Rechtsprechung als Klassenjustiz
Im Beitrag von Sascha Regier geht es um die blinden Flecken der Rechtswissenschaft und der juristischen Ausbildung im Hinblick auf das soziologisch konstatierte Phänomen der Klassenjustiz in der Rechtsprechung. Zudem ist er ein Plädoyer für die Ausbildung eines breiteren Rechtsverständnisses, in das Erkenntnisse der Rechtssoziologie und der Kriminologie integriert werden sollten. Dadurch würden sowohl die Ambivalenz des Rechts als auch Probleme der Rechtsprechung ins Bewusstsein gebracht.
Das Bild von Justitia, der römischen Göttin der Gerechtigkeit, ist allseits bekannt. Zumeist mit Augenbinde dargestellt symbolisiert sie als Wahrzeichen der Justiz, dass in der Rechtsprechung kein Unterschied zwischen den Angeklagten gemacht werden soll. Die Justiz hat unparteilich, neutral zu sein. Auch der Artikel 3 des Grundgesetzes steht für die Gleichheit und ein Diskriminierungsverbot vor dem Gesetz - und damit vor dem Gericht.
Die vermeintliche Objektivität des Rechts
Grundlegend für dieses Justiz- und Rechtsverständnis ist der Liberalismus. Dieser etablierte die "Herrschaft des Gesetzes", was seinem Selbstverständnis nach auf die "Auflösung von Macht in Rechtsbeziehungen, die Beseitigung des Elements persönlicher Herrschaft und Etablierung des Rechtsstaats, in dem alle Beziehungen rational, das heißt berechenbar und vorhersehbar sind"1 abzielt. Im liberalen Staat sollen Gesetze, nicht Menschen herrschen. Aus dem Rechtsstaatsgedanken folgt logisch die Unabhängigkeit der Richter*innen und die Gesetzmäßigkeit der Verwaltung.
Auch die vorherrschende Rechtswissenschaft geht davon aus, dass das Rechtssystem ein geschlossenes und lückenfreies System sei, das vom/von der Richter*in lediglich anzuwenden sei. Das Recht wird hier als ordnungspolitische Institution des Gemeinwohls gefasst.
Allerdings erhält das Dogma der Objektivität des Rechts in den letzten Jahren zunehmend Risse. Dies zeigt sich u.a. beim Vergesellschaftungsparagraphen im Grundgesetz (Art. 15) und der politischen Kontroverse, die entstand, als die Forderung erhoben wurde, Immobilienunternehmen wie die Deutsche Wohnen e.V. zu vergesellschaften.
Dabei firmiert das Recht seit jeher zwischen den Polen einerseits Herrschaft abzusichern, andererseits diese im emanzipatorischen Sinne abzubauen. Recht ist politisch umkämpft und damit selbst politisch, was in den kritischen Sozialwissenschaften durch die Kritische Rechtstheorie2 herausgearbeitet wird. In der gegenwärtigen Rechtswissenschaft und juristischen Ausbildung sind Aspekte des Politischen des Rechts hingegen kaum Gegenstand. Dennoch ist die Rechtswissenschaft keine unpolitische Wissenschaft. Im Gegenteil: Die "Rechtswissenschaft ist auch eine Herrschaftswissenschaft, eine Wissenschaft zur Aufrechterhaltung von Herrschaft."3 Dies zeigt sich vor allem anhand ihres Rechtsverständnisses. Recht wird hier primär im Hinblick auf seine Ordnungsfunktion technokratisch vermittelt. Dass jedoch rechtliche Normierungen in der modernen Gesellschaft maßgeblich durch die kapitalistische Eigentumsordnung bestimmt sind, fällt hierbei aus der Betrachtung heraus. Dabei zeigt sich dies besonders im Privatrecht, das durch das Bürgerliche Gesetzbuch geregelt ist. Das Recht erfüllt als Garant der Absicherung der bestehenden gesellschaftlichen Ordnung eine ideologische Funktion, da es in der Klassengesellschaft die soziale Bedingtheit der Eigentumsverhältnisse verdeckt. Durch die Verdinglichung dieser Beziehungen im Recht erscheinen diese den Beteiligten als gerecht.
