Der Mord an Enver Simsek am 9. September 2000 in Nürnberg war der Anfang einer bis dato beispiellosen Serie von Tötungsdelikten durch Neonazis. Zugleich war es der Anfang einer Geschichte von Ermittlungen, die geprägt waren von Vorurteilen, Fehleinschätzungen und auf Vorurteilen gründenden Fehleinschätzungen. Im Fall Enver Simsek, einem Blumengroßhändler, kam bereits kurz nach der Tat der Verdacht auf, dass dieser mit Drogenschmuggel etwas zu tun haben müsse – als Blumenhändler war Enver Simsek sehr oft in Holland, um Ware zu holen – für eifrige Ermittler ein deutliches Indiz.
Am 13. Juni 2001 erschossen die Neonazis Abdurrahim Özüdogru, Mitarbeiter einer Änderungsschneiderei, in Nürnberg und zwei Wochen später den Obst- und Gemüsehändler Süleyman Tasköprü in Hamburg. Da die Händler ihre Ware ebenfalls regelmäßig in Holland bezogen, wurde weiter in Richtung Drogenmilieu ermittelt – ohne Ergebnis. Aber zumindest war wegen der immer gleichen Tatwaffe schnell klar, dass es sich um eine »Mordserie« handelte, auch wenn völlig unklar blieb, wer dafür verantwortlich war.
Der vierte Mord geschah am 29. August 2001 in München, das Opfer war Habil Kiliç. Auch er war Obst- und Gemüsehändler. Die daraufhin gegründete »Soko Halbmond« ging von einer Verknüpfung zum Drogenhandel bzw. zur organisierten Kriminalität aus.
Gegen einen politischen Hintergrund der Taten sprach aus Sicht der Ermittler anscheinend auch, dass es keinerlei Bekennerschreiben gab. Und anscheinend kam die Polizei nicht von selbst darauf, in diese Richtung zu ermitteln. Auch spiegelte sich in der Ermittlungsrichtung wieder, mit welchen Vorurteilen und Klischees auch nach fast 50 Jahren Einwanderungsgeschichte über die türkischstämmigen Immigrant_innen der ersten und zweiten Generation gedacht wurde: Geldwäsche, Drogenmafia, organisiertes Verbrechen und dubiose Verbindungen ins Ausland.
Doch die »heiße Spur« nach Amsterdam, von der ab Ende 2002 verschiedene Medien berichteten, erkaltete schnell, und so tappte die Polizei weiter im Dunkeln. Doch der Blick der Ermittler richtete sich weiter auf die Opfer und deren Familien. Organisierte Kriminalität, Banden aus den anatolischen Bergen, »Türken-Mafia«, »Halbmond-Mafia« und derlei Ausdrücke mehr geisterten durch die Medienlandschaft und machten klar, woher der Wind wehte. Nach dem Mord an Mehmet Turgut 2004 wurden in den Herkunftsdörfern der Angehörigen in der Türkei tagelange stigmatisierende Befragungen durchgeführt und ein Fall von Blutrache unterstellt. Auch der Nagelbombenanschlag in der Kölner Keupstraße vor dem Friseursalon von Özcan Y. im selben Jahr führte dazu, dass dieser im Fokus der Ermittlungen stand und deshalb mehrfach frühmorgens aus dem Bett geholt und verhört wurde. Mit der 2005 in Nürnberg gegründeten »Besonderen Aufbauorganisation Bosporus« (BAO) wurde ein weiterer Name ins Spiel gebracht, mit dem klar war, dass es sich hier um eine Tötungsserie von »Ausländern« an »Ausländern« handelte.
Familienangehörige der Getöteten waren verbittert. Die deutsche Polizei werde die Täter nicht finden, sagten sie und kritisierten die einseitigen, von Stereotypen geprägten Ermittlungen. Doch die Aussage »Ihr werdet die Täter nicht finden«, wurde genau im Sinne des doch eigentlich kritisierten ausgelegt: Die Familien müssten vor jemandem große Angst haben, sonst würden sie ja reden, hieß es. Die Mär von der Ausländerkriminalität verhärtete sich, im Umfeld der Familien der Mordopfer wurde weiter ermittelt. »Die schwer durchdringbare Parallelwelt der Türken schützt die Killer«, hieß es im »Spiegel« 2006. »Wir konnten ihnen nicht sagen, was wir nicht wussten«, sagte dagegen Semiya Simsek, Tochter des im Jahr 2000 ermordeten Enver Simsek in einem Fernsehinterview im Februar 2012.
