfinanzausgleich i.e.S. dient dem Ziel, die unterdurchschnittliche Finanzkraft eines Landes auf 95% anzuheben. Diese Zuweisungen werden durch die Abschöpfungen bei den finanzkraftstarken Ländern finanziert. Schließlich trägt der Bund mit seinen Bundesergänzungszuweisungen bedarfs- und finanzkraftorientiert zum weiteren Finanzkraftausgleich zwischen den Bundesländern bei. Im Endergebnis wird die Ausstattung der finanzschwachen Länder mit öffentlichen Mitteln bis zu 99,5% an den Bundesdurchschnitt angehoben.
Die aktuellen Auseinandersetzungen wurden durch eine Verfassungsklage von drei "Geber"-Ländern - Bayern, Baden-Würt-temberg und Hessen - ausgelöst, die überdurchschnittliche Steuereinnahmen erzielen und sich gegen den Umfang wehren, in dem diese durch den Länderfinanzausgleich abgeschöpft werden. Sie argumentieren, daß ein solches Ausmaß der Umverteilung den Anreiz zur Verbesserung der Landeseinnahmen durch die Steigerung der Wirtschaftskraft auf beiden Seiten dämpfen würde: Bei den reicheren Ländern, weil ökonomische Leistung nicht angemessen belohnt, bei den ärmeren, weil mangelnde Leistung nicht bestraft werde. Der gegenwärtige Finanzausgleich sei marktwidrig und (deshalb) ungerecht. Er setze den Anreiz zur Erhöhung der Wirtschaftskraft, aber auch zum eisernen Einsparen von Staatsausgaben außer Kraft. Insgesamt müsse gegenüber dem bisherigen Grundgedanken des solidarischen Ausgleichs die Konkurrenz zwischen den Ländern gestärkt und damit ein Wettbewerbsföderalismus gegenüber dem derzeitigen kooperativen Föderalismus durchgesetzt werden.
Das Bundesverfassungsgericht hat diesen Klagen in seinem Urteil vom November 1999 weitgehend stattgegeben. Es bestätigte zwar einerseits das allgemeine Gebot der finanziellen Umverteilung zwischen den Ländern, hielt aber entsprechend den Argumenten der Klägerländer den Umfang des Länderfinanzausgleichs für zu weitgehend. Darüber hinaus wurde der Gesetzgeber aufgefordert, die Bundesergänzungszuweisungen, die mittlerweile doppelt so hoch wie der LFA ausfallen, deutlich zu vermindern. Das Bundesverfassungsgericht forderte, ab 2003 ein Maßstäbegesetz in Kraft zu setzen, um schließlich auf dessen Basis ab 2005 ein reformiertes Finanzausgleichsgesetz zur praktizieren. Diese Terminsetzung gibt den Klägerländern ein besonders wirksames Druckmittel in die Hand: Wenn die Termine 2003 und 2005 nicht eingehalten werden, gilt der derzeitige Finanzausgleich als verfassungswidrig. Dies könnte in letzter Konsequenz heißen, daß es überhaupt keinen Finanzausgleich mehr gibt. Es ist also absehbar, daß es unter dem Druck dieser ungleichen Verhandlungspositionen zu einer Neuordnung des Finanzausgleichs im Sinne der Klägerländer kommen wird.
Diese Entwicklung geht nach Ansicht der Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik aus drei Gründen in eine falsche und sozial schädliche Richtung:
Erstens ist das bestehende System des Finanzausgleichs schon ein Minimalkompromiß auf einer theoretisch sehr brüchigen Grundlage. Denn es ist weder zwingend noch plausibel, daß die grundgesetzlich gebotene und also politisch zu gewährleistende "Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse" allein oder im wesentlichen durch einen Ausgleich der öffentlichen Finanzkraft zwischen den Bundesländern hergestellt werden kann. Es gibt vielmehr gute Gründe für die Forderung, daß Länder mit Regionen, die aufgrund besonderer geographischer, klimatischer, branchenstruktureller oder sonstiger - etwa vereinigungsbedingter - Umstände ökonomisch besonders schwach sind, stärker gefördert werden müssen. Die Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse ergibt sich nicht aus einer auf den Bundesdurchschnitt angeglichenen öffentlichen Finanzkraft, sondern aus der Erfüllung bestimmter Mindestausstattungen hinsichtlich der ökonomischen und sozialen Infrastruktur und Versorgung. Hierfür können erhebliche zusätzliche Mittel erforderlich sein. Das sog. "Konsensmodell" der Länder Baden-Württemberg, Bayern und Hessen, das in seiner Gesamtwirkung zur Auseinanderentwicklung der Länder führen würde, enthält in diesem Zusammenhang einen beachtenswerten Vorschlag: Eingeführt werden sollen Struktur-Bundesergänzungszuweisungen, d.h. es soll einen Ausgleich für unterdurchschnittliche Wirtschaftskraft, hohe Arbeitslosigkeit und überdurchschnittliche Sozialkosten geben.
Zweitens ist die markttheoretische Argumentation hinsichtlich der Finanzausstattung der Länder verfehlt. Daß Landesregierungen in reichen Ländern den Versuch einstellen, ihr jeweiliges Land für Unternehmen attraktiv zu halten, weil sie nicht genug Steuereinnahmen behalten dürfen, ist ebenso wenig plausibel wie die Annahme, eine Landesregierung würde sich nicht um Wirtschaftsförderung bemühen, weil ihre Finanzkraftschwäche ohnehin durch Transfers von reichen Ländern ausgeglichen wird. Für den politischen Erfolg - und damit die Wiederwahl - von Landesregierungen sind nicht die letztlich bei ihnen verbleibenden Steuereinnahmen, sondern die Entwicklung der Produktion, der Beschäftigung und der sozialen Lage der Menschen maßgeblich. Soweit diese durch öffentliche Mittel gefördert werden können, erfordert das Gebot des Grundgesetzes eine überdurchschnittliche und nicht nur eine (fast) durchschnittliche Finanzausstattung der schwächeren Länder.