Rechtsprechung und die Reproduktion sozialer Ungleichheit
Dass Recht ein Herrschaftsinstrument ist, zeigt sich zudem an dessen Anwendung, der konkreten Rechtsprechungspraxis. Dabei wird auch die vermeintliche Objektivität der Rechtsprechung zunehmend in Frage gestellt. Dies manifestiert sich medial u.a. an Berichten über Strafprozessurteile gegen Klimaaktivist*innen der Letzten Generation. Hier steht oft der Vorwurf im Raum, dass der Staat diese übermäßig verurteilt, statt sie freizusprechen, obwohl ein Ermessensspielraum der Richter*innen vorhanden sei. Denn das Strafrecht bestimmt im Allgemeinen noch nicht, wer als kriminell zu bezeichnen ist, es muss durch Richter*innen erst angewendet werden. Demnach sind nicht so sehr die Inhalte des Strafgesetzbuches für den Urteilsspruch und damit die Kriminalisierung und Bestrafung entscheidend, sondern die Anwendung des Rechts, also die Gründe für die Rechtsprechung vor Gericht.4 Neben den sozialstrukturellen Ursachen von Kriminalität beschäftigt sich mit diesem Aspekt auf empirischer Ebene die Kriminologie. Kriminalität wird hier - im Gegensatz zur Rechtswissenschaft - als gesellschaftliches und nicht als individuelles Phänomen begriffen.
Soziologische Untersuchungen von Strafprozessen in rechtsstaatlich geprägten demokratischen Gesellschaften der letzten Jahre haben nachgewiesen, dass in der konkreten Praxis der Strafjustiz gerade nicht alle Menschen gleich von der Emanzipations- oder Herrschaftsfunktion des Rechts betroffen sind. Entgegen allgemeiner Überzeugung sind Strafprozesse nicht unparteiisch und gerecht, sondern zielen auf bestimmte Personengruppen. Obwohl die Normbrüche bezüglich der sozialen Schichtzugehörigkeit in der Gesellschaft gleichverteilt sind, werden Angehörige der unteren sozialen Schichten öfter verurteilt als Angehörige der höheren.5 Zudem werden Nicht-Weiße und Migrant*innen proportional häufiger vor Gericht verurteilt. Kriminalität aus den oberen Einkommensschichten (white collar crime) - wie das Beispiel der Steuerhinterziehung regelmäßig zeigt - wird hingegen kaum vor Gericht strafrechtlich verhandelt und bestraft. Auch die Strafzumessung der Angehörigen unterer Schichten ist im Durchschnitt höher als die der Oberschichten.
