Vollbeschäftigung und eine starke Sozialverfassung - Alternativen für eine Neue Ökonomie in Europa

Erklärung europäischer Wirtschaftswissenschaftlerinnen und Wirtschaftswissenschaftler für eine alternative Wirtschaftspolitik in Europa

- Zusammenfassung -

1. Die wirtschaftliche und soziale Situation in der EU gibt trotz der optimistischen Darstellungen in der Öffentlichkeit Anlass zu großer Sorge:

Der derzeitige Aufschwung ist fragil und die Arbeitslosigkeit befindet sich weiterhin auf einem inakzeptabel hohen Niveau, das rund viermal höher ist als in den 60er Jahren. Ungleichheit in all ihren Ausprägungen breitet sich überall in Europa aus: Ungleiche Einkommensverteilung, prekäre Arbeitsbedingungen, wachsende Armut, anhaltende Geschlechterungleichheit sowie die enorme Ungleichheit zwischen Ost- und Westeuropa.

2. Die Wirtschafts- und Sozialpolitik muss aufgrund ihres außerordentlich engen Ansatzes kritisiert werden.

Makroökonomisch haben die ausschließliche Fixierung der Geldpolitik auf Preisstabilität sowie die fiskalpolitische Manie der Defizitbegrenzung zu der hohen Arbeitslosigkeit beigetragen und werden es wahrscheinlich auch in Zukunft tun. Gleichzeitig untergräbt eine Sozialpolitik, die unter dem Slogan ,,aktivierender Sozialstaat" betrieben wird, den sozialen Inhalt von Vollbeschäftigung und schwächt den sozialen Zusammenhalt wie die Solidarität. Sie führt zu vielfältigen Formen der Ungleichheit und unterwirft die schwächeren Teile der Gesellschaft zunehmendem Zwang und stärkerer Repression.

3. Als Alternative zu dieser regressiven Ausrichtung der Politik schlagen wir vor:

- Eine effizientere und demokratischere makroökonomische Politik, die nachhaltiges Wachstum und mehr sozial reichhaltige Beschäftigung bis hin zu Vollbeschäftigung garantiert. Um dieses Ziel zu erreichen, sind eine expansivere Fiskalpolitik und eine kooperative Geldpolitik sowie einer Kontrolle über Wechselkurse und Finanzmärkte notwendig;

- Eine ausgeprägtere Sozialpolitik mit dem Ziel, eine Sozialverfassung zu entwickeln, die jedem Individuum der EU das unbedingte Recht eines Lebens in Würde garantiert. Dies durchzusetzen erfordert einerseits Maßnahmen, die die Bedingungen für progressive nationale Politiken verbessern, und es erfordert andererseits Maßnahmen auf europäische Ebene wie die Verabschiedung von Mindeststandards für Sozialausgaben im Allgemeinen und für bestimmte Zwecke wie Gesundheit und Kinderbetreuung im Besonderen;

- Eine ausgewogenere Strukturpolitik, die vor allem eine pragmatischere Handhabung der Wettbewerbspolitik ermöglicht, mehr Gewicht auf Forschung und strategische Industriepolitik sowie auf eine gezieltere regionale und aktivere Handelspolitik legt;

- Eine bessere und entschiedenere Vorbereitung der Osterweiterung: Die Vollendung der institutionellen Reformen sollte als Voraussetzung für die Erweiterung fallengelassen werden. Für die Bereiche, die für beide Seiten sensibel sind, sollten großzügige Übergangsperioden ausgehandelt und Transferzahlungen substantiell ausgeweitet werden, um den Beitritt zu erleichtern;

- Eine Entwicklung von Konzepten für einen radikaleren Umbau von Wirtschaft und Gesellschaft, die nicht das Wachstum, sondern die Wohlfahrt der Menschen in den Mittelpunkt stellen, und mit denen neue Wege für die individuelle sowie kollektive Reproduktion begangen werden.

Vollbeschäftigung in Sicht?