In den Medien war kaum Kritik an der Einseitigkeit der Ermittlungen zu vernehmen. Zwar wurde kritisch berichtet, dass die Behörden auf der Stelle träten und auch nach Jahren keine heiße Spur hätten. Die rassistischen Stereotype, die über Jahre leitend für die Ermittlungen waren, stellen sie jedoch nicht infrage, auch nicht 2007 bei den Ermittlungen zum Mord an der Polizistin Michèle Kiesewetter. Die Ermittlungen wurden »intensiv im Zigeunermilieu« geführt.
Der Leiter der Soko Bosporus, Wolfgang Geier, sagte im April 2006, durch die Ermittlungen sei man sich bewusst geworden, »wie wenig die Polizei eigentlich über ausländische Bevölkerungsteile und ihre Mentalität in unserem Lande weiß«. Im September war man da schon weiter: »Die eine Ermittlungsrichtung geht davon aus, dass die Opfer Mitglieder, Angehörige einer kriminellen Organisation waren, die unter Umständen nicht so gespurt haben, wie man sich das vorgestellt hat und deshalb abgestraft worden sind. Wir haben deshalb auch im bisherigen Leben der Opfer keinen Stein auf dem anderen gelassen«, so der Nürnberger Kripo-Kommissar.
Nachdem die verschiedenen heißen Spuren ins Drogenmilieu, in die »Spielhöllen« und in die organisierte Kriminalität erkaltet waren, kam Ende 2009 eine neue These auf, wieder hatte der »Spiegel« sie aufgedeckt: »Die Spur der Mörder führt zur Wettmafia«, titelte das Hamburger Nachrichtenmagazin. Von Schulden der Opfer wird berichtet, von übel zugerichteten Schuldnern und harten Strafen, wenn einer nicht bezahlen kann. »Angehörige beteuerten stets, das Opfer habe keine Feinde gehabt, sei weder verschuldet gewesen noch spielsüchtig. Oder vielleicht doch? Dass die Polizei keine Beweise fand, hat wohl nicht viel zu sagen. In dem Milieu, in dem nun die Bochumer Staatsanwaltschaft ermittelt, werden keine Verträge geschlossen.«
Doch auch diese Spur führte zu nichts. Dann, ein knappes Jahr später, deckte der »Spiegel« die Story wiederum neu auf: Aus Ermittlerkreisen will man erfahren haben, dass man einer »mächtigen Allianz zwischen rechtsnationalen Türken, dem türkischen Geheimdienst und Gangstern« so nahe gekommen sei, dass die Serie nach dem Mord an Halit Yozgat in Kassel gestoppt wurde. Ein halbes Jahr später, wenige Monate bevor die elf erfolglosen Ermittlungsjahre mit dem fast zufälligen Aufdecken des »Nationalsozialistischen Untergrundes« endeten, schrieb der »Spiegel«, dass es sogar einen Informanten gebe. Ein »Mehmet« will Mitglied der Geheimorganisation sein und die Tatwaffe aus der Schweiz holen. Doch der Deal sei geplatzt, weil die deutschen Behörden nicht genug zu zahlen bereit waren. »Alles erfunden«, kommentierte dagegen das Bundesamt für Verfassungsschutz.
Für die Familienangehörigen der Ermordeten waren diese Jahre, war die Art, wie ermittelt wurde, unerträglich.
In einem Artikel, der die Wettschuldenthese behandelte, hieß es 2006: »Die Kripo erntete bei den Familienmitgliedern meist nur Kopfschütteln. Ehefrauen wollten von den Geschäften des Mannes nichts gewusst haben, enge Freunde verwandelten sich über Nacht in oberflächliche Bekannte, man habe sich nur gelegentlich gegrüßt, das war’s.« Es sind derlei Sätze, die die Aussagen der Angehörigen in Zweifel ziehen, immer wieder nahelegen, dass die Opfer der rassistischen Morde fast selber Schuld waren an ihrer Tötung. Das Bild, dass sich Menschen mit Migrationshintergrund oft in dubiosen Mafia-Kreisen bewegen, Drogen und Geldwäsche zum alltäglichen Geschäft migrantischer Kleinunternehmer gehören, wurde so immer wieder vertreten.
Semiya Simsek brachte es in einem Interview 2012 auf den Punkt: »Wir wurden elf Jahre lang verarscht. Wir haben das Vertrauen in das Rechtssystem, die Polizei und die Behörden verloren.« Das Misstrauen der Ermittlungsbehörden habe letztlich auch das Vertrauen und den Zusammenhalt in ihrer eigenen Familie zerstört.