Entgegen dem Postulat der richterlichen Unabhängigkeit wird durch den Rechtsprechungsprozess selbst illegitime Macht ausgeübt. Folglich sind Gerichte nicht neutral, sondern üben Gewalt aus. Gesetze bieten keine Rechtssicherheit, also eindeutige Prognostizierbarkeit im institutionellen Rahmen, da im Prozess der/die konkrete Richter*in die Interpretationsherrschaft ausübt. Es lässt sich konstatieren: Die unteren Schichten werden nicht durch das Gesetz, sondern durch die Gerichte, das Justizpersonal, diskriminiert. Damit spielt die "gezielte Strafverfolgung bestimmter Gesetzesbrüche und Bevölkerungsgruppen eine wichtige Rolle für die Produktion und Reproduktion sozialer Ungleichheiten."6
Revival des Begriffs Klassenjustiz
Dass in der konkreten Rechtspraxis Angehörige unterer sozialer Schichten öfter und härter bestraft werden, erinnert an den 1907 durch Karl Liebknecht bekannt gemachten marxistischen Begriff der Klassenjustiz.7 Für Liebknecht zeichnet sich die Klassenjustiz im Rechtswesen seiner Zeit dadurch aus, dass das Richteramt u.a. wegen der hohen Ausbildungskosten nur durch Angehörige der herrschenden besitzenden Klassen ausgeübt wird. Klassenjustiz finde statt, da nicht lediglich geltendes abstraktes Recht auf konkrete Rechtsfälle angewendet wird - wie juristisch vorgesehen -, sondern Urteile durch die Vorannahmen der richtenden Personen bestimmt erfolgten. Diese richteten in der Regel - auch unwillkürlich und unbewusst - nach den Überzeugungen, Werten und Interessen ihrer sozialen Klassenherkunft. Im Gegensatz zum Begriff der politischen Justiz geht es bei der Klassenjustiz nicht darum, dass bewusst durch die Richter*innen politische Urteile gesprochen werden. Dennoch führte Klassenjustiz dazu, dass die Arbeiter*innenklasse diszipliniert und kontrolliert wurde. Schon die soziale Auslese durch das akademische Studium garantierte, dass die Lohnabhängigen keine Positionen in der Rechtsprechung erobern konnten. Damit entging ihnen aber auch die Chance, Einfluss auf den "Volkswillen" zu nehmen, der u.a. durch die Rechtsprechung beeinflusst wird. Das wiederum führte zu einem bestimmten Klassencharakter des Staates. Dies sollte sich erst in der Weimarer Republik ändern, als zunehmend auch sozialdemokratische Richter in der Justiz vertreten waren.
Der Begriff der Klassenjustiz fristete Jahre lang ein Nischendasein und wurde zumeist von der politischen Linken genutzt, um zu verdeutlichen, dass der bürgerliche Rechtsstaat durch die Rechtsprechung die lohnabhängig Beschäftigten unterdrücke. Nachdem er durch den Juristen Ernst Fraenkel in den 1920er Jahren verwendet wurde,8 hatte er sich auch in der Rechtssoziologie der 1960er/70er etabliert. Allerdings wurde die Kategorie Klassenjustiz hier begrifflich unscharf verwendet und entzog sich einer prägnanten Definition. Vielmehr ließ sich der Begriff als Soziologie des Gerichtsverfahrens verstehen, bei der es um die Analyse des klassenspezifischen Umgangs der Richter*innen mit den Angeklagten geht.
Seit 2022 ist der Begriff Klassenjustiz im politischen und medialen Diskurs prominenter vertreten durch den Juristen und SZ-Journalisten Ronen Steinke. Er hat das Buch Vor dem Gesetz sind nicht alle gleich veröffentlicht und behauptet im Untertitel, dass sich eine "neue Klassenjustiz" in Deutschland etabliert habe.9 Klassenjustiz benennt auch Steinke zufolge das Phänomen, dass die prekarisierten Schichten vor Gericht trotz des formalen Gleichheitsgebots des Rechtsstaats härtere Bestrafungen erfahren als die Angehörigen der Mittel- und Oberschicht, was auf eine Kriminalisierung von Armut hinauslaufe. Hierzu gehören hohe Geldbußen für Bagatelldelikte wie Ladendiebstahl oder Fahren ohne gültigen Fahrschein im öffentlichen Personennahverkehr. Andreas Fisahn konstatiert diesbezüglich, "[b]ei der Strafzumessung lässt sich feststellen, dass Angehörige unterer Klassen im Durchschnitt höher bestraft werden als solche der Oberschichten, weil die Richter sie für weniger ›einsichtsfähig halten‹."10 Da oftmals Arme die Geldstrafen nicht zahlen können, sitzen viele Menschen durch das Anordnen von Ersatzfreiheitsstrafen wegen dieser Bagatelldelikte in deutschen Gefängnissen. 2017 waren in Deutschland etwa 500.000 Menschen inhaftiert, da sie Geldstrafen nicht begleichen konnten - rund doppelt so viele wie vierzig Jahren zuvor.11
Demgegenüber werden Delinquenten aus den oberen Einkommensschichten seltener verurteilt und müssen verhältnismäßig geringe Strafzahlungen leisten. Oftmals werden Verfahren auch gleich eingestellt, weil die Gerichte keine Kapazitäten haben, sich mit großen Anwaltsteams auseinanderzusetzen. Die Abgas-Skandale in der Autoindustrie oder der Wirecard-Betrug können hier als Beispiele gelten. Daher begünstige nach Steinke die "Justiz […] jene, die begütert sind. Und sie benachteiligt jene, die nichts haben."12
Dass das Strafrecht als solches grundlegend auf Selektivität zulasten der Armen angelegt ist, kommt bei Steinke hingegen zu kurz. Ebenso fehlt in seinem Buch eine Definition des Begriffs der Klasse und damit einhergehend des Begriffs der Klassenjustiz an sich. Zudem bleibt offen, inwiefern es sich um eine neue Entwicklung handelt. Auch die Gründe für die Existenz einer Klassenjustiz werden von Steinke nicht genannt.