Am Ende dieses Jahres stellen Politiker und Medien die wirtschaftliche und soziale Situation in der EU der Öffentlichkeit mit äußerst positiven und optimistischen Worten dar: Die Wirtschaft befände sich in einem Stadium des kräftigen konjunkturellen Aufschwungs und des anhaltenden Wachstums, das in einem Jahr zu mehr als zwei Millionen neuen Arbeitsplätzen geführt hat. Diese dynamische Entwicklung würde, so wie die Neue Ökonomie in den USA, anhalten und das Problem der Arbeitslosigkeit lösen. Auf dem Gipfeltreffen in Lissabon wurde sogar Vollbeschäftigung als ein Hauptziel der europäischen Wirtschaftspolitik formuliert, ein Ziel, das für mehr als zwei Jahrzehnte aus der offiziellen EU-Terminologie verbannt war. Vollbeschäftigung soll noch in diesem Jahrzehnt in Europa durch die Verbreitung der ,,Wissensgesellschaft" und die ,,Modernisierung der Sozialsysteme" erreicht werden. Dieses vereinfachende Bild von der Zukunft überzeugt uns nicht. Es unterschätzt die Risiken eines Scheiterns und lässt die Notwendigkeit des institutionellen Wandel sowie einer entschiedenen Politik zur Sicherung von Wachstum und sozialer Gerechtigkeit außer acht. Wir sind über das weiterhin hohe Niveau der Arbeitslosigkeit besorgt, ebenso wie über die wachsende Ungleichheit und regionale Disparitäten innerhalb der EU und im Vergleich zu Osteuropa. Unsere Kritik an der derzeitigen Wirtschafts- und Sozialpolitik in der EU lässt sich in drei Hauptpunkten zusammenfassen: Erstens denken wir, dass die EU die Stärke und Nachhaltigkeit des derzeitigen konjunkturellen Aufschwungs nicht korrekt einschätzt. Unserer Meinung nach ist dieser Aufschwung eher fragil und hängt stark von externen Faktoren ab, wie zum Beispiel vom anhaltenden Aufschwung der US-Wirtschaft, der von einer Welle der Konsumnachfrage (zum Teil begünstigt durch den Boom auf dem Aktienmarkt) getragen wurde und zu unvertretbar niedrigen (manchmal negativen) Ersparnissen und von einem hohen Handelsbilanzdefizit begleitet ist. Wir kritisieren, dass die EU in ihren wirtschaftspolitischen Positionen die notwendigen europäischen Instrumente und Koordinationsmechanismen für nachhaltiges Wachstum und sozial abgesicherte Arbeitsplätze im Falle einer Abschwächung der externen Faktoren nicht bereitstellt. Wir kritisieren außerdem, dass die EU nicht genügend Anstrengungen unternimmt, um den Aufschwung in einer Weise zu nutzen, die den Notwendigkeiten Rechnung trägt, die Verteilung von Einkommen und Reichtum zu verbessern sowie einen ökologischen Umbau einzuleiten. Zweitens sind wir besonders über den sozialen Gehalt besorgt, der mit den Konzepten der Vollbeschäftigung und der Wohlfahrt im Prozess des massiv propagierten Umbaus des Sozialstaates zu einem ,,aktivierenden Sozialstaat" verbunden wird. Wir stellen fest, dass das Konzept der Vollbeschäftigung viel von seinem ursprünglichen Gehalt, den es nach dem Zweiten Weltkrieg besaß (ausreichende Löhne, soziale Sicherheit und Freiheit) verloren hat. Diese Werte wurden unter dem Druck von Deregulierung, Flexibilisierung und ,,sozialer Modernisierung" zunehmend ausgeschaltet oder fallengelassen: Vollbeschäftigung soll durch niedrigere und ausdifferenziertere Löhne, stärkere Unsicherheit und verstärkten Druck auf Arbeitslose, irgendeinen angebotenen Job anzunehmen, erreicht werden. Beschäftigung wird vor allem als ein Mittel gesehen, um möglichst hohe wettbewerbsfähige Wachstumsraten zu erzielen. Die Qualität der Beschäftigung wird dabei jedoch völlig vernachlässigt. Die Rhetorik des ,,aktivierenden Sozialstaates" enthält zwar positive Ansätze, wie die Schaffung von mehr und besseren Arbeitsmöglichkeiten. Sie enthält jedoch auch eine klare Tendenz zu sozialem Zwang durch die Streichung von Sozialleistungen für diejenigen, die nicht genügend Fähigkeiten, Anpassungsvermögen und Flexibilität besitzen. In einer Situation immer noch sehr hoher Arbeitslosigkeit halten wir es für kontraproduktiv, wenn die EU sich beispielsweise auf eine Politik der Sanktionen stützt, um ältere Menschen länger im Arbeitsprozess zu halten. 2.Wir sind auch über die Tendenz innerhalb der Kommission beunruhigt, zunehmend Teile des Sozialsystems unter dem Vorwand zu privatisieren, dass die Menschen mehr Eigenverantwortung übernehmen müssten. Diese Privatisierungen kommen großen institutionellen Investoren auf den Finanzmärkten entgegen, aber sie setzen eine Mehrheit der Menschen einem erhöhten Risiko und größerer Unsicherheit aus, die sie, wenn überhaupt, nur über höhere individuelle Kosten tragen können. Drittens kritisieren wir in bezug auf die makroökonomische Politik, dass die Kommission in ihrem Bericht Grundzüge der Wirtschaftspolitik 2000 Vollbeschäftigung zwar als neues Hauptziel der Wirtschaftspolitik nennt, aber dieses Ziel offensichtlich ohne gleichzeitige Veränderungen ihres engen neoliberalen wirtschaftspolitischen Ansatzes erreichen will. Dieser Ansatz wurde mit dem Vertrag von Amsterdam kodifiziert und mit dem Stabilitäts- und Wachstumspakt erneut festgeschrieben. Die Geldpolitik erhält einen vollständig unabhängigen Status, in dem die Preisstabilität zum höchsten Ziel erklärt wird, das für demokratische Diskurse und Entscheidungsprozesse nicht zugänglich ist. Die Fiskalpolitik muss sich dem Imperativ der Haushaltssanierung unterordnen, der zu einem schnellen Haushaltsausgleich oder sogar zu Haushaltsüberschüssen führen soll. Damit wird die Verantwortung für Beschäftigung auf den dritten Pfeiler makroökonomischer Politik, die Lohnpolitik, verlagert. Die Kommission stimmt im Allgemeinen dem Grundsatz zu, ,,Löhne im Verhältnis zur Arbeitsproduktivität zu erhöhen", empfiehlt jedoch gleichzeitig, ,,die Profitabilität kapazitäts- und beschäftigungsfördernder Investitionen zu erhalten und wo notwendig zu stärken". Anders ausgedrückt bedeutet dies eine weitere Einkommensumverteilung zugunsten der Profite, obwohl der Gewinnanteil am Volkseinkommen in den letzten Jahrzehnten in einer beispiellosen Weise gestiegen ist! Dies unterstellt einen negativen Zusammenhang zwischen Löhnen und Beschäftigung, den wir als theoretisch und empirisch unbegründet zurückweisen. Lohnsenkungen werden die preisliche Wettbewerbsfähigkeit von Firmen, die mit Ländern konkurrieren, in denen die Löhne fünfmal niedriger sind als in Europa, nicht wesentlich verbessern. Dafür wird jedoch die Binnennachfrage für in Europa hergestellte Produkte und somit auch die Beschäftigung in Europa eingeschränkt. Die Beschäftigungspolitischen Leitlinien 2001 enthalten einen differenzierteren Ansatz. Die neue Berücksichtigung der Sozialpartner und die Betonung des lebenslangen Lernens als Querschnittziele sowie der Fokus auf die Geschlechterfrage bedeuten einen Fortschritt. Wir sehen jedoch auch hier Gefahren und Bedrohungen für das, was wir für das letztliche Ziel von Beschäftigungspolitik halten: Es geht nicht um die quantitative Erhöhung der Zahl der beschäftigten Personen um jeden Preis, sondern um die Verbesserung der sozialen Wohlfahrt durch die Schaffung von ausreichend sozialverträglichen Arbeitsplätzen. Die Erfüllung der anvisierten Orientierung, die Beschäftigungsrate von 62% auf 70% im Jahr 2010 zu erhöhen, wird nur dann einen Fortschritt für die Wohlfahrt in Europa bedeuten, wenn die zusätzlich beschäftigten Menschen freiwillig arbeiten, ausreichend bezahlt werden, vor Unsicherheit oder Willkür ihres Arbeitgebers geschützt sind und ihre beruflichen sowie kreativen Fähigkeiten am Arbeitsplatz entwickeln können. Es kann nicht ernsthaft bezweifelt werden, dass genügend wirtschaftliches Potential für eine solche Form der Verbesserung der sozialen Wohlfahrt vorhanden wäre. Wir wissen jedoch, dass dieses Potential nicht ausschließlich durch die Kräfte des Marktes entwickelt werden kann. Wir haben ernsthafte Zweifel, dass die europäischen Institutionen die politische Herausforderung der Verbesserung sozialer Wohlfahrt und ökologischer Nachhaltigkeit in Europa wirklich angenommen haben. Statt dessen beobachten wir eine zunehmende Hinwendung zu bloßem Wachstum ohne jegliche sozialen und ökologischen Qualifikationen und Ambitionen. In einigen Passagen der Leitlinien für die Wirtschaftspolitik und in der Erklärung von Lissabon scheint die Beschäftigung nur ein Instrument für die Erreichung der ultimativen Ziele Wachstum und Wettbewerbsfähigkeit zu sein, anstatt erstrangig nachhaltiges Wachstum zu fördern, das als Instrument zur Schaffung von Beschäftigung dienen könnte. 3.In theoretischer Hinsicht beruhen die Leitlinien der Europäischen Kommission, wenn auch nicht ausdrücklich so formuliert, auf dem Konzept der ,,Arbeitslosenrate, die die Inflation nicht beschleunigt" (NAIRU), das ironischerweise wegen seiner inhaltlichen Beliebigkeit in seinem Ursprungsland - in den USA - kaum noch verwendet wird. Diese Konzept geht davon aus, dass sich in einem gegebenen institutionellen Rahmen (Arbeitsmarkt) die Inflation beschleunigt, wenn die Arbeitslosigkeit unter die NAIRU fällt. Gibt es einen wirtschaftspolitischen Vorrang für die Bekämpfung steigender Inflationsraten, dann hat die Geldpolitik die Aufgabe, die Beschäftigung auf das NAIRU- Niveau zu bringen - auch wenn dies Rezession bedeuten sollte. Wird das NAIRU-Niveau der Arbeitslosigkeit als zu hoch betrachtet, dann wäre nach diesem Konzept nicht eine expansive Beschäftigungspolitik der richtige Weg, dieses Niveau zu senken, sondern ein Umbau der Arbeitsmärkte hin zu mehr Flexibilität. Dies bedeutet in der Regel eine Einschränkung von Arbeitnehmerrechten und Löhnen sowie eine Zunahme des effektiven Angebotes von Arbeit durch die Einschränkung von Leistungen für Arbeitslose und andere Formen des Druckes auf Arbeitslose. Abgesehen von den produktivitätshemmenden Nebeneffekten, die durch zunehmend gering bezahlte und prekäre Arbeitsverhältnisse verursacht werden, ist auch die Hauptaussage dieser Theorie fragwürdig. Denn sie interpretiert erstens die Inflation fälschlicherweise als eine Konsequenz hoher Löhne, statt als Folge unzureichender Kapazitäten. Zweitens vernachlässigt die Theorie die entscheidende Rolle der effektiven Nachfrage als Bedingung für die Beschäftigung. Die Senkung der Löhne, des Arbeiterschutzes und der sozialen Leistungen werden nicht zu höheren Investitionen und zu mehr Beschäftigung führen, wenn Unternehmen nicht erwarten, dass es ausreichend Nachfrage für die zusätzlichen Produktion geben wird, die sie zu niedrigeren Kosten produzieren können. Die Politik der binnenwirtschaftlichen Einschränkungen führte in Land mehr und mehr in die Abhängigkeit von Exportüberschüssen, die jedoch immer schwieriger zu erzielen sind. Selbst wenn anhaltende Exportüberschüsse für einzelne Länder zu realisieren wären, sind hiermit mehr Instabilitäten und Anfälligkeiten der Weltwirtschaft verbunden. Die Kommission hat während der vergangenen ein bis zwei Jahre ihr öffentliches Engagement in Bereichen der Beschäftigungs- und Wirtschaftspolitik merklich verstärkt. Sie hat deutlicher als zuvor soziale Ziele wie Vollbeschäftigung und sozialen Zusammenhalt betont. Selbstverständlich begrüßen wir diesen neuen Ton, da damit anerkannt wird, dass Wohlfahrt nicht den freien Marktkräften überlassen werden kann. Dennoch sehen wir - nicht überall, aber in zunehmenden Maße - dass noch immer der alte neoliberale und fundamentalistische Geist vorherrscht. Wir beobachten die beunruhigende Tendenz, dass die sozialen Errungenschaften der letzten 40 Jahre unter dem Vorwand eingeschränkt und unterlaufen werden, sie seien nicht mehr bezahlbar. Dieses Argument lässt sich nur schwer halten, da es ja offensichtlich ist, dass unsere reichen Gesellschaften mehr Reichtum produzieren als je zuvor. Wir betrachten dieses Argument nicht als einen schlichten intellektuellen Fehler, sondern wir sehen starke und mächtige Interessengruppen hinter der Kampagne, die Arbeitsmärkte zu deregulieren und die Sozialsysteme zu privatisieren. Diese Entwicklung verstärkt die Tendenz zu mehr Ungleichheit, die bereits vor 20 Jahren in den USA und in Europa einsetzte.