Drittens wird eine Neuordnung des Finanzausgleichs im Sinne der Klägerländer die Ungleichheit der Lebensverhältnisse in Deutschland verstärken. Denn der Marktmechanismus wirkt überwiegend nicht, wie in der neoklassischen Theorie unterstellt, auf einen Ausgleich, sondern auf eine Vertiefung bereits bestehender regionaler Disparitäten hin: Neue Unternehmen siedeln sich überwiegend in den Ballungsgebieten bzw. Ballungsrandgebieten der wirtschaftlich starken Regionen an und meiden u.a. wegen der fehlenden Infrastruktur ökonomisch schwache Regionen. Ähnliches gilt für qualifizierte ArbeitnehmerInnen. Dieser Tendenz zur ökonomischen und sozialen Polarisierung kann nur durch intensive politische Steuerung entgegengewirkt werden. Dazu aber fehlen den schwachen Ländern die finanziellen Mittel.
Die aktuell betriebene Neuordnung des Finanzausgleichs geht daher in die falsche Richtung und wird den sozialen Zusammenhalt in Deutschland weiter untergraben. Ungeachtet einiger alter Zöpfe und historisch entstandener Ungereimtheiten sollte, solange eine an Bedarfskriterien orientierte Reform politisch nicht diskutierbar oder umsetzbar erscheint, das bestehende System des weitgehenden Finanzkraftausgleichs als Minimalkompromiß erhalten bleiben. Damit wäre auch die Fortsetzung des Solidarpakts Ostdeutschland über 2004 hinaus gesichert. Gemessen an den hohen Defiziten bei der öffentlichen Infrastruktur, aber auch beim privatwirtschaftlichen Kapitalstock dürfen die derzeit über den Finanzausgleich von West- nach Ostdeutschland gelenkten Transfers nicht reduziert werden, wie es die reichen Länder in Westdeutschland anstreben.
6. "Aktivierender Sozialstaat" statt Beschäftigungspolitik: Die Stagnation der EU
Auf dem Gipfel von Lissabon im März 2000 hat die EU die Vollbeschäftigung erstmals zu einem strategischen Ziel der Gemeinschaft erklärt, das durch ein jährliches Wirtschaftswachstum von 3% bis zum Jahre 2010 erreicht werden soll. Grundlage hierfür sollen technologische Innovationen, die Transformation der Gesellschaft zur "Wissensgesellschaft" sowie der "aktivierende Sozialstaat" sein. Dies entspricht im wesentlichen der Reformagenda, die sich auch die Bundesregierung für Deutschland gesetzt hat.
Die "koordinierte Beschäftigungsstrategie", die auf dem beschäftigungspolitischen Sondergipfel in Luxemburg im November 1997 entwickelt wurde, hat sich in jährlich vom Ministerrat verabschiedeten "beschäftigungspolitischen Leitlinien" und darauf bezogenen "nationalen Aktionsplänen" der Mitgliedsländer niedergeschlagen. Beide sind zwar rechtlich unverbindlich, haben aber doch zu einer intensiven Diskussion über Beschäftigungspolitik geführt und wichtige arbeitsmarktpolitische Impulse gegeben. Mittlerweile nimmt allerdings die Gefahr zu, daß die Interpretation von zumindest drei der vier "Pfeiler" der Leitlinien - Beschäftigungsfähigkeit, Unternehmensgeist, Anpassungsfähigkeit, Chancengleichheit für Frauen und Männer - in zunehmend repressiver Weise erfolgt. Dies entspricht der Logik des "aktivierenden Sozialstaates", die darauf abstellt, möglichst viele Arbeitslose möglichst schnell und mit möglichst geringen Kosten in Arbeit zu bringen, auch wenn die Arbeit nicht der Qualifikation oder den Berufswünschen der Arbeitslosen entspricht, schlechter bezahlt wird und sozial weitgehend ungeschützt ist. Damit unattraktive Arbeit angenommen wird, ist disziplinierender Druck notwendig, und hierfür wird in zunehmendem Maße das Instrumentarium des Sozialstaats eingesetzt: Unterstützungsleistungen werden eingeschränkt und zunehmend an die bedingungslose Bereitschaft der EmpfängerInnen gebunden, auch schlechte Arbeit aufzunehmen und sich so für den Arbeitsmarkt "aktivieren" zu lassen.
Eine solche Entwicklung hin zu repressiver Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik wird durch eine öffentliche Haushaltspolitik gefördert, die in erster Linie an Einsparungen statt an einer sozialstaatlich angemessenen Versorgung ausgerichtet ist. Diese Linie wurde 1997 zusammen mit dem Vertrag von Amsterdam im Stabilitäts- und Wachstumspakt festgeschrieben. Daher ist der "makroökonomische Dialog", der im "europäischen Beschäftigungspakt" auf dem Gipfel in Köln verabredet wurde, kaum mehr als eine inhaltsleere Phrase: Da die Geldpolitik wegen ihrer ausschließlichen Orientierung auf die Inflationsbekämpfung und die Fiskalpolitik wegen ihrer Unterordnung unter den Vorrang des Abbaus der öffentlicher Neuverschuldung nicht für eine ernsthafte Abstimmung zur Verfügung stehen, beschränkt sich die makroökonomische Perspektive europäischer Beschäftigungspolitik bis heute auf die kontraproduktive Forderung nach Lohnzurückhaltung der ArbeitnehmerInnen.