Gründe für Klassenjustiz
Andere Arbeiten zum Thema sehen die konkrete Strafpraxis als ein Instrument neoliberaler Sozialkontrolle13, mit dem eine Gesellschaft versuche, ihre Mitglieder autoritär dazu anzuhalten, den von ihr aufgestellten Normen als Verhaltensanforderungen Folge zu leisten. Es gehe demnach um die Überwachung prekarisierter sozialer Gruppen und die Aufrechterhaltung der gesellschaftlichen Eigentumsverhältnisse. Allgemein lässt sich ein Trend in den modernen Gesellschaften in die Richtung einer wachsenden Verwandlung von sozialen in strafrechtliche Normen konstatieren. Dabei wird vor Gericht die "fragliche Handlung […] mit der beschuldigten Person und ihrer Biographie verknüpft und nicht mit der gesellschaftlichen Struktur, innerhalb welcher diese Biographie Gestalt angenommen hat. Kurz, sie wird entsoziologisiert."14 Gesetze werden abhängig von der sozialen Situation der Beteiligten und der sozialen Lage der Richter*innen unterschiedlich ausgelegt und angewendet. Fisahn konstatiert: "So wurde festgestellt, dass Urteile zulasten der Mieter weit häufiger von Richtern gefällt werden, die selbst Vermieter sind, als von solchen, die selbst Mieter sind."15
Ein weiterer Grund für die härtere Bestrafung prekarisierter Gruppen liegt darin, dass Einkommensschwache - wenn überhaupt - lediglich eine/n Pflichtverteidiger*in zugewiesen bekommen, der/die oft lustlos verteidigt, während sich Einkommensstarke privat eine/n Anwält*in leisten können und damit höhere Chancen auf einen Freispruch haben. Am Amtsgericht Tiergarten in Berlin werden bspw. weniger als zehn Prozent der Angeklagten anwaltlich vertreten.16
Die konkrete Rechtspraxis ist zudem durch die weiterhin bestehende sozialstrukturelle Unausgewogenheit in den Gerichten und der Jurist*innenausbildung bedingt. Die oberen Gerichte sind zu 75% von Richter*innen aus den oberen Mittelschichten bestimmt.17 Oftmals sind Richter*innen aufgrund ihrer sozialen Herkunft und Ausbildung nicht in der Lage, empathisch auf die Lebensverhältnisse der Angeklagten einzugehen und priorisieren stattdessen die Aufrechterhaltung der bestehenden Eigentumsordnung. Vor allem durch die hohen finanziellen Hürden im Jurastudium rekrutiert und reproduziert sich die juristische Elite im Staatsdienst selbst. Dabei wird das Examen den Studierenden der Rechtswissenschaften von Jurist*innen in der Mehrheit aus dem Staatsdienst, Richter*innen und leitenden Verwaltungsbeamt*innen abgenommen, was Auswirkungen auf das Rechtsverständnis bei den Studierenden hat.