2. Die Zunahme der Ungleichheit

Die langanhaltende Zunahme der Ungleichheit innerhalb der EU ist in unseren Augen die am meisten beunruhigende Tendenz. Auch wenn für die Mehrheit der Bevölkerung Einkommen und Lebensstandard ausreichend erscheinen mögen, leben wir immer noch in einem sozioökonomischen Umfeld hoher Arbeitslosigkeit und zunehmend prekärer Beschäftigungsverhältnisse. Dies führt zu mehr Unsicherheit und Einschränkung der Lebensbedingungen von vielen und bedeutet Armut für einen erheblichen Teil der Bevölkerung. Wir betrachten diese Tendenz nicht als eine unausweichliche Folge der Globalisierung, sondern als eine Konsequenz neoliberaler Wirtschafts- und Sozialpolitik: Deregulierung und Liberalisierung einerseits und die Fixierung auf Preisstabi4.lität und einen ausgeglichenen Haushalt andererseits unterlaufen das Ziel des sozialen Zusammenhalts und schaffen keine Bedingungen für sozial nachhaltiges und beschäftigungsintensives Wachstum. Die Dominanz dieser Politikorientierung reflektiert in unseren Augen nicht nur eine neue ökonomische Ideologie, sondern auch einen deutlichen Wandel in der sozialen Beziehung zwischen Arbeit und Kapital, der letztendlich die Machtstrukturen des Kapitalismus der Gegenwart verstärkt.

Ungleichheit in Europa hat viele Dimensionen:

Makroökonomisch betrachtet vollzog sich in den letzten 25 Jahren ein Wechsel in der Einkommensverteilung zugunsten der Profite und zulasten der Löhne. Die Lohnquote ist in allen EULändern gefallen. Diese Entwicklung war mit einem schwächeren Wachstum und sehr geringer Beschäftigungszunahme verbunden. Folglich blieb die effektive Nachfrage zurück, und die Arbeitslosigkeit wuchs in den 90er Jahren auf ein unvergleichliches Niveau von mehr als 10% der zivilen Arbeitskräfte. Auch wenn die Arbeitslosenzahlen in den vergangenen zwei Jahren leicht gefallen sind, sollte nicht vergessen werden, dass sie im europäischen Durchschnitt immer noch viermal höher als in den 60er Jahren und zweimal höher als in den 70er Jahren sind. Dafür ist zu einem beträchtlichen Maße eine Wirtschaftspolitik verantwortlich, die fast ausschließlich den Schwerpunkt auf den Kampf gegen die Inflation legte, anstatt sich auf eine ausgewogene Strategie für Beschäftigung und soziale Wohlfahrt zu konzentrieren. Diese Politik war insofern erfolgreich, als sie die Inflation auf ein zu vernachlässigendes Niveau drückte. Doch der Preis war hoch: Anhaltend hohe Arbeitslosigkeit und weniger sozialer Zusammenhalt sind die Folgen. In unseren Augen war der Preis zu hoch - und er war auch nicht notwendig. Er hätte mit einer anderen Wirtschaftspolitik - für mehr und bessere Arbeitsplätze, mehr Wohlfahrt und soziale Gerechtigkeit - vermieden werden können, ohne zu einer übermäßigen Inflation zu führen.

Arbeitslosigkeit ist weiterhin der wichtigste Faktor für Ungleichheit und für soziale Ausgrenzung.

Der drastische Einkommensverlust der betroffenen Personen kann durch Arbeitslosengeld, das während der vergangenen Jahre in vielfacher Weise in fast allen EU-Mitgliedstaaten gekürzt und eingeschränkt wurde, nicht ausgeglichen werden. Abgesehen von dem Einkommensverlust führt Arbeitslosigkeit tendenziell zu einem Verlust an professionellen Fähigkeiten sowie zur Isolation und zu nachlassenden sozialen Kontakten bei den Betroffenen. Dies trifft vor allem auf jene zu, die schon seit mehr als ein oder zwei Jahren ohne Arbeit leben. Ihr Anteil an den gesamten Arbeitslosen betrug 1999 45% beziehungsweise 31%.

