Wozu noch Gewerkschaften?

Sind die Gewerkschaften am Ende? Folgt man der herrschenden Meinung, ist die Frage entschieden. Das jedenfalls ist das Bild, das sich täglich bietet: ...

... Unbeweglich und betonköpfig blockieren die Gewerkschaften die überfälligen wirtschaftspolitischen Reformen, konservieren in ihren sozialpolitischen Vorstellungen die industrielle Welt von vorgestern, blind gegenüber dem gesellschaftlichen und ökonomischen Wandel und den Herausforderungen der Zukunft; sie sind fixiert auf eine bornierte Interessenwahrnehmung zugunsten der Arbeitsplatzbesitzer und zu Lasten derer, die als Arbeitslose oder prekär Beschäftigte bereits ausgeschlossen sind, kurz, ein Altherrenclub, über den soeben die Geschichte hinweggeht. Solches und Ähnliches lesen und hören wir täglich, in den Medien, in der politischen Debatte, neuerdings auch aus sozialdemokratischem Mund. Das Bild ist nicht neu, doch die Einheitlichkeit des Urteils und die Schärfe seines Vortrags sind ungewohnt und lassen schrecken. Da bleibt es nicht aus, dass selbst in den Publikationen für die gebildeten Stände, die an sich einem demokratischen und im besten Sinne liberalen Verfassungsverständnis verpflichtet sind, mal eben Eckpunkte verfassungsrechtlich verbürgter Sozialstaatlichkeit, wie Tarifautonomie und Streikrecht, zur Disposition gestellt werden. Nun kennen wir den typischen Reflex der solcher Art Vorgeführten: Wir schelten die Medien, reden beschwörend von einer Kampagne und versuchen in der Opferrolle Trost zu finden. Doch werfen wir etwa einen Blick auf das Schauspiel, das derzeit mehr oder minder verantwortliche Funktionäre der IG Metall der fassungslosen Mitgliedschaft vorführen, so scheint dies sämtliche Vorurteile zu bestätigen; als befänden wir uns auf dem Weg der Selbstabwicklung! Oder: Wenn Abbau arbeitsrechtlichen Schutzes und Kürzung sozialer Leistungen bei gleichzeitiger Reichtums-Pflege in der Bevölkerung, auch in der Mitgliedschaft hingenommen, ja als "Reform" akzeptiert werden, kann man dies nicht allein dem "Gegner" anlasten; da muss in der eigenen Arbeit etwas schief gelaufen sein. Darauf ist zurückzukommen. Doch vorab sei vor Panik gewarnt. Wir erleben - hierzulande wie andernorts - einen Triumph neoliberaler Politik, der einen ungeahnten Konformitätsdruck ausübt und keine Alternativen duldet. Nun wissen wir: Wer sich herrschenden Dogmen verweigert, stört. Kann es da überraschen, wenn Kritiker, die jenem Kurs entgegentreten und auf dessen desaströse Folgen aufmerksam machen, als Reformoder Globalisierungsgegner denunziert werden, ganz im Stile altbekannter Ausgrenzungsmuster? So gesehen müsste es eher nachdenklich stimmen, wenn sich die herrschende Meinung nicht auf die Gewerkschaften einschießen würde. Gleich ob nun Modernisierer oder Traditionalisten den Ton angeben - die Gewerkschaften können gar nicht anders, als zum Beispiel auf den Kündigungsschutz pochen, die Privatisierung der sozialen Sicherung bekämpfen, die Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes verteidigen und die Minderung der Arbeitslosenhilfe zu verhindern suchen, dies übrigens ausdrücklich im Interesse derer, die nicht "Arbeitsplatzbesitzer" sind. Oder: sollten die Gewerkschaften der Verarmung der öffentlichen Hand im Namen einer umverteilenden Haushalts-und Steuerpolitik zugunsten von Geldvermögens-Besit-zern kommentar-und tatenlos zusehen? Ist es borniert, daran zu erinnern, dass knappe öffentliche Kassen und Haushaltslöcher politisch gewollt sind, also auch revidierbar? Und eine Umkehr ist geboten, wenn man den zur propagandistischen Beliebigkeit verkommenen Begriff der Nachhaltigkeit ernst nimmt: Es geht um die gesellschaftliche und öffentliche Infrastruktur, die wir unseren Kindern hinterlassen und von deren Verlässlichkeit und Qualität Ökonomie und Wohlstand der künftigen Generationen