Auch wenn die politische Linke nicht mehr wie Anfang des 20. Jahrhunderts vom Richter*innenamt ausgeschlossen ist, kann eine Ausgrenzung nach links und eine ideologische Rechtslastigkeit in der Justiz weiterhin konstatiert werden. Dies zeigt die Personalrekrutierung der Justiz aus eher rechtskonservativen und autoritären Milieus. Beispielsweise belegt eine Studie zur Kriminalitätswahrnehmung und Punitivität (Straflust) angehender Jurist*innen von 2014, dass ein Drittel der Jurastudent*innen die Todesstrafe befürwortet und die Hälfte Folter in bestimmten Fällen für zulässig erachtet.18
Machtblinde Flecken in der Jurist*innenausbildung
Auch wenn sich der soziologische Begriff der Klassenjustiz einer festen Definition entzieht, rückt er die soziale Bedingtheit der Rechtsprechung ins politische Bewusstsein: Richter*innen fällen ihre Urteile oftmals nicht nach objektiven Kriterien, sondern bedingt durch ihre soziale Klassenlage sowie die der Angeklagten. Dieser grundlegende Sachverhalt - sowie die politische Umkämpftheit des Rechts an sich - bleibt in der vorherrschenden Rechtswissenschaft und der Jurist*innenausbildung im deutschsprachigen Raum hingegen weiterhin marginalisiert. Hier dominiert ein entpolitisierter Begriff des Politischen. Allerdings ist, wie Tore Vetter konstatiert, "Recht nie unpolitisch. Dies gilt auch für die juristische Ausbildung: Ist es unpolitisch, dass das am weitesten verbreitete Nachschlagewerk zum Bürgerlichen Gesetzbuch bis heute den Namen des überzeugten Nationalsozialisten Otto Palandt trägt?"19 Im Jurastudium kommt die Frage, was Recht überhaupt ist oder sein sollte, kaum auf. Recht wird "ab dem ersten Semester einseitig als die Auslegung der geltenden Normtexte vorgeführt. Die Darstellung der Rechtsordnung in den Pflichtveranstaltungen und Lehrbüchern erfolgt zumeist in Form einer flächendeckenden Vermittlung der Meinungen von Gerichten, Professoren und Kommentarbüchern, wie die geltenden Normtexte, bezogen auf bestimmte Fallkonstellationen, auszulegen sind."20 Dabei ist es nicht "[d]ie Aufgabe des Juristen (so wird indirekt gelehrt) […], über Recht nachzudenken, sondern es anzuwenden."21 Von Beginn an werden Jurist*innen darauf trainiert, dass es in Klausuren nur auf das ankommt, was in der Lösungsskizze steht.22 Es geht darum, wie im Copy-Paste-Verfahren vertretbare Meinungen u.a. vom Europäischen Gerichtshof (EuGH), dem Bundesverfassungsgericht (BVerfG) und der so genannten herrschenden Meinung der Literatur in die Klausur einzufügen. Ein eigener Lösungsansatz läuft hingegen stets Gefahr, nicht anerkannt zu werden. Juristerei erscheint damit als technische Angelegenheit. Die Jurastudierenden sollen möglichst schnell zu arbeitsfähigen "Subsumtionsautomaten"23 geformt werden. Die Jurist*innenausbildung in ihrer heutigen Form lässt kaum noch Raum für die Beschäftigung mit dem Grundsätzlichen, dem Kritischen - dem nicht Klausurrelevanten. Jurist*innen repräsentieren, verwirklichen und reproduzieren die staatliche Normenordnung und stellen diese permanent und performativ her: "Die Verwaltung des staatlichen Normenkomplexes bricht in die Persönlichkeit ein und wird Teil des disziplinierenden und disziplinierten Habitus."24 Problematisch daran: in Deutschland ist die juristische Ausbildung von einem obrigkeitsstaatlichen Dogma geprägt. Vetter warnt daher davor: "Wenn Jurist*innen nicht lernen, das Politische im Recht zu hinterfragen, sondern nur, sich technisch an die Rechtsdogmatik zu halten, bedarf es im Zweifel gar keiner rechten Richter*innen, um das Rechte ins Recht zu bringen."25 Jura-Studierenden wird keine kritische Beschäftigung mit dem Staat, d.h. mit seinen historischen, sozialen und ideologischen Voraussetzungen ermöglicht. Der Staat selbst erscheint dem juridischen Staatsverständnis als neutrale Friedensordnung bzw. technokratische Problemlösungsinstanz und wird nicht als gesellschaftlich und politisch umkämpfte Herrschaftsinstitution vermittelt, in der sich gesellschaftliche Machtverhältnisse widerspiegeln, die dieser (re)produziert. Damit ist es für Jura-Student*innen schwer möglich, eine kritische Distanz zum Staat zu entwickeln und juristische Argumentation fernab staatlicher Logiken zu entwickeln.