Die Verschlechterung von Arbeitsbedingungen:

Die Arbeitslosigkeit übt in zweifacher Hinsicht einen großen Druck auf die Löhne und Arbeitsbedingungen der Beschäftigen aus: Erstens als ein allgemeiner Abwärtstrend bei den Löhnen und zweitens als Druck in Richtung mehr sozialer Ungleichheit. Die Zahl der TeilzeitarbeiterInnen hat überall zugenommen, und in der zweiten Hälfte der 90er Jahre bestanden mehr als die Hälfte aller neu geschaffenen Arbeitsplätze aus Teilzeitarbeit. Auch wenn es keine genauen Zahlen gibt, so wird dennoch aus verschiedenen Umfragen deutlich, dass viele ZeitarbeiterInnen Vollbeschäftigung suchen, aber nicht finden können. Darüber hin aus haben befristete Arbeitsverhältnisse und Scheinselbständigkeit zugenommen, bei der faktische Lohnarbeiter von ihrem Arbeitgeber gezwungen werden, sich als Unternehmer registrieren zu lassen. Auch die Informalisierung der Arbeit spiegelt die Zunahme von Unsicherheit und Risiken für Arbeit und Beschäftigung wider. Die Modernisierung hat für viele Tätigkeiten einen neuen Druck erzeugt, d.h. mehr Belastung am Arbeitsplatz, um den Anforderungen einer strafferen Organisation als Reaktion auf verschärften Wettbewerb gerecht zu werden.

5.Einkommensarmut:

Arbeitslosigkeit, ungenügend bezahlte Arbeit und andere Formen der Unsicherheit haben zu einem hohen und weithin steigenden Niveau der Armut geführt, während Profite und Einkommen aus finanziellen Investitionen - die in großem Umfang nur für ein kleine Gruppe Gutverdienender zu erzielen sind - steigen. Mitte der 90er Jahre lebten rund 18% der EU Bevölkerung in Armut (mit einem Einkommen unter 60% des jeweiligen nationalen Durchschnittseinkommens). In Großbritannien (20%), Griechenland und Italien (21%) sowie Portugal (24%) war der Anteil sogar höher. Im EU-Durchschnitt trifft die Armut alleinerziehende Eltern mit mehr als einem Kind (d.h. Mütter!) dreimal stärker als den Rest der Bevölkerung. In Großbritannien ist das Armutsrisiko für diese Gruppe fünfmal höher als für die Gesamtbevölkerung.

Öffentliche Verarmung - private Bereicherung:

Hohe Arbeitslosigkeit, niedrige Löhne und Einkommensarmut sind noch bedrückender, wenn sie von einer schrittweisen öffentlichen Verarmung begleitet werden. Das ist die gegenwärtige Tendenz. Die Fixierung auf einen ausgeglichenen Haushalt, verbunden mit einer ebenso starken Obsession für Steuersenkungen für Unternehmen und die Finanzwelt, setzten die öffentlichen Haushalte unter Druck und führten zu radikalen Kürzungen der Ausgaben. Der Löwenanteil dieser Kürzungen fiel auf die Sozialausgaben: Arbeitslosengeld und Krankengeld, Kinderbetreuung und kommunale Wohlfahrt, das gesamte Netzwerk sozialer Dienstleistungen, von dem die sozial Schwachen und die Armen zu einem großen Teil abhängen. Die Kürzungen und Verschärfungen der Zugangsbedingungen für Sozialleistungen dienen dazu, die Arbeitslosigkeit zu reduzieren, ohne die öffentlichen Ausgaben zu erhöhen. Die Infrastruktur, wie zum Beispiel der öffentliche Transport und die Bildung, wurde ebenso zum Ziel von Einschränkungen und Kürzungen, während andere Einrichtungen, wie zum Beispiel die Wasser- und Energieversorgung sowie soziale Dienstleistungen, privatisiert wurden. Ausschließliches Ziel war die Kostensenkung, während die Qualität von Infrastruktur und Dienstleistungen unverändert blieb. Die Ausgaben für öffentliche Bildung und kulturelle Einrichtungen werden gekürzt, während private und teuere Schulen unterstützt und subventioniert werden. Dies alles trägt zu einer kulturellen Spaltung bei, die den Dualismus der zukünftigen Wissensökonomie verschärft.

Regionale Ungleichheiten: Auch wenn sich die Einkommensunterschiede pro Kopf zwischen den Mitgliedsländern der EU leicht verringert haben, bleiben sie auf regionaler Ebene unverändert. Regionale Disparitäten bei den Arbeitslosenquoten nahmen in den letzten 15 Jahren sogar zu. Die Strukturpolitik der EU war nicht effektiv genug und ist der Herausforderung, regionale Unterschiede auszugleichen, nicht gerecht geworden. Die geplante Verminderung der Mittel für solche Maßnahmen läuft Gefahr, die Situation noch weiter zu verschlechtern.

Geschlechterungleichheit: Trotz der anhaltenden Verbesserung der Beschäftigungsquote von Frauen in den meisten Ländern während der letzten Jahre bleibt die Differenz zwischen Männern und Frauen inakzeptabel hoch: Die Quote liegt bei Männern in vergleichbaren, vollbeschäftigten Arbeitsverhältnissen immer noch um 26 Prozentpunkte höher als bei Frauen. Diese Differenz trifft vor allem auf Menschen mit einem niedrigen Bildungsniveau und auf Frauen mit Kindern zu. Ein zweiter Pfeiler der Geschlechterungleichheit bezieht sich auf die weiterhin bestehende Einkommensdiskriminierung. Im Durchschnitt der EU, allerdings mit deutlichen Unterschieden zwischen den Ländern, liegen die Stundenlöhne im Privatsektor für Frauen bei nur 73% im Vergleich zu denen für Männer. Es scheint, dass politische Maßnahmen, wie die Einführung eines Mindestlohnes, notwendig sind. Wo sie durchgesetzt wurden, haben sie zu einer Verringerung der Geschlechterungleichheit beigetragen. Alleinstehende Frauen mit Kindern befinden sich in einer besonders ungünstigen Lage, da sie nicht nur dem Risiko der Arbeitslosigkeit, sondern auch Niedriglohn- und Armutsrisiken ausgesetzt sind.

Ungleichheiten zwischen Ost und West:

Eine vollständig neue Dimension der Ungleichheit ergibt sich aus der Perspektive der EU-Erweiterung. Europa als Ganzes stellt sich noch ungleicher dar als die derzeitige EU. Insgesamt hat die Ungleichheit in Europa während des letzten Jahrzehnts noch deutlich zugenommen. Während im Westen das BIP, die industrielle Produktion und die Dienstleistungen wuchsen, wenn auch in moderater Weise, nahmen sie im Osten dramatisch ab - in manchen Fällen wurde das Niveau von 1990 bis heute noch nicht wieder erreicht. Deshalb ist der Unterschied zwischen Ost und West, der schon in den 80er Jahren existierte, nicht geringer geworden, sondern hat in den 90er Jahren stark zugenommen. Die Arbeitslosigkeit stieg an und die Polarisierung hat begonnen, den sozialen Zusammenhalt in den osteuropäischen Ländern zu untergraben. Auch wenn einige dieser Prozesse auf den Zusammenbruch des vorigen Systems zurückzuführen sind und somit als soziale Transformationskosten bezeichnet werden können, so war doch das Ausmaß des Rückschritts und der Verarmung nicht unvermeidbar. Sie wurden vor allem durch eine Transformationspolitik erzeugt, die nicht von den neuen Parlamenten und Regierungen bestimmt wurde, sondern die ihnen vom Westen, vor allem vom IWF und der Weltbank auferlegt wurde. Die Triade aus Privatisierung, Liberalisierung und Deregulierung, kombiniert mit der entsprechenden makroökonomischen Politik - dem sogenannte Konsens von Washington - führte die ohnehin schwachen Ökonomien Osteuropas endgültig in den Ruin. Folglich werden nun alle Formen der Ungleichheit und der Polarisierung aus dem Westen in die bislang stärker egalitären Gesellschaften transportiert.

