»Wir sind genug gestorben«

Interview mit Yambio David von Refugees in Libya

Land ohne Menschenrechte, gespalten in Ost und West

Zwölf Jahre nach dem Sturz des Diktators Muammar al-Gaddafi bleibt Libyen ein gespaltenes Land. Mit einer Waffenruhe im Oktober 2020 wurde zwar der zweite libysche Bürgerkrieg offiziell beendet sowie eine Übergangsregierung gebildet. Allerdings konkurrieren immer noch zwei Regierungen um die Macht: Im Westen regiert seit Februar 2021 Premierminister Abdul Hamid Dbaiba, Ansprechpartner der meisten EU-Länder. Im Osten ernannte das Parlament als Reaktion auf verschobene Wahlen im Februar 2022 den Militär und Politiker Fatih Baschagha zum Interimsminister. Beide Parteien erkennen einander nicht an und haben bewaffnete Milizen hinter sich.

Libyen ist gleichzeitig ein bedeutendes Transitland für Geflüchtete und Migrant*innen aus Subsahara-Afrika. Der jahrelange Krieg hat Korruption, rechtsfreie Räume und zahlreiche bewaffnete Gruppierungen hervorgebracht, welche die Migration zu einem bedeutenden Geschäft gemacht haben. Flüchtende und migrierende Menschen sind ständig der Gefahr ausgesetzt, verschleppt, gefoltert oder versklavt zu werden.

Wegen der katastrophalen Menschenrechtslage sind Abschiebungen aus der EU nach Libyen verboten. Das hindert die EU aber nicht daran, mit libyschen Behörden und so auch mit bewaffneten Milizen zu kooperieren. In den letzten Jahren wurden immer mehr Geld, Ausrüstung und Verantwortung an die libyschen Behörden übertragen. Eine neue Stufe erreichte diese Externalisierung des Grenzschutzes mit der Ausweisung einer offiziellen Such- und Rettungszone an die libyschen Seebehörden im Jahr 2018. Diese ermöglicht es Libyen, Boote bis weit vor die Küsten Europas abzufangen. Recherchen von Human Rights Watch ergaben zudem, dass die EU-Grenzschutzbehörde Frontex rechtswidrig den libyschen Behörden Standorte von Booten meldete, welche diese dann, auch unter Anwendung von Gewalt, zurück nach Libyen brachten.

Was dort auch weiterhin geschieht, erzählt Yambio David im Interview. Der sudanesische Aktivist lebte selbst mehrere Jahre in Libyen. Vier Mal versuchte er über das Mittelmeer nach Europa zu gelangen und wurde von libyschen Schiffen zurückgebracht und vor Ort inhaftiert. Beim fünften Mal gelangte er nach Italien und kämpft nun von Europa aus mit der Bewegung Refugees in Libya für die Rechte Geflüchteter in Libyen.

die redaktion

 

iz3w: Du stehst in engem Kontakt mit Geflüchteten und Migrant*innen in Libyen. Was kannst du uns über ihre Situation sagen?

Yambio David: Viele Menschen kommen nach Libyen in der Hoffnung, dass sie arbeiten und ihre Familien versorgen können oder sie sind auf der Flucht vor Verfolgung und Krieg. Doch die Realität in Libyen ist ein Albtraum. Für Schlepper*innen sind wir nur Waren, die sie weiterverkaufen und zu Geld machen können. Für die libyschen Behörden sind wir Wertmarken, mittels denen sie mit der EU verhandeln können. Und für die Milizen sind wir Arbeitskräfte, die sie als Schutzschilde an die Kriegsfront schicken können.

Wenn ich Anrufe von Menschen vor Ort erhalte, ist ihr einziger Wunsch, dass ihre Situation Gehör findet. Unter den vielen Menschen mit denen ich in Kontakt stehe, sind etwa 250, die seit über einem Jahr im Ain Zara-Gefängnis im Westen Libyens festgehalten werden. Sie wurden bei unserem Protest vor dem UNHCR in Tripolis im Januar 2021 verschleppt (iz3w 389). Wir haben Hinweise darauf erhalten, dass diese Einrichtung von der EU und der italienischen Regierung mitfinanziert wird. Jedenfalls bekommen die Menschen dort oft kein Essen, werden gefoltert, müssen Zwangsarbeit verrichten und Frauen sind sexualisierter Gewalt ausgesetzt. Sie verrotten in diesem Gefängnis ohne jemals eine Anwältin oder einen Richter gesehen zu haben. Ihr ‚Verbrechen‘ ist die Forderung nach Anerkennung, Schutz und Achtung ihrer Rechte.