Zudem erfolgt auch keine Beschäftigung mit dem Zusammenhang von Kapitalismus und Rechtsverhältnissen, was gerade die politische Komponente von Jura und Rechtsordnung ausmacht.26 Zu dieser politischen Komponente gehört auch, dass das Recht nicht geschlechtsneutral ist, sondern "besonders männlich und gewissermaßen geschlechtsdiktatorisch, weil es Frauen nicht nur abdrängt, sondern sich systematisch gegen sie richtet."27
Mängel in der juristischen Ausbildung
Ein demokratischer Rechtsstaat bräuchte hingegen mündige Jurist*innen, die das Recht nicht nur anwenden, sondern, wenn nötig, auch am Maßstab der Verfassung hinterfragen. Dafür bedarf es eines breiteren Rechtsverständnisses, um die blinden Flecken der gegenwärtigen juristischen Ausbildung zu überwinden. Um die Ambivalenz des Rechts sowie die als Klassenjustiz bezeichneten Probleme der Rechtsprechung ins Bewusstsein zu bringen, müssen Erkenntnisse der Grundlagenfächer Rechtssoziologie, -philosophie, -geschichte sowie der Kriminologie in die Ausbildung fest integriert werden. Dies ermöglicht eine Auseinandersetzung mit der Zeit- und Ideologiebedingtheit des Rechts und kann dazu beitragen, kriminelles Verhalten nicht lediglich individuell zu erklären, sondern im gesellschaftlichen Kontext zu verstehen, in dem das jeweilige Verhalten stattgefunden hat. Zudem geht die grundlegende Einsicht der Kriminologie, dass Kriminalität nicht gesellschaftlich, sondern auf der Seite der Instanzen sozialer Kontrolle definiert wird (labeling approach) - also rein logisch überhaupt erst erschaffen wird - weit über die speziellen und engen juristischen Fragen der Subsumtion und Auslegung hinaus. Eine strafbare Handlung darf nicht als mechanistisch ablaufender Subsumtionsprozess eines physikalisch erfassbaren Geschehens unter eine abstrakte Rechtsregel verstanden werden. Es geht darum, was Hubert Rottleuthner bereits in den 1970er Jahren gefordert hat: "Rechtswissenschaft [muss] als Sozialwissenschaft"28 betrieben werden, die die sozialen Verhältnisse mit dem Recht in Verbindung stehend erfasst.
Anmerkungen
1) Franz Neumann 1986: Demokratischer und autoritärer Staat. Studien zur politischen Theorie, Frankfurt a.M.: 85.
2) Sonja Buckel 2015: Subjektivierung und Kohäsion. Zur Rekonstruktion einer materialistischen Theorie des Rechts, Weilerswist.
3) Uwe Wesel 1997: Geschichte des Rechts. Von den Frühformen bis zum Vertrag von Maastricht, München: 49.