3. Vollbeschäftigung mit einer starken Sozialverfassung für Europa - Alternative Orientierungen für die Wirtschaftspolitik

Die Tendenz zu größerer Ungleichheit in einem Umfeld hoher Arbeitslosigkeit und zunehmend unsicherer Arbeits- und Lebensbedingungen ist nicht ohne Alternative. Selbst unter den derzeitigen institutionellen Gegebenheiten gibt es verschiedene Möglichkeiten, den Kurs der Politik zu ändern. Wir schlagen vor, die vorhandenen Instrumente der Makro, Sozial- und Strukturpolitik auszuschöpfen, um diesen Wandel auf den Weg zu bringen. Gleichzeitig ist es notwendig, einen Prozess der demokratischen Neugestaltung europäischer wirtschaftsstruktur- und sozialpolitischer Institutionen in Gang zu setzen, um den Aufbau eines starken Sozialmodells in Europa zu erleichtern, eines Modells, das auf der Grundlage von ,,Vollbeschäftigung in einer freien Gesellschaft" beruht und die neuen osteuropäischen Länder mit umfasst.

Vollversion als PDF | Teil II

Die Erklärung und das Memorandum ,,Europäischer WirtschaftswissenschaftlerInnen für eine alternative Wirtschaftspolitik in Europa" sind das Ergebnis gemeinsamer Anstrengungen und Diskussionen einer Gruppe europäischer ÖkonomInnen auf einer Konferenz in Brüssel Ende September diesen Jahres. Es ist geplant, diese alternativen wirtschaftspolitischen Leitlinien regelmäßig zu veröffentlichen, als kritischer Gegenpart zu den offiziellen, von der EU verfassten wirtschafts- und beschäftigungspolitischen Leitlinien. Die Erklärung wurde und wird mit dem Ziel verbreitet, möglichst zahlreiche Unterschrif-ten von professionellen ÖkonomInnen zu erhalten. Damit soll zum Ausdruck gebracht werden, dass es weitverbreitete Bedenken und Kritik an der derzeitigen Situation sowie an den sozialpolitischen Orientierungen der EU gibt. Die englische Fassung der Erklärung und des Memorandums wurden der Öffentlichkeit der EU-Mitgliedsstaaten kurz vor dem Gipfeltreffen in Nizza Anfang Dezember 2000 präsentiert.

Kontaktpersonen sind:

Miren Etxezarreta, Universitàt Autónoma de Barcelona, fax +34 93 581 22 92
e-mail: Miren.Etxezarreta@uab.es

John Grahl, University of North London, fax +44 207 753 50 51
e-mail: J.Grahl@unl.ac.uk

Jörg Huffschmid, Universität Bremen, fax +49 421 218 45 97
e-mail: Huffschmid@ewig.uni-bremen.de

Jacques Mazier, Université de Paris 13, fax +33 1 49 40 33 34
e-mail: Mazier@seg.univ-paris13.fr

Impressum:

Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik

Postfach 33 04 47, 28334 Bremen
E-Mail: memorandum@t-online.de
http://www.memo.uni-bremen.de

Redaktion: Axel Troost

Satz & Layout: Mathias Brodkorb

Preis: Einzelheft (auch im Abonnement) jeweils DM 4,-
ab 10 Exemplare DM 3,-

Bankverbindungen:
Axel Troost-Sonderkonto, Postgiroamt Hamburg
(BLZ 200 100 20) Konto-Nr.: 1000 11 - 203

Eine wirksamere und demokratischere Makro-Politik für Vollbeschäftigung

Das Ziel einer schnellen Reduzierung der Arbeitslosigkeit sollte mit allen Instrumenten makroökonomischer Politik - der Geld,- Fiskal- und Lohnpolitik - angegangen werden:

Als Sofortmaßnahmen schlagen wir vor, dass die EU konkrete, quantitative und kurzfristige Ziele sowie makroökonomische Schritte einleitet, mit denen sich die Arbeitslosigkeit reduzieren lässt. In Ländern mit einer Arbeitslosenquote von mehr als 6% sollte sie um 20% pro Jahr verringert werden, in Mitgliedstaaten mit einer relativ niedrigen Arbeitslosenquote sollte die weitere Verminderung mindestens 10% pro Jahr betragen. Diese Reduzierung sollte jedoch ohne Verschlechterung der Arbeits- oder Lohnbedingungen erreicht werden. Durch Koordinierungsvereinbarungen sollten länderspezifische Gegebenheiten und Institutionen berücksichtigt werden, die spezifische Ansätze benötigen, wie zum Beispiel öffentliche Investitionsprogramme, die Ausdehnung des öffentlichen Dienstes in der Bildungs- und Gesundheitspolitik oder der Sozialhilfe oder öffentlich finanzierte Arbeitsplätze und verschiedene Formen der Arbeitszeitverkürzung. Es sollte außerdem vereinbart werden, dass die Bestimmungen zur Beschränkung des Haushaltsdefizits aufgehoben werden, wenn höhere öffentliche Ausgaben notwendig sind, um das Beschäftigungsziel umzusetzen. Darüber hinaus schlagen wir vor, dass ein Stillhalteabkommen mit sofortiger Wirkung gegen eine weitere Senkung der Unternehmens- und Kapitalsteuern vereinbart wird, um dem Steuerwettbe7.werb Einhalt zu gebieten. In bezug auf die Geldpolitik halten wir es für unabdingbar, dass die EZB eine mehr beschäftigungsorientierte Fiskalpolitik durch eine lockerere Geldpolitik unterstützt. Das schließt zumindest die Bereitschaft ein, von weiteren Erhöhungen der Zinsen abzusehen, besser noch eine maßvolle Senkung zuzulassen. Versuche, den Einfluss des gestiegenen Ölpreises auf die Inflationsrate durch die Geldpolitik zu neutralisieren, können - wenn überhaupt - nur mit inakzeptablen Kosten Erfolg haben, und würden die EU direkt in die Rezession führen. Die Lohnpolitik ist selbstverständlich in erster Linie eine Angelegenheit der Sozialpartner. Wir unterstützen das Ergebnis der Konferenz von Doorn, demzufolge die Gewerkschaften der Mitgliedsstaaten sich mit ihren Lohnforderungen an der Entwicklung der Produktivität orientieren wollen. Das schließt jedoch eine aktive Beteiligung der Politikerinnen und Politiker an einer öffentlichen Diskussion über Löhne nicht aus.