Die Alternativen: Beschäftigungs-
politik in einem starken Sozialstaat
7. Alte Grundlagen, neue Inhalte:
Vollbeschäftigung als strategische Hauptaufgabe
Die Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik hat seit ihren Anfängen die Position vertreten, daß die Massenarbeitslosigkeit das Grundübel und die Beschäftigung die Schlüsselfrage für die wirtschaftliche, soziale und gesellschaftliche Entwicklung ist. Als strategischen Eckpfeiler eines alternativen Typs der wirtschaftlichen Entwicklung haben wir daher die Vollbeschäftigung definiert - nicht weil wir sie für wichtiger als andere Ziele wie Gerechtigkeit, soziale Sicherheit und saubere Umwelt halten, sondern weil sie das wirtschaftliche, soziale und politische Fundament ist, auf dem auch diese anderen Ziele erreichbar sind. Vollbeschäftigung führt zu höheren öffentlichen Einnahmen und lockert den Druck auf die staatliche Haushaltspolitik; sie produziert ein höheres und/oder qualitativ besseres Angebot an Gütern und Dienstleistungen und vermehrt so den Reichtum der Gesellschaft, was wiederum die Bereitschaft zur Solidarität mit den ärmeren Ländern fördert. Vollbeschäftigung führt schließlich auch zu einer stärkeren Stellung der abhängig Beschäftigten und ihrer gewerkschaftlichen Vertretungen in der Gesellschaft und damit zu einer Korrektur der politischen Macht- und Kräfteverhältnisse, die sich in den letzten beiden Jahrzehnten drastisch zugunsten der Kapitalseite verschoben haben. Vollbeschäftigung ist somit Grundlage für die weitere Demokratisierung und den sozialen Fortschritt. Hieran halten wir nach wie vor fest.
Wir stellen allerdings fest, daß der positiv besetzte Begriff der Vollbeschäftigung mittlerweile auch von wirtschafts- und sozialpolitischen Konzeptionen vereinnahmt wird, die ganz anderes im Sinn haben. Sie lösen den Begriff Vollbeschäftigung aus seinem sozialen und politischen Kontext und stellen allein auf eine hohe Zahl der - selbständig, unselbständig oder scheinselbständig - Beschäftigten ab. Ihnen kommt es auf die Stärkung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit und ein möglichst hohes Wachstumstempo bei möglichst niedrigen Kosten an. Anhänger dieser Richtung fordern die Eingliederung möglichst vieler, flexibler, billiger und bescheidener Arbeitskräfte in die Wirtschaft. Für sie ist Vollbeschäftigung mit einem umfangreichen Niedriglohnsektor, mit vielen Formen ungeschützter und prekärer Arbeitsverhältnisse und mit einer Schwächung statt Stärkung gewerkschaftlicher und betrieblicher Mitbestimmung verbunden. Tendenzen in dieser Richtung bestimmen nicht nur die Propaganda der Unternehmerverbände; sie sind auch bei der Bundesregierung und der EU vorherrschend.
Demgegenüber bestehen wir auf einer Orientierung, die Vollbeschäftigung nicht mit ökonomischem Druck und gesellschaftlicher Disziplinierung, sondern mit attraktiven Arbeitsverhältnissen, sozialer Sicherheit, auskömmlichen Einkommen und einem Mindestmaß an demokratischer Mitbestimmung verbindet. Zur Vollbeschäftigung gehören individuelle Freiheit und ein starker Sozialstaat, in dem Bedürftige einen Rechtsanspruch auf Unterstützungsleistungen haben, die nicht an Leistungsanforderungen geknüpft und mit Disziplinierungsdruck verbunden werden dürfen. Die Behauptung, daß die Kosten für einen derartig starken Sozialstaat unbezahlbar seien, entbehrt jeder Grundlage in einer reichen Gesellschaft, deren Produktivität und meistens auch Produktion Jahr für Jahr steigen. Es sind nicht die hohen Kosten, sondern die falsche Verteilung des Reichtums, die dem Ausbau und der Stärkung des Sozialstaates entgegenstehen.
Diese Betonung eines starken und auszubauenden Sozialstaates, der mit Vollbeschäftigung einhergehen soll, enthebt uns allerdings nicht der Notwendigkeit, neue Orientierungen für ein gesellschaftliches Normalarbeitsverhältnis und damit auch für die Struktur der angestrebten Vollbeschäftigung zu entwickeln. Denn das überkommene Konzept zielt im wesentlichen auf den männlichen alleinverdienenden Vollzeiterwerbstätigen ab, der mit seinem Einkommen die Familie ernährt, während die Frau den Haushalt führt und die Kinder erzieht. Dieses geschlechtsspezifisch geprägte Normalarbeitsverhältnis entspricht zwar längst nicht mehr der Wirklichkeit, insoweit diese durch eine kontinuierlich gestiegene Erwerbstätigkeit von Frauen geprägt ist. Es prägt aber nach wie vor die Realität, insoweit es die weibliche Erwerbsarbeit nach wie vor markant schlechter stellt als die männliche. Frauen verdienen weniger als Männer, arbeiten in erheblich höherem Maße in - oftmals unfreiwilliger - Teilzeitarbeit zu nicht existenzsichernden Löhnen und unter prekären Arbeitsbedingungen. Ihre Erwerbsarbeit geht nicht mit einer Neuverteilung von Hausarbeit und Kindererziehung einher, sondern kommt zu diesen Aufgaben hinzu. Hierdurch sind neue Belastungen und eine neue Dimension gesellschaftlicher Ungleichheit entstanden, die mit den emanzipatorischen Ansprüchen einer demokratischen Gesellschaft nicht vereinbar sind. Es kommt also darauf an, das Normalarbeitsverhältnis neu zu bestimmen. Zentrale Elemente einer solchen Neubestimmung sind kürzere Arbeitszeiten, ausreichende Einkommen und eine allgemeine und eigenständige soziale Sicherung für Männer und Frauen sowie mehr gesellschaftliche Verantwortung und finanzielle Mittel für die Existenzsicherung, Betreuung und Erziehung von Kindern.