4) Fritz Sack 2016: "Neue Perspektiven in der Kriminologie", in: Daniela Klimke / Aldo Legnaro (Hg.): Kriminologische Grundlagentexte, Wiesbaden: 112.
5) Vgl. für die französische Rechtspraxis der 2000er-Jahre: Geoffroy de Lagasnerie 2017: Verurteilen. Der strafende Staat und die Soziologie, Berlin; für die us-amerikanische Didier Fassin 2018: Der Wille zum Strafen, Berlin.
6) Didier Fassin 2018 (s. Anm. 5): 140.
7) Karl Liebknecht 1960: "Rechtsstaat und Klassenjustiz", in: Gesammelte Reden und Schriften, Band I, Berlin.
8) Ernst Fraenkel 1968: Zur Soziologie der Klassenjustiz, Darmstadt.
9) Ronen Steinke 2022: Vor dem Gesetz sind nicht alle gleich. Die neue Klassenjustiz, München.
10) Andreas Fisahn 2008: Herrschaft im Wandel. Überlegungen zu einer kritischen Theorie des Staates, Köln: 281.
11) Mitali Nagrecha 2022: Wenn Armut strafbar wird, herrscht Klassenjustiz, in: https://www.jacobin.de/artikel/wenn-armut-strafbar-wird-herrscht-klassenjustiz-ersatzfreiheitsstrafe-fdp-buschmann-clan-kriminalitat-armutsdelikte, 26.4.2022 [abgerufen am 30.6.2024].
12) Ronen Steinke 2022 (s. Anm. 9): 12.
13) Didier Fassin 2018 (s. Anm. 5)
14) Geoffroy de Lagasnerie 2017 (s. Anm. 5): 142.
15) Ebd.: 281.
16) Niels Seibert 2024: Alltagsbarbarei in Gerichtssälen, in: https://www.akweb.de/ausgaben/705/alltagsbarbarei-in-gerichtssaelen-prozesse-gegen-arme-menschen-armutskriminalitaet-klassenjustiz/, 18.6.2024 [abgerufen am 28.6.2024].
17) Michael Hartmann 2013: Soziale Ungleichheit. Kein Thema für die Eliten?, Frankfurt a.M., New York.
18) Andreas Kallert / Vincent Gengnagel 2017, zit. n. Sascha Regier 2023: Den Staat aus der Gesellschaft denken. Ein kritischer Ansatz der Politischen Bildung, Bielefeld: 266: 9.
19) Tore Vetter 2020: "Warum die derzeitige Ausbildung furchtbare Jurist*innen fördert", in: Recht gegen Rechts Report 2020: 63.
20) Falko Behrens 2021: Welcome to the machine. Über das Jurastudium, in: https://forum-recht-online.de/wp/?p=1878, 2020/21 [abgerufen am 27.6.2024].
21) Ebd.
22) Tore Vetter 2020 (s. Anm. 19): : 63-70.
23) Falko Behrens 2021 (s. Anm. 20).
24) Christian Berger / Florentina Simlinger 2015: Zwischen Subjektivierung, Selbstzurichtung und Dissidenz. Feministische Überlegungen zur juristischen Ausbildung, in: https://forum-recht-online.de/wp/wp-con tent/uploads/2016/03/FOR1504_123_ Berger-Simlinger2.pdf [abgerufen am 28.6.2024].
25) Tore Vetter 2020 (s. Anm. 19): 64.
26) Ebd.: 63.
27) Christian Berger / Florentina Simlinger 2015 (s. Anm. 24): 124.
28) Hubert Rottleuthner 1973: Rechtswissenschaft als Sozialwissenschaft, Frankfurt a.M..
Dr. Sascha Regier ist Soziologe, Lehrer am Heinrich-Mann-Gymnasium Köln und aktiv im Forum kritische politische Bildung sowie der gewerkschaftlichen Bildungsarbeit.