abhängt. Nebenbei, die Gewerkschaften haben angesichts des Umstandes, dass heute jedes dritte neu aufgenommene Mitglied jünger als 27 Jahre ist, mehr Legitimation, für die künftige Generation zu sprechen, als alle politischen Parteien zusammen genommen! Köpfe und Herzen erreichen So viel zur notwendigen Entdramatisierung. Wichtiger ist der Blick aufs eigene Verhalten. Um dies an Beispielen der jüngsten Vergangenheit deutlich zu machen: Dass die IG Metall jüngst für kürzere Arbeitszeiten gefochten hat, dafür verdient sie eigentlich Lob. Dass sie, nach dem Erfolg in der Stahlindustrie, in der Metallindustrie aufgeben musste, ist ein beschäftigungspolitischer Rückschlag, der alle trifft. In einer Wirtschaft, die dank Produktivitätsfortschritt Jahr für Jahr bei schrumpfender gesamtgesellschaftlicher Arbeitszeit ein wachsendes Sozialprodukt erzeugt, ist eine solidarische Arbeitsumverteilung unverzichtbar. Geschieht dies nicht, schlägt sich der steigende Freizeitgewinn in wachsender Arbeitslosigkeit nieder - der sozial und ökonomisch unsinnigsten Verteilungsvariante. Doch wir mussten zur Kenntnis nehmen, dass die 35-Stunden-Woche ihre politische Symbolkraft verloren hat. Dies kann nicht allein dem "Gegner" angelastet werden. Es ist ja unbestreitbar, dass sich die Arbeitsanforderungen geändert haben und weiter ändern werden, unter anderem mit der Folge, dass sich der Umgang mit der eigenen Arbeit und das Arrangement der eigenen Freizeit ausdifferenzieren. Sie lassen sich nicht mehr über den Leisten einer Einheitsforderung schlagen. Zugleich schwindet die Bedeutung der wöchentlichen und täglichen Stundenbegrenzung als Gewährleistung eigener Freizeit. Der Acht-Stunden-Tag war in Zeiten der industriellen Maloche eine erlebbare Befreiung. Heute gewinnen dagegen qualitative Zonen garantierter Freizeit wachsendes Gewicht, wie der freie Samstag, das Kontingent selbst bestimmter freier Tage, das Recht auf Weiterbildung, die Ruhephase nach einem Projektabschluss oder der Zusatzurlaub einschließlich eines Sabbaticals. Auch solche Frei-zeit-Räume sind typisierbar und demnach tarifpolitischer Rechtseinräumung zugänglich. Der selbstkritische Umgang mit der 35-Stunden-Woche heißt also nicht, auf Arbeitszeitverkürzung verzichten - im Gegenteil! Nur enthält die Zielmarke der 35-, realistischer übrigens: der 30-Stunden-Woche für viele Beschäftigte nicht mehr eine reale Größe, um der eigenen Arbeit Grenzen zu setzen; bestenfalls wirkt sie als eine Art Leitwährung oder Umrechnungskurs, aus der sich das Volumen an freier Zeit bestimmen lässt, zu dem der eigene Anteil an Wertschöpfung und Produktivität berechtigt. Die Kritik richtet sich mit anderen Worten darauf, dass wir Gefahr laufen, den Kontakt zu den realen Bedürfnissen und Präferenzen, die Anknüpfung ans Alltagsbewusstsein zu verlieren. Für die Gewerkschaften wäre dies verhängnisvoll. Ziele, die die Lebenswirklichkeit eines wachsenden Teils der Mitgliedschaft nicht mehr einfangen, laufen Gefahr, die Köpfe und Herzen nicht mehr zu erreichen, mit der weiteren Folge, selbst gegen die unsinnigsten Einwände schutzlos zu werden. Kommentare und Berichte Hinzu kommt: Für die Hälfte der Bevölkerung, die Frauen, die mehr denn je auf Teilzeitjobs abgedrängt werden, war die 35-Stunden-Woche schon gestern schwer nachvollziehbar. Ja, glaubt man(n) wirklich, mit der tarifpolitischen Fixierung auf die Begrenzung der Erwerbsarbeit unter Ausblendung der Reproduktionsarbeit die Situation all der Frauen zu treffen, die durch Mehrfachbelastung und schlechte Bezahlung den Preis für das männlich dominierte Normalarbeitsverhältnis zahlen? Hier drohen uns die soziale Wirklichkeit und die daraus resultierenden individuellen Lösungen der Frauen davonzulaufen. Für die Tarifpolitik kann das einen empfindlicheren Substanzverlust heraufbeschwören als die Tarifflucht einzelner Arbeitgeber!