8. Das Beschäftigungsprogramm und
seine Finanzierung: Eine Erinnerung
Wir haben in früheren Memoranden die Palette der beschäftigungspolitischen Maßnahmen dargestellt, die ergriffen werden sollten, um das Ziel der Vollbeschäftigung zu erreichen. Sie reichen von dem vermehrten und verbesserten Einsatz arbeitsmarktpolitischer Instrumente über Lohnkostenzuschüsse, die Schaffung eines öffentlichen Beschäftigungssektors und ein umfangreiches öffentliches Investitionsprogramm bis hin zu einer allgemeinen Arbeitszeitverkürzung mit weitgehendem Lohnausgleich. Wir haben für ein solches Programm Kosten von rund 240 Mrd. DM pro Jahr veranschlagt und gezeigt, wie diese finanziert werden können, ohne an anderer Stelle beschäftigungsschädliche oder sozial unzumutbare Löcher aufzureißen. Dabei stehen die Erhebung einer Vermögensteuer, einer Börsen-, einer Devisenumsatz- und einer Spekulationsteuer und einer kommunalen Wertschöpfungsteuer sowie die Streichung des Ehegattensplittings und die Intensivierung des Kampfes gegen Wirtschaftskriminalität und Steuerhinterziehung im Vordergrund. Außerdem schlagen wir die Umstellung der Ökosteuer auf eine jährlich steigende Besteuerung von Primärenergie (außer erneuerbare Energien) vor. Sie soll die bisherige ineffiziente Ökosteuer auf Heizöl, Kraftstoff, Gas und Strom ersetzen und in voller Höhe auch bei Industrie und Landwirtschaft erhoben werden. Hieraus ergeben sich Mehreinnahmen gegenüber der bisherigen Ökosteuer von zunächst gut 20 Mrd. DM, die bis zum Jahre 2010 auf rund 120 Mrd. DM steigen werden. Soweit diese Einnahmen erst längerfristig anfallen und noch nicht sofort zur Verfügung stehen, sollten die Ausgaben für eine wirksame Beschäftigungspolitik über Neuverschuldung vorfinanziert werden.
Das Beschäftigungsprogramm und seine Finanzierung
Einnahmen (Mrd. DM pro Jahr) Ausgaben (Mrd. DM pro Jahr) |
Vermögensteuer 30 Öffentliche Investitionen 150 Abschaffung Ehegattensplitting 20 Öffentlicher Beschäftigungssektor 56 Börsenumsatzsteuer 25 Arbeitsmarktpolitik 25 Spekulationsteuer 11 Arbeitszeitverkürzung 10 Wertschöpfungsteuer 85 Bekämpfung der Wirtschafts- kriminalität und Steuerhinterziehung 50 Mehreinnahmen Ökosteuer 20 |
Summe: 241 Summe: 241 |
Die in der Öffentlichkeit gegen eine derartige Neuverschuldung immer wieder gebetsmühlenhaft vorgebrachten Argumente sind nicht stichhaltig. Unter heutigen Bedingungen reichlichen Kapitalangebotes verdrängen öffentliche Schulden keine privaten Investitionen. Im Gegenteil: Vielfach schaffen die kreditfinanzierten öffentlichen Ausgaben erst die Bedingungen für private Investitionen. Öffentliche Neuverschuldung stellt auch keine ungerechtfertigte Belastung für nachfolgende Generationen dar. Vielmehr können schuldenfinanzierte Investitionen dafür sorgen, daß späteren Generationen eine sozial und ökologisch hochwertige Infrastruktur übergeben wird. Schließlich schaffen Staatsschulden auch keine zusätzliche gesellschaftliche Ungerechtigkeit zugunsten vermögender Finanzanleger. Diese würden, wenn der Staat sich nicht verschuldet, ihre Ersparnisse in anderen und vermutlich gesellschaftlich weniger nützlichen Bereichen anlegen. Die eigentliche gesellschaftliche Ungerechtigkeit besteht in der sehr ungleichen Einkommens- und Vermögensverteilung, die es den Reichen erlaubt, zusätzliche Zinseinkommen zu erzielen. Diese Ungerechtigkeit wird durch Staatsverschuldung nicht aus der Welt geschafft, aber auch nicht verschärft.
Mittelfristig soll die Ungleichverteilung durch eine stärkere Besteuerung hoher Einkommen abgemildert werden, die dann auch die Notwendigkeit öffentlicher Schuldenaufnahme einschränkt.