Als mittel- und langfristiges Politikziel schlagen wir eine weitergehende Agenda vor, die institutionelle Reformen für mehr Demokratie und Effizienz makroökonomischer Politik enthält. Grundlegende Elemente dieser Reformen sind:

a. Eine demokratischere Koordination zwischen Geld- und Fiskalpolitik. Dies erfordert einerseits eine Neuformulierung der Aufgaben und Struktur der EZB: Ihre Aufgabe sollte nicht ausschließlich auf den Erhalt der Preisstabilität ausgerichtet sein, sondern auch Verantwortung für Wachstum und Beschäftigung umfassen. Die Struktur sollte so verändert werden, dass die Unabhängigkeit der EZB sich auf das Tagesgeschäft beschränkt, während die Bank in transparenter Weise vor dem Europäischen Parlament sowie dem Rat Rechenschaft ablegen sollte. Eine demokratischere und effizientere Koordination von Geld- und Fiskalpolitik erfordert andererseits die Einrichtung einer wirtschaftspolitischen Institution für die Währungsunion, die als Partner und Gegenpart zur EZB agieren kann. Konkret ist damit gemeint, den Einfluss und die Kompetenz des EURO11Rates (ab dem 1.1.2001 Euro12Rates) zu stärken, und seine Empfehlungen sowie Entscheidungen der öffentlichen Debatte und der Kontrolle durch das Europäische Parlament auszusetzen.

b. Eine demokratischere und verbindlichere Koordination der Wirtschaftspolitik zwischen den Mitgliedsstaaten. Erstens sollte die wirtschaftspolitische Koordination, die in den ,,Grundzügen der Wirtschaftspolitik" formuliert wird, den unangemessen restriktiven Ansatz fallen lassen und sich mehr auf die Förderung der Beschäftigung und sozialökologischer Nachhaltigkeit konzentrieren. Zweitens sollten die Empfehlungen der wirtschaftspolitischen Leitlinien einen verbindlicheren Charakter in Form von Richtlinien oder Verordnungen erhalten. Ihre Einhaltung sollte überprüft werden. Sollten bestimmte Beschäftigungsziele nicht erreicht werden, sind eine effizientere Planung und Unterstützung notwendig.

c. Eine schrittweise Erhöhung des EU-Haushaltes. Wenn die EU ein stabiler und kohärenter Raum mit Vollbeschäftigung und sozialem Zusammenhalt werden will, so müssen ihre zentralen wirtschaftlichen Institutionen in der Lage sein, mehr als die derzeit vereinbarten 1,27% des EUBIP auszugeben. Ein höheres Ausgabenniveau ist für die Anpassung an asymmetrische Schocks und für Verteilungsziele in einer Union mit großen und steigenden Disparitäten grundsätzlich notwendig. Höhere EU-Ausgaben sind vor allem unverzichtbar, um den Beitritt der osteuropäischen Ländern zu unterstützen. Diese Erweiterung wird als wichtigstes politisches Ziel betrachtet, aber sie ist auch die bedeutendste ökonomische und soziale Herausforderung dieses Jahrzehnts. Doch die finanziellen Vorkehrungen, um diese Herausforderung zu bestehen, sind ungenügend - und sie gehen auf Kosten der schwächeren Regionen und Gruppen innerhalb der derzeitigen EU. Wir schlagen deshalb eine schrittweise Erhöhung des EU-Haushaltes auf 5% des EUBIP im Jahre 2005 vor.

d. Eine Reform des Einnahmensystems der EU. Diese Reform ist in zweierlei Hinsicht notwendig: Erstens, um den schädlichen Steuerwettbewerb in der EU zu beenden, ist eine strikte Koordination und schließliche Harmonisierung der Unternehmens- und Kapitalsteuern sehr wünschenswert. Zweitens müssen, um einen höheren EU-Haushalt finanzieren zu können, neue Einnahmequellen zur Verfügung gestellt werden. Dies würde gleichzeitig bessere Chancen für mehr Fairness und Lastenverteilung, für ökologische Nachhaltigkeit und besseren Schutz vor den Turbulenzen der Finanzmärkte bedeuten. Wir schlagen deshalb vor: - eine progressive EU-Steuer, die von den Mitgliedstaaten entsprechen ihrer ökonomischen Stärke (pro-Kopf-Einkommen) aufgebracht wird, - eine Steuer auf Primärenergien, außer erneuerbare Energien und - eine Steuer auf Devisentransaktionen (Tobin Steuer) einzuführen sowie das Aufkommen aus den harmonisierten Unternehmens-,- Zins, Dividenden- und Kapitalertragssteuern dem EU-Haushalt zuzuführen.

e. Ein europäischer Stabilisierungsfonds für Beschäftigung. Der Fonds sollte eine automatische Stabilisierungsfunktion erhalten, indem er den schnellen Transfer in Länder organisiert, in denen eine deutlich schlechtere Entwicklung von Beschäftigung und Arbeitslosigkeit als im Durchschnitt der EU stattfindet. Dieser Fonds kann entweder über den EU-Haushalt oder durch eigenständige Beiträge der Mitgliedstaaten finanziert werden. Auf der Ebene der Mitgliedstaaten sollte die gleiche Funktion über die Bereitstellung eines Eventualhaushalts erfüllt werden, auf den beim Überschreiten einer bestimmten Schwelle zurückgegriffen werden kann.

f. Kontrolle der Finanzmärkte: Um die Finanzspekulation einzudämmen, sollte die EU die Eigenkapitalanforderungen für Finanzinstitutionen mit risikoreichen Aktivitäten heraufsetzen, wie zum Beispiel beim Handel mit Derivaten und anderen kurzfristigen Papieren. Geschäfte mit Offshore-Zentren sollten mit wirtschaftlichen und administrativen Sanktionen belegt werden. Eine Steuer auf Börsen- und Devisentransaktionen könnte helfen, die Geschwindigkeit und Unbeständigkeit der Finanzmärkte zu begrenzen. Extreme Kapitalzu- und -abflüsse, die die Funktionsfähigkeit der EWU gefährden, sollten wenn notwendig durch zeitlich beschränkte Kapitalverkehrskontrollen beschränkt werden.

g. Übernahme der Kontrolle über die Wechselkurspolitik: Um die europäische Wirtschaft vor spekulativen Attacken und den Turbulenzen der Finanzmärkte zu schützen ist die Übernahme der Kontrolle über die Wechselkurspolitik von zentraler Bedeutung. Wir schlagen vor, diese Kontrolle von der EZB auf den Rat zu übertragen. Der Rat sollte natürlich eng mit der EZB zusammenarbeiten. Gleichzeitig sind wir dafür, flexible Bandbreiten zwischen dem Euro, dem Dollar und dem Yen einzuführen, um eine extreme Wechselkursinstabilität mit schädlichen Begleiterscheinungen zu verhindern.