Auf sich allein gestellt

Eine andere Herausforderung stellt sich zwangsläufig mit dem Seitenwechsel der SPD, von den Grünen ganz zu schweigen. Gewerkschaftliche Autonomie, seit der Massenstreik-Debatte Anfang des 19. Jahrhunderts, erst recht seit Gründung der Einheitsgewerkschaften nach dem Zweiten Weltkrieg fester Bestandteil gewerkschaftlicher Konfession, wird plötzlich erstmals real abgefordert. Wenn Gewerkschaften der Realität gerecht werden wollen, müssen sie sich der Tatsache stellen, dass ihnen ihr traditioneller Weggefährte abhanden gekommen ist, nicht erst seit der Zustimmung zur Agenda 2010. Erstmals sind die Gewerkschaften auf sich allein gestellt. Das macht allem Anschein nach auch die Härte und Unbarmherzigkeit aus, mit der die Gewerkschaften derzeit in die Isolation gedrängt werden. Eine erste Antwort lautet, die Basis im gesellschaftlichen und sozialen Umfeld zu verbreitern. Den Luxus der Selbstgewissheit der eigenen Rolle, die mitunter zu überheblicher Distanz gegenüber anderen Initiativen und Vereinigungen führte, werden sich die Gewerkschaften künftig nicht mehr leisten können. Nicht, dass jetzt allerorten krampfhaft und blind Bündnispartner eingesammelt werden müssten. Doch es gibt Themen, die geradezu danach rufen, gemeinsam mit anderen aufgegriffen zu werden. Das gilt erst recht, wenn sie mit tarifpolitischen Mitteln nicht oder nur mangelhaft zu lösen sind. Die zunehmende - politisch verantwortete - Polarisierung und Verarmung in unserer Gesellschaft muss zum Beispiel den Kirchen ebenso nahe gehen wie den Gewerkschaften. Oder: Der Ausverkauf kommunaler Einrichtungen, um die Finanznot der Gemeinden vorübergehend zu lindern, trifft zahllose Bürger, die durchaus auf Unterstützung der Gewerkschaften angewiesen sind; ver.di setzt sich derzeit gemeinsam mit örtlichen Initiativen mit Erfolg in mehreren Gemeinden gegen die Privatisierung von Krankenhäusern zur Wehr.

Geliehene Autorität

Um den Stein noch weiter zu werfen: Die öffentliche und gesellschaftliche Autorität der Gewerkschaften beruht nicht zuletzt auf ihrer Einbettung in das soziale und staatliche Gefüge der Bundesrepublik. Solange Tarifverträge ihre Ordnungsfunktion erfüllten, brauchten die Unternehmer die Gewerkschaften. In Zeiten der Tarif-Ero-sion ist das nicht mehr der Fall. Zugleich waren und sind die Gewerkschaften - auch als Ergebnis erfolgreicher Kämpfe um soziale Reformen - in vielfältiger Weise institutionell präsent, in den Einrichtungen der Sozialversicherung, in der Mitbestimmung, in öffentlichen Institutionen, von der Ar-beits-und Sozialgerichtsbarkeit bis zum öffentlich-rechtlichen Rundfunk, und nicht zuletzt in Gesprächskreisen auf Regierungsebene, von der Konzertierten Aktion bis zu den unterschiedlichen Bündnissen für Arbeit, runden Tischen etc. Heute erleben wir, dass all das brüchig wird, was der Rheinische Kapitalismus an formellem und informellem Institutionengeflecht unter Beteiligung der Sozialpartner geschaffen hat. Eine solche korporatistische Einbettung schafft Anerkennung; doch es ist geliehene Macht. Diese Autorität schwindet, unaufhaltsam. Ein Traumtänzer, wer glaubt, durch Stillhalten auch morgen noch bei Hofe willkommen zu sein und von dessen Glanz etwas mitnehmen zu können! Wenn geliehene Autorität schwindet, gilt es, eigene aufzubauen. Dies kann nur gelingen, wenn die sozialen Wurzeln gestärkt werden. Kraft können die Gewerkschaften erhalten und neue hinzugewinnen als überzeugender Anwalt der Opfer einer Ökonomie, die sich nur einem Ziel, dem der maximalen Kapitalrendite, verpflichtet weiß und zu deren Förderung derzeit fast alle gesellschaftlichen Sektoren den Gesetzen von Markt- und Kaufkraft unterwirft. Betroffen sind die Arbeitnehmer/innen, vor allem die, die heute bereits an den Rand gedrängt sind, als prekär Beschäftigte und als Arbeitslose. Denen also, die unten stehen, eine Stimme zu geben, authentisch und unverfälscht, sollte wie bei der Entstehung der Gewerkschaften vor langen Jahrzehnten, Auftrag sein. Hier liegt die Legitimation der Gewerkschaften. Überflüssig zu betonen, dass dies ein steiniger Weg ist. Immerhin gilt es von einer Integrations-und Mitbestim-mungs-Kultur Abschied zu nehmen, die ganze Generationen von Aktiven geprägt hat. Doch die Neubesinnung scheint unverzichtbar. Vielleicht tut es sogar gut, unter dem Eindruck der aktuellen Angriffe eine Phase der Selbstvergewisserung über die Wurzeln eigener und zwar authentischer Autorität einzuleiten. Dies wäre im Übrigen ein Projekt, das der Begleitung und Unterstützung vieler bedarf, auch außerhalb der Gewerkschaften.