Die vorstehende Tabelle verdeutlicht in einer groben Übersicht unsere Vorschläge für eine aktive Beschäftigungspolitik und ihre Finanzierung.
9. Arbeitszeitverkürzung: Beginn mit dem Abbau von Überstunden
Die Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik befürwortet eine weitreichende Verkürzung der individuellen Arbeitszeit auf 30 Stunden pro Woche als einen wesentlichen Beitrag zur Herstellung eines neuen Normalarbeitsverhältnisses auf dem Weg zur Vollbeschäftigung. Rein rechnerisch entspricht eine Arbeitszeitverkürzung um ca. 20% (von durchschnittlich knapp 38 auf 30 Stunden pro Woche) bei 34 Millionen unselbständig Beschäftigten einem potentiellen Zuwachs von rund 7 Millionen Arbeitsplätzen. Natürlich ist eine solche Rechnung sehr schematisch. Nach der empirischen Erfahrung aus bisherigen Schritten zur Arbeitszeitverkürzung ist davon auszugehen, daß ungefähr die Hälfte dieses theoretisch möglichen Arbeitsplatzeffektes sich tatsächlich in neuen Arbeitsplätzen niederschlägt, dies wären immerhin 3,5 Millionen zusätzliche Stellen.
Arbeitszeitverkürzungen in diesen Größenordnungen sind allerdings nur dann attraktiv, wenn sie mit weitgehendem Lohnausgleich verbunden sind. Hierzu können, wie wir in unserem MEMORANDUM ´99 erläutert haben, die privaten Unternehmen, die öffentliche Hand und die Bundesanstalt für Arbeit wesentliche Beiträge leisten. Dies wird insbesondere dann der Fall sein, wenn sich die Beschäftigungserfolge einstellen und die Steuer- und Beitragseinnahmen der öffentlichen Haushalte und Sozialversicherungsträger zunehmen und die Belastungen der Bundesanstalt zurückgehen. Insgesamt ist jedoch auch dann noch eine spürbare Veränderung der Verteilungsverhältnisse zugunsten der Löhne und Gehälter erforderlich. Sie ist gesamtwirtschaftlich sinnvoll, aber politisch nur auf der Grundlage längerfristiger politischer Mobilisierung zu erreichen, für die gegenwärtig bei den Gewerkschaften die ausreichende Kraft und/oder Bereitschaft fehlen.
Ein sehr viel bescheidenerer, aber unmittelbar durchsetzbarer Schritt in die gleiche Richtung ist der Abbau von Überstunden. Die Zahl der Überstunden ist im vergangenen Jahr kräftig auf rund 2 Milliarden Stunden - oder rund 60 Stunden pro Beschäftigten - gestiegen. Sie hat mit ungefähr vier Prozent den höchsten Anteil am Arbeitsvolumen seit 10 Jahren erreicht. Darüber hinaus ist in den letzten Jahren unter dem Druck hoher Arbeitsplatzunsicherheit und Arbeitsbelastung die Zahl der unbezahlten Überstunden gestiegen und dürfte mittlerweile über dem Niveau der bezahlten liegen. Zwar ist es - insbesondere in kleineren Betrieben - nicht möglich, Überstunden generell abzuschaffen. Aber ihr gegenwärtiger Umfang kann erheblich vermindert werden. Auch wenn sie nicht in vollem Umfang durch neue Arbeitskräfte ersetzt würden, würde dies viele neue Arbeitsplätze schaffen. Die Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik geht auf der Grundlage verschiedener Studien und Schätzungen davon aus, daß es sich dabei insgesamt um eine Größenordnung von 500.000 bis 600.000 Arbeitsplätzen handelt.
10. Neuer Schub für Beschäftigung, Versorgung und ökologischen Umbau: Das öffentliche Investitionsprogramm
Die öffentlichen Investitionen haben in den letzten beiden Jahrzehnten nur eine geringe Rolle in Deutschland gespielt. Nachdem sie Ende der 60er Jahre ein Niveau von 5% des BIP erreicht hatten, sind sie mittlerweile wieder auf 2% des BIP gefallen. Sie waren neben den Sozialausgaben der besondere Steinbruch für Sparpolitiker und Marktideologen: Öffentliche Investitionen wurden gekürzt, um Haushaltslöcher zu stopfen und um die Präsenz des Staates in der Wirtschaft zu vermindern. Dieser Trend ist auch nach der deutschen Vereinigung - trotz des enormen Bedarfs für die Erneuerung der Infrastruktur in den neuen Bundesländern - nicht gestoppt worden. Der Anteil der öffentlichen Investitionen stieg nur kurzfristig um einen Prozentpunkt am BIP, ist aber ab Mitte der 90er Jahre wieder kräftig gefallen.