Aufbau einer starken europäischen Sozialverfassung

Die EU verkörpert viele verschiedene Modelle des sozialen Schutzes, der Wohlfahrtssysteme und der Sozialpolitiken. Diese Vielfältigkeit sollte anerkannt und ihre Stärke nicht durch die derzeitige marktgesteuerte Homogenisierung, die bereits alle Systeme geschwächt hat, zerstört werden. Die Vielfalt sollte auch nicht der Ausgangspunkt für einen ,,Wettlauf nach unten" zwischen sozialen Modellen sein. Am Ende würde ein Europa mit mehr Ungleichheit sowie weniger Zusammenhalt und Wohlfahrt entstehen. Im Gegenteil: Die EU-Politik sollte die Mitgliedstaaten ermutigen, ihre Sozialpolitik zu stärken, ohne ihre spezifischen nationalen Modelle aufzugeben. Zu diesem Zweck muss die EU das soziale Klima verbessern und mehr Manövrierraum für eine stärkere Sozialpolitik auf nationaler Ebene zulassen. Sie muss deshalb die restriktive Begrenzung der öffentlichen 9.Ausgaben aufgeben und eine expansivere makroökonomische Politik verfolgen. Aber die EU kann und sollte noch mehr tun. Sie sollte die Vielfältigkeit der Sozialstaatsmodelle als Ausgangspunkt wählen, um darauf eine Europäische Sozialverfassung als bindenden Rahmen für die Umsetzung grundlegender sozialer Rechte überall in der Union zu entwerfen. Diese Verfassung sollte die gleiche politische Bedeutung wie und womöglich eine höhere rechtliche Verbindlichkeit als die Charta der Grundrechte haben, die zur Zeit diskutiert wird. Die umfassende Idee einer Sozialverfassung sollte sein, dass jede Person mit festem Wohnsitz in der EU das uneingeschränkte Recht auf Einkommen, sozialen Schutz, Wohlfahrt und demokratische Beteiligung am sozialen Leben hat, die notwendig ist, um ein unabhängiges und würdevolles Leben zu führen. Dieses Recht kann über verschiedene Wege, die auf EU-Ebene diskutiert werden sollten, garantiert werden. Arbeitsschutzstandards und weitere Bestimmungen existieren bereits mit dem Sozialprotokoll, das nun in den Vertrag aufgenommen wurde. Die EU sollte jedoch Mindeststandards formulieren, die jedes Mitgliedsland erfüllen muss, diese zur Diskussion stellen und dann bestimmte Ziele für jedes Land setzen. Dieses Verfahren ist mit dem vergleichbar, das im Luxemburg-Prozess für die Beschäftigungspolitik angewandt wurde; es sollte jedoch verbindlicher gemacht werden. Als einen allgemeinen Ansatz für die Formulierung von Mindeststandards empfehlen wir die Idee einer länderspezifischen Mindestquote der Wohlfahrts- und Sozialausgaben am BSP. Diese Quoten würden zusammen einen europäischen Rahmen für Sozialausgaben schaffen. Es sollte vereinbart werden, dass sie nicht sinken, sondern tendenziell steigen. In diesem Prozess könnten die ansonsten häufig angewandten Methoden der Setzung von ,,benchmarks" und ,,best practices" in einem progressiven Sinne als Ausgangspunkt für die Formulierung von konkreten Zielen der Sozialpolitik genutzt werden. Wo der Anteil der Sozialausgaben sinkt, sollten auf EU-Ebene angemessene Maßnahmen für das entsprechende Land diskutiert und gefördert werden. Über dieses allgemeine Minimum der Sozialausgaben sollte die EU einen Mindestsozialstandard für bestimmte Bereiche verabschieden, d.h.: - Es sollten Bestimmungen gegen Lohndumping verabschiedet werden, die den abhängig Beschäftigten eine Bezahlung garantiert, die mit den Regeln der Tarifverträge in den jeweiligen Ländern, in denen sie arbeiten, übereinstimmt. Die EU sollte eine Richtlinie annehmen, mit der die Mitgliedsländer verpflichtet werden, einen rechtlich abgesicherten Mindestlohn einzuführen. Dieser Mindestlohn würde von Land zu Land entsprechend der jeweiligen Situation unterschiedlich sein und die Tarifverhandlungen nicht ersetzen. Die EU sollte Standards für den besonderen sozialen Schutz neuer Arbeitsformen, wie der Teilzeitarbeit, befristeter Arbeitsverhältnisse, Niedriglohnarbeit und Selbständigkeit setzen. In den Arbeitsbeziehungen sollten Übereinkommen geschlossen und Maßnahmen ergriffen werden, die gewährleisten, dass Firmen, die ihre Produktion verlagern, einen erheblichen Teil der sozialen Kosten tragen, die daraus für die Angestellten und die Regionen entstehen.

Ausgeglichenere Strukturpolitiken

Die europäische Strukturpolitik ist durch verschiedene Schwächen gekennzeichnet: Der Vorrang der EU-Wettbewerbspolitik, die Logik eines einheitlichen Marktes, der die Grenzen nationaler Märkte durchbricht, eine schwache Forschungs- und Innovationspolitik auf EU-Ebene, die Abwesendheit einer Industriepolitik und das Fehlen einer strategischen Vision für Europa als Ganzes, die Schwäche und der Mangel einer klaren Orientierung für die Handelspolitik als Antwort auf den US-Aktivismus. Grundsätzlich bieten die Vielfältigkeit und Differenzierung europäischer Produkte einen großen Vorteil, aber die Logik der Uniformität innerhalb eines ,,großen Marktes" verhindert bislang eine wirkliche Ausnutzung dieses Vorteils. In der Praxis wird der Flexibilisierung der 10.Arbeitsmärkte und der Reduzierung der Lohnkosten der Vorrang gegeben. All diese Tendenzen führen zu einer Unterschätzung der nichtpreislichen Elemente des Wettbewerbs und erschweren eine mittelfristige Entwicklung, die zu einer Wiederherstellung der Vollbeschäftigung führen könnte. Die Verschärfung des Wettbewerbs und die quantitative Ausdehnung der Produktion (economies of scale) sind wichtige Faktoren der Polarisierung, die regionale Ungleichheiten vertiefen. Strukturpolitisch orientierte öffentliche Interventionen sollten erneuert werden, um eine stärkere und weniger ungleiche Entwicklung zu unterstützen. Diese Interventionen, die primär auf nationaler Ebene ansetzen, werden oft nicht ausreichend koordiniert und sogar auf europäischer Ebene eingeschränkt. Die europäische Wettbewerbspolitik beispielsweise führt in vielen Fällen zu immer stärkeren Beschränkungen. In Übereinstimmung mit den dominierenden Prinzipien des freien Marktes werden nationale Interventionen beschränkt, ohne dass dies mit einer deutlicheren Zunahme der Intervention auf EU-Ebene kompensiert würde. Ein ausgeglichenerer Ansatz, in dem mehr Wert auf das Ziel der ökologischen Nachhaltigkeit gelegt würde, wäre deshalb wünschenswert. Inhaltlich wäre es notwendig, eine pragmatischere Position in der Wettbewerbspolitik einzunehmen, eine aktivere Forschungs- und Innovationspolitik zu unterstützen, eine Industriepolitik auf Gemeinschaftsebene einzuführen, die Regionalpolitik zu stärken und gleichzeitig selektiver anzuwenden sowie letztendlich eine energischere Handelspolitik zu verfolgen.