Öffentliches Investitionsprogramm für die Verbesserung der Infrastruktur
und den ökologischen Umbau
Programm |
Mrd. DM pro Jahr |
1. Sonderprogramm Aufbau Ost |
|
- Erneuerung der Infrastruktur der Länder und Kommunen |
30,0 |
- Zielgerichtete Investitionsförderung für ostdeutsche Unternehmen |
5,0 |
- Stadtentwicklung einschließlich Rückbau |
5,0 |
2. Bildungs- und Kulturprogramm |
|
- Bildungsprogramm einschließlich Hochschulen |
25,0 |
- Kultursonderprogramm |
5,0 |
3. Ökologisches Umbauprogramm |
|
- Eisenbahninfrastruktur |
20,0 |
- ÖPNV |
15,0 |
- Regionale Bahnverkehre |
10,0 |
- Modernisierung der Wasserver- und -entsorgung |
10,0 |
- Energieeinsparung Gebäude |
20,0 |
- Kraftwerke/Energieforschung |
2,5 |
- Regionalhilfen/private Wirtschaft/Produktdesign |
2,5 |
Gesamtprogramm Öffentliche Investitionen |
150,0 |
Dieser Rückzug des Staates aus seiner infrastrukturellen Verantwortung hat mittlerweile zu erheblichen Defiziten und zu einem großen Nachholbedarf bei der Bereitstellung von Infrastruktur und anderen öffentlichen Gütern geführt. Die Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik schlägt vor, diese Lücke durch ein groß angelegtes öffentliches Investitionsprogramm zu schließen, das sich zunächst für die nächsten 5 Jahre insgesamt auf 150 Mrd. DM pro Jahr belaufen soll. Dabei sollen sich die Ausgaben auf drei große Bereiche konzentrieren: die Modernisierung und den Ausbau der Infrastruktur in Ostdeutschland (40 Mrd. DM), die Verbesserung des Bildungsbereiches (30 Mrd. DM) und den ökologischen Umbau (80 Mrd. DM). Einen Überblick gibt die vorstehende Tabelle.
Sonderprogramm Aufbau Ost: Es ist weitgehend unbestritten, daß es in Ostdeutschland nach wie vor massive Defizite im Bereich der öffentlichen Infrastruktur gibt. Sie liegen - für die Länder und Kommunen - besonders in den Bereichen Schulen, Hochschulen, Verkehrs- und Nachrichtenwesen, kommunale Gemeinschaftsdienste, Energie, Wasserwirtschaft, Dienstleistungen und Wirtschaftsunternehmen. Gemessen am öffentlichen Bruttoanlagevermögen belaufen sich diese Defizite auf 250 Mrd. DM (in Preisen von 1991) gegenüber den westdeutschen Flächenländern (222 Mrd. DM gegenüber den finanzschwachen westdeutschen Flächenländern). Diese Lücke wird sich auch bei Fortführung des Solidarpaktes auf dem heutigen Niveau nicht vor 2030 schließen. Da dies eine völlig unakzeptable Perspektive ist, sind zusätzliche öffentliche Investitionen unumgänglich. Die Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik fordert, im Rahmen des vorgeschlagenen öffentlichen Investitionsprogramms weitere 30 Mrd. DM zur Modernisierung und zum Ausbau des öffentlichen Anlagevermögens in den neuen Bundesländern bereitzustellen und damit den Angleichungsprozeß zu beschleunigen. Zusätzlich sollen mit 5 Mrd. DM Unternehmenskooperationen, Forschung und Entwicklung, Qualifizierungsprogramme und Produktinnovationen gefördert werden. Schließlich sollen weitere 5 Mrd. DM für die Stadtentwicklung in Ostdeutschland eingeplant werden.
Bildungs- und Kulturprogramm: Der Anteil der Bildungsausgaben am Sozialprodukt ist zwischen 1993 und 1998 von 4,9% auf 4,6% gesunken und liegt mittlerweile unter dem Durchschnitt der OECD-Länder. In den allgemeinbildenden Schulen herrscht ein massiver Mangel an LehrerInnen, die Hochschulen sind überfüllt und schlecht ausgestattet, neben ProfessorInnen fehlen vor allem ein ausreichender Mittelbau sowie Mittel für die allseits geforderten Online-Studiengänge. Für eine effiziente Weiterbildung insbesondere im Bereich der neuen Medien ist eine flächendeckende Infrastruktur erforderlich, die bislang fehlt. Die Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik fordert im Rahmen ihres öffentlichen Investitionsprogrammes zusätzliche Ausgaben in Höhe von 25 Mrd. DM für die Verbesserung der Situation im Bildungsbereich. Zusätzlich wird vorgeschlagen, vor allem den Kommunen weitere 5 Mrd. DM zur Unterstützung sozialer und kultureller Einrichtungen und Aktivitäten zur Verfügung zu stellen, die in der Vergangenheit abgebaut und vernachlässigt wurden: Kinderbetreuung, öffentliche Bibliotheken, Jugendzentren, lokale Kultureinrichtungen sowie Aktivitäten zur Bekämpfung des Rechtsextremismus. Höhere Bildungsausgaben verbessern zum einen die Qualifikation der Beschäftigten und sind überdies - ebenso wie die Ausgaben zur kulturellen und sozialen Versorgung - relativ personalintensiv und haben daher große Beschäftigungseffekte bei gleichzeitig geringer ökologischer Belastung.
Ökologisches Umbauprogramm: Ein Kernstück des ökologischen Umbaus zielt auf die drastische Verminderung des CO2-Ausstoßes. Hierzu ist im Koalitionsvertrag das Ziel einer Verminderung um 25% gegenüber 1990 verabredet worden. Bisherige Erfolge dabei (-15%) fanden im wesentlichen in den Jahren 1990 bis 1992 statt und sind primär eine Folge der Deindustrialisierung Ostdeutschlands. Da dieses Verminderungspotential weitgehend ausgeschöpft ist - und vor dem Hintergrund, dass im vergangenen Jahr bereits wieder ein Anstieg des CO2-Ausstoßes zu verzeichnen war - sind für weitere Fortschritte die Steigerung der Energieeffizienz, die Veränderung des Energieträgermixes und vor allem die Energieeinsparung unabdingbar. Wichtigste Quelle der Energieeinsparung ist eine Verbesserung der Wärmedämmung bei Gebäuden. Hierfür schlagen wir jährliche Ausgaben in Höhe von 20 Mrd. DM vor, die für direkte Investitionen bei öffentlichen Gebäuden, für Zins- oder Investitionszuschüsse für Wärmedämmung bei privaten Gebäude und für die Ausweitung von Energiedienstleistungen - vor allem Energieberatung - verwendet werden sollten. In begrenztem Maße sollen auch Subventionen für den Strukturwandel im Energiesektor, insbesondere den Übergang zur Kraft-Wärme-Koppelung und die Weiterführung der Forschung auf dem Bereich erneuerbarer Energien vergeben werden.