Eine bessere Vorbereitung der Osterweiterung

Die Osterweiterung wird allgemein als die wichtigste Herausforderung der EU in diesem Jahrzehnt angesehen. Mit ihr sind aber auch eine Reihe ökonomischer und sozialer Probleme sowie ernsthafte wirtschaftspolitische Herausforderungen verbunden. Wenn diese nicht in angemessener Weise gelöst werden, werden auf beiden Seiten die Vorbehalte gegen die Erweiterung zunehmen und Formen offener Feindseligkeit, der Ablehnung und des nationalen Chauvinismus sowie der Fremdenfeindlichkeit zunehmen. Dies würde das historische Projekt einer umfassenden europäischen Einigung, des Friedens und der Demokratie in ganz Europa ernsthaft gefährden. Derartige Entwicklungen sind schon jetzt sichtbar und sollten Anlass zu großen Bedenken geben. Die EU sollte deshalb Unsicherheiten, die die Erweiterungspolitik betreffen, auf ihrem nächsten Gipfel ausräumen und ein konkretes Programm für die Osterweiterung und für die erweiterte wirtschaftliche Zusammenarbeit mit den osteuropäischen Ländern in Kraft setzen. Eine entschlossene Integrationsstrategie erfordert ein ausgefeiltes langfristiges Konzept sowie viele Instrumente des Übergangs und flexibler Politik. In Vorbereitung der EU-Erweiterung sollten folgende Orientierungen gelten: Der Beitritt sollte nicht von der Umsetzung der gesamten institutionellen Reformen innerhalb der EU abhängig gemacht werden. Der Beitritt sollte frei zwischen gleichen Partnern, d.h. zwischen den nationalen Behörden der betroffenen Länder und der EU verhandelt werden. Alle Möglichkeiten der Beteiligung der Bevölkerung dieser Länder, ihre Vorstellungen von der Integration auszudrücken, sollten ausgeschöpft werden. Die EU sollte sich mit großzügigen Übergangsperioden und Bestimmungen, die für beide Seiten von Vorteil wären, einverstanden erklären. Für die osteuropäischen Länder sollte der Übergang zu einer vollständigen Liberalisierung ihrer Märkte und ihrer Industrieprodukte verlängert werden, um den Unternehmen mehr Zeit zur Anpassung an den stärkeren Wettbewerbsdruck zu geben und um eine weitere Entindustrialisierung oder Senkung der Löhne und Sozialstandards zu verhindern. Auf der Seite des Westens sollte eine ausreichende Übergangsperiode für die Liberalisierung der Arbeitsmärkte vorgesehen werden, um einen weiteren Migrationsdruck von Ost nach West zu verhindern, durch den sich die Ablehnung gegen die Erweiterung verschärfen könnte. Solche Übergangsphasen wurden beim Beitritt von Griechenland, Spanien und Portugal ausgehandelt und sind zum Teil noch in Kraft. Besondere Vereinbarungen werden für die Landwirtschaftspolitik notwendig sein. Aber es ist nicht akzeptabel, dass den osteuropäischen Ländern für lange Zeit der Zugang zu westlichen Märkten in einem Sektor verwehrt wird, auf dem sie einen potentiellen Wettbewerbsvorteil besitzen. Die Mittel für Strukturpolitik sollten deutlich aufgestockt werden, da ihre gegenwärtige Höhe für die Bewältigung der strukturellen Probleme, die mit der Erweiterung auftreten werden, völlig unzureichend ist. Der Beitritt neuer Mitglieder wird die Disparitäten bei den Einkommen und die sozialen Unterschiede zwischen den Mitgliedstaaten und den Regionen der neuen EU stärker steigern als seinerzeit der Beitritt von Griechenland, Spanien und Portugal. Es kann also nicht angehen, dass die ohnehin bescheidene strukturpolitische Unterstützung für neue Mitglieder fast ausschließlich aus der Absenkung der Zahlungen für derzeitige Mitglieder finanziert werden soll. Wenn die EU ernsthaft an der Umsetzung ihrer Verlautbarung, die Osterweiterung sei die größte Herausforderung des Jahrzehnts, sowie an der erfolgreichen Bewältigung dieser Herausforderung interessiert ist, dann muss die strukturpolitische Unterstützung für den Beitritt erhöht werden. - Die Erweiterung muss von einer angemessenen makroökonomischen Politik vorbereitet und begleitet werden. Es muss genug Bewegungsspielraum für eine wachstumsorientierte Politik der neuen Mitglieder geben, einschließlich einer angepassten Geld- und Fiskalpolitik und einer unterstützenden Wechselkurspolitik innerhalb eines neuen europäischen Währungssystems.

Eine breitere Perspektive für eine sozialere und gerechtere Gesellschaft

Die vorstehenden Vorschläge für eine Wirtschafts- und Sozialpolitik, die sich an dem Ziel der Vollbeschäftigung und des sozialen Zusammenhaltes orientieren, erfordern sofortige Schritte und mittelfristige institutionelle Reformen. Doch auch diese Reformen gehen über den Rahmen einer kapitalistischen Gesellschaft, die auf Privateigentum an Produktionsmitteln sowie der Kontrolle der Produktion und der Verteilung durch Profite, Wettbewerb und freie Märkte setzt, nicht hinaus. Sie betreffen die Quantität und Qualität öffentlicher Intervention in diesen Prozess. In einem engeren ökonomischen Sinne basieren sie auf einem Konzept des Wachstums, das einerseits stimuliert werden muss, um ausreichend Arbeitsplätze zu schaffen und das andererseits eingeschränkt werden muss, um destruktive ökologische und soziale Konsequenzen zu vermeiden. Dieser offensichtliche Widerspruch lässt sich zur Zeit nicht aufheben. Wir nehmen ihn aber als Ausgangspunkt für Überlegungen über eine breit angelegte Perspektive wirtschaftlicher und sozialer Entwicklung, die weitergehende Vorschläge für eine fundamentale Transformation der Gesellschaften benötigt. In dieser Perspektive steht die soziale Wohlfahrt im Zentrum der grundlegenden Ziele der Wirtschafts- und Sozialpolitik. Diese Wohlfahrt basiert immer weniger auf dem allgemeinen Wachstum, und sie ist noch weniger von konstanten Wachstumsraten abhängig, die eine immer weiter steigende Produktion und mehr Dienstleistungen voraussetzen. Der Aspekt der Verteilung des Reichtums und der Einkommen erhält mehr Bedeutung als das Wachstum. Soziale Sicherheit wird somit auch weniger abhängig von individuellem privatem Konsum, wenn die Einkommensarmut einmal beseitigt ist. Dann werden kollektiver Konsum und öffentliche Güter und Dienste eine größere Rolle spielen. In einer solchen Perspektive kann die Arbeitszeit weit unter das derzeitige Niveau gesenkt werden, ohne die individuelle und kollektive materielle Wohlfahrt zu verringern. Gleichzeitig hätte die gestiegene Freizeit einen immateriellen Wohlfahrtseffekt. Ebenso kann die Verbin12.dung von Einkommen und Erwerbsarbeit, die bereits in verschiedener, manchmal problematischer und negativer Weise gelockert wurde, durch die Einführung eines bedingungslosen Mindesteinkommens für alle systematisch entkoppelt werden. Eine solche Perspektive würde in der langen Frist auf eine nichtkapitalistische, kooperative Gesellschaft hinauslaufen, in der individuelle und kollektive Reproduktion in ganz neuer Weise reguliert und organisiert werden, und die dem Individuum somit mehr Möglichkeiten für die volle Entfaltung seiner kreativen Fähigkeiten und Wünsche einräumt. Auch wenn dies eine langfristige Perspektive sozialer Entwicklung ist, so können und sollten wir uns dennoch mit solchen Vorstellungen mit dem Ziel beschäftigen, sie konzeptionell weiter auszubauen. Eine solche Klärung kann zur Entwicklung politischer Energie und Stärke beitragen, die für die Umsetzung neuer Gesellschaftsmodelle notwendig ist. Selbst die bescheideneren Vorschläge dieses Memorandums können nicht ohne starken und entschlossenen politischen Druck, der auf sozialer Mobilisierung und Bewegung beruht, umgesetzt werden. Denn auch die große und zunehmende Ungleichheit, die nach unseren Ausführungen die derzeitige Struktur und politische Tendenz der EU ausmacht, ist weder ein Schicksal, noch verursacht sie nur Verlierer. Sie ist das Resultat einer Politik, die im Interesse einer davon profitierenden Minderheit durchgesetzt wird, und sie wird von dieser Minderheit der Öffentlichkeit als insgesamt positiv oder zumindest unausweichlich dargestellt. Wenn diese Behauptungen widerlegt und Alternativen in der Öffentlichkeit sichtbar und plausibel werden, wird es harte politische Gegenwehr geben, um die Privilegien einer Minderheit gegen die Interessen der Mehrheit zu verteidigen. Die Frage der Demokratie und der Demokratisierung der Wirtschaft ist deshalb die Grundlinie aller - kurzfristigen, mittel- und sehr langfristigen - Forderungen nach wirtschaftlichen und sozialen Alternativen zum NeoLiberalismus.

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