Eine große Bedeutung für den ökologischen Umbau hat auch die Verkehrspolitik, weil in diesem Bereich der CO2-Ausstoß trotz benzinsparender Autos wegen der absoluten Zunahme des individuellen Personenverkehrs und des Güterverkehrs auf der Straße steigt. Die Bedeutung des ökologisch verträglicheren Schienenverkehrs geht demgegenüber zurück: Zwischen 1991 und 1998 hat die Transportleistung des Straßengüterverkehrs um 28,6% zugenommen, die des Schienengüterverkehrs um 8,2% abgenommen. Die Pläne der Bundesregierung zur Korrektur dieser Fehlentwicklungen - für die Verbesserung der Schieneninfrastruktur sollen jährlich rund 10 Mrd. DM ausgegeben werden - reichen - selbst wenn sie verwirklicht würden - bei weitem nicht aus. Wir schlagen vor, weitere 20 Mrd. DM in diesen Bereich zu lenken, die regionalen Bahnverkehre mit 10 Mrd. DM zu unterstützen und im übrigen den ÖPNV mit zusätzlichen 15 Mrd. DM - insbesondere in ländlichen Gegenden - zu fördern.
Schließlich sehen wir in der Wasserver- und -entsorgung bedrohliche Defizite: Die Verluste der Versorgung aufgrund schadhafter Leitungen liegen im Durchschnitt Westdeutschlands bei 8%; ein Drittel des westdeutschen Kanalnetzes ist älter als 50 Jahre. Damit steigt die Gefahr des Versickerns ungeklärter Abwässer. Zur Sanierung der Wasserver- und -entsorgung sollten deshalb zusätzlich 10 Mrd. DM eingesetzt werden.
Frieden, Demokratie und sozialer Ausgleich in Europa: die strategische Perspektive der Osterweiterung
Die Osterweiterung der EU ist das wichtigste Vorhaben der europäischen Einigung in diesem Jahrzehnt. Seine Bedeutung liegt nicht in erster Linie im wirtschaftlichen Bereich, sondern in der Aussicht auf dauerhaften Frieden und Demokratie sowie auf reichhaltigen kulturellen Austausch in Europa. Natürlich hat der Beitritt der 10 mittel- und osteuropäischen Länder (MOEL), mit denen die EU zur Zeit verhandelt, auch ökonomische und soziale Dimensionen. Gut durchgeführt, kann sie zu einer Stärkung der gemeinsamen Wirtschaftskraft, zur Verbesserung des Lebensstandards und zu sozialem und regionalem Ausgleich führen.
Diese positiven Perspektiven sind aber nicht Gegenstand öffentlicher Diskussionen über die Osterweiterung. In der EU überwiegen vielmehr Angst und Skepsis gegenüber der Erweiterung einer Union, deren ökonomische und soziale Entwicklung selbst nicht gefestigt ist, sondern einer großen Zahl von Menschen zu Recht als sehr prekär erscheint. Es ist daher wichtig, auf diese Ängste einzugehen und überzeugende Vorschläge für die Überwindung der Risiken auszuarbeiten, ohne die Beitrittsländer zu diskriminieren.
Die ökonomischen und sozialen Probleme, die mit dem Beitritt des MOEL verbunden sind, bestehen im wesentlichen in
- dem sehr niedrigen Produktions-, Einkommens- und Produktivitätsniveau der MOEL, das im Durchschnitt 70% unter dem Durchschnittsniveau der EU liegt und in der Mehrheit der Länder auch heute das Niveau von 1989 noch nicht wieder erreicht hat;
- der unterschiedlichen Wirtschaftsstruktur der MOEL, die in sehr viel stärkerem Maße durch die Landwirtschaft (7% des BIP, 22% der Erwerbstätigen) geprägt ist als die EU (2% des BIP, 5% der Erwerbstätigen);
- der unterschiedlichen Sozialstruktur und Mentalität auf Grund eines jahrzehntelangen unterschiedlichen gesellschaftlichen Systems;
- der drastischen sozialen Polarisierung, die sich infolge der umbruchartigen gesellschaftlichen Transformation in kürzester Zeit herausgebildet hat.
Das niedrige ökonomische Entwicklungsniveau hat in den Beitrittsländern überwiegend zu der Meinung geführt, daß nur ein schneller Beitritt zur EU die wirtschaftliche Schwäche überwinden könne. Das hat sie in eine sehr ungünstige Verhandlungsposition und in große Abhängigkeit gegenüber der EU gebracht. Diese wäre nun aufgefordert, im Sinne einer soliden und solidarischen Langfristperspektive die Verhandlungen zügig und ohne Diskriminierung der Beitrittsländer zu führen.
Hiervon ist die EU aber leider weit entfernt. Vielmehr betreibt sie - weitestgehend unter Ausschluß jeglicher parlamentarischen Kontrolle - die Beitrittsverhandlungen im wesentlichen als hegemoniales Projekt, in dem sich die osteuropäischen Länder vollständig den Regeln der EU zu unterwerfen haben. Sie fordert die vollständige Öffnung der osteuropäischen Märkte für Industrieprodukte, ist aber selbst nicht bereit, ihre Agrarmärkte in gleichem Umfang zu öffnen. Sie fordert die schnelle Übernahme aller EU-Regelungen und ist - anders als bei der Aufnahme von Griechenland, Spanien und Portugal - nicht bereit, längerfristige Übergangs- und Anpassungsfristen einzuräumen. Sie stellt in völlig unzureichendem Maße finanzielle Mittel zur Vorbereitung und Unterstützung des Beitritts bereit, und zieht diese Mittel überdies noch von den Strukturausgaben insbesondere für die Südländer der EU ab, wodurch neue Verteilungskonflikte in der EU vorprogrammiert werden.
Die Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik fordert demgegenüber eine demokratischere und großzügigere Politik der EU zur Vorbereitung und Unterstützung des Beitritts, für den jeweils vorab verbindliche Termine zu vereinbaren sind. Diese sollten auch dann eingehalten werden, wenn noch nicht alle Verhandlungen abgeschlossen sind. Im einzelnen schlagen wir vor:
- Die MOEL sollten schnell in die Gemeinsame Agrarpolitik einbezogen werden. Hier besteht auch für die bisherige EU außerordentlich dringender Reformbedarf. Die ins Stocken geratene Reform in Richtung auf Einkommenssubventionen für die Bauern statt Ausgleichszahlungen für nicht absetzbare Produkte muß beschleunigt fortgesetzt werden. Vor allem aber zeigen BSE und andere Bedrohungen die Notwendigkeit einer schnellen Umsteuerung der landwirtschaftlichen Produktion zugunsten einer qualitativ hochwertigen Versorgung der VerbraucherInnen. Hierbei sollten die MOEL von Anfang an einbezogen werden.
- Für die Arbeitsmärkte sollten längere Übergangsfristen vereinbart werden, um einerseits den Druck auf die Löhne und Arbeitsbedingungen in der EU und andererseits die Abwanderung der für die Entwicklung besonders wichtigen qualifizierteren Arbeitskräfte aus den MOEL zu vermeiden. Auch für den Immobilienmarkt muß es zunächst Beschränkungen geben, damit es nicht zu einem Ausverkauf des osteuropäischen Territoriums durch westeuropäische Unternehmen kommt.
- Die EU sollte die Vertiefung der interregionalen Kooperation und Arbeitsteilung zwischen den MOEL und in den Grenzregionen finanziell und organisatorisch intensiv unterstützen. Angesichts der besonderen Herausforderungen und Anpassungsprobleme für die an die MOE-Beitrittsländer angrenzenden Regionen der EU sollte für sie ein spezielles Vorbereitungs- und Anpassungsprogramm vorgesehen und rechtzeitig umgesetzt werden.
- Für die Strukturanpassung, den Umwelt- und Verbraucherschutz sowie die Entwicklung des ländlichen Raumes in den Beitrittsländern müssen deutlich mehr Finanzmittel der EU eingesetzt werden. Dabei dürfen jedoch die Mittel für die Struktur- und Kohäsionsfonds in den bisherigen EU-Ländern nicht gekürzt werden. Es wird deshalb vorgeschlagen, die Obergrenze für die Ausgaben der EU von jetzt 1,27% des BIP auf 3,6% heraufzusetzen und die zusätzlichen Einnahmen vorwiegend zur Unterstützung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung und des Strukturwandels in den Beitrittsländern zu verwenden.
- Im Bereich der gesamtwirtschaftlichen Steuerung Politik sollten erstens die Bestimmungen des Stabilitäts- und Wachstumspaktes hinsichtlich des Haushaltsausgleichs für die Beitrittsländer außer Kraft gesetzt werden. Zweitens sollten die MOEL in das Europäische Währungssystem einbezogen werden. Dabei sollte die zulässige Schwankungsbreite des Wechselkurses ±15% betragen und eine symmetrische - also auch für die EZB geltende - Interventionspflicht bei gleichzeitig vereinfachten Anpassungsmöglichkeiten der Wechselkurse gelten.
Insgesamt sollte die stärkere Beachtung der sozialen Erfordernisse auch im Prozeß der Osterweiterung ein strategisch entscheidendes Anliegen vernünftiger Beitrittspolitik sein. Vorausschauende Maßnahmen, um größere soziale Konflikte zu verhindern, eine hohe Transparenz und Öffentlichkeit der Integrationsprozesse sowie ein entschiedener Kampf gegen nationalistischen Populismus, Revanchismus und Fremdenfeindlichkeit sind wichtige Voraussetzungen für die Beherrschung der Risiken der EU-Osterweiterung und für die gegenseitig vorteilhafte Nutzung ihrer Chancen.
Die Herausforderung der Osterweiterung macht unübersehbar deutlich, daß ein neues Leitbild der europäischen Integration erforderlich ist. Es kann nicht in dem hierarchischen Modell eines Kerneuropas mit einer ökonomisch abhängigen und sozial unterentwickelten Peripherie liegen, sondern sollte auf Gleichberechtigung, Demokratie und sozialem Ausgleich beruhen. Dieses Leitbild auszuarbeiten und Schritte zu seiner Verwirklichung zu konkretisieren und zu gehen, halten wir für die wichtigste Aufgabe europäischer Politik in diesem Jahrzehnt.