Wie bewertest du die Rolle der EU dabei?

Auf dem Mittelmeer ist die EU mitschuldig daran, dass Menschen ertrinken oder von der sogenannten libyschen Küstenwache verschleppt werden. Die EU nutzt den in den nordafrikanischen Staaten tiefsitzenden Rassismus gegen Schwarze für ihre Zwecke. Faktisch bezahlt sie Milizen dafür, dass sie die Menschen nach Libyen zurückbringen und dort einsperren. In Libyen lassen sich offizielle Behörden und Milizen nicht klar trennen.

Diese europäische Politik hat Menschen getötet, die aus Kriegsgebieten in Afghanistan, Syrien, Irak, Somalia oder Eritrea fliehen. Das steht im Widerspruch zum Narrativ der EU, sich für Menschenreche einzusetzen.

Welchen Ausweg gibt es für die betroffenen Menschen?

Der einzige Weg der Rettung ist das Mittelmeer. Eine Rückkehr in das Land, aus dem sie geflüchtet sind, ist keine Option. Aber die Flucht über das Mittelmeer ist ein Spiel mit dem eigenen Leben. Wenn du eine Eins würfelst, wirst du vielleicht nach Libyen zurückgeschickt. Wenn du eine Zwei bekommst, ertrinkst du vielleicht. Wenn du viel Glück hast, dann schaffst du es nach Europa.

Auch in anderen Ländern ist die Lage nicht besser. In Tunesien hetzt Präsident Saied gegen Schwarze Migrant*innen, in Marokko wurden im Juli 2022 37 Menschen bei einem versuchten Grenzübertritt an der spanisch-marokkanischen Grenze vor Melilla getötet.

Dann gibt es noch das UNHCR, das ab und zu Menschen nach Europa bringt. Aber von vielleicht 50.000 registrierten Asylsuchenden in Libyen evakuiert das UNHCR nur 500 bis 1.000 Menschen pro Jahr. In der gleichen Zeit werden Zehntausende auf dem Mittelmeer zurück nach Libyen geschickt.

Viele Menschen, die in den Haftlagern festsitzen, sind auch beim UNHCR als Schutzsuchende registriert. Wie bewertest du die Arbeit dieser Institution in Libyen?

Das UNHCR ist seit über 30 Jahren dort tätig. Trotzdem haben die meisten registrierten Menschen keinen Zugang zu Bildung, medizinischer Versorgung oder zum Arbeitsmarkt. Das UNHCR weiß, dass viele Menschen ohne richterliche Prüfung inhaftiert sind und unternimmt nichts.

Gleichzeitig behauptet diese Institution, sich für Geflüchtete einzusetzen. Ihr offizielles Mandat ist, die Sicherheit der Menschen auf der Flucht zu gewährleisten und ihre Anerkennung in der Gastgemeinde sicherzustellen. Praktisch hilft das UNHCR jedoch der EU, ihre Grenzen zu schützen und die Kreisläufe der Migration besser zu kontrollieren. Wer sich ansieht, wer für das UNHCR arbeitet, sieht hauptsächlich weiße Menschen.

Wenn man die Menschen auf der Demonstration im Oktober 2021 fragte, was sie wollen, dann antworteten sie: »Anerkennung als Mensch«. Das UNHCR in Tripolis war die erste Instanz, die uns ihre Hilfe verwehrt hat. Stattdessen sahen sie mit an, wie wir nach drei Monaten Sit-In gewaltsam von den ‚libyschen Behörden‘ geräumt und Hunderte in Haftlager verschleppt wurden.

Dieser Protest vor dem UNHCR hatte seinen Auslöser in der brutalen Räumung des migrantischen Viertels Gargaresh im Westen von Tripolis am 1. Oktober 2021. Libysche Sicherheitskräfte und Milizen rissen Häuser nieder, Tausende wurden festgenommen. Mit über 4.000 Personen habt ihr euren Protest daraufhin vor das UNHCR in Tripolis getragen. Was hat diese beispiellose Protestbewegung bewirkt?

In erster Linie haben wir uns dadurch selbst anerkannt. Wir mussten uns bewusst werden, dass uns niemand anderes helfen wird – keine Organisation, keine Regierung, kein Gesetz. Das Rechtssystem existiert für uns nicht. Auch die Menschen in den Haftlagern – dieser libyschen Hölle – fingen an, die Zustände anzuprangern. Sie begannen, die Behörden zu konfrontieren und nutzen soziale Medien, um ihre Situation zu dokumentieren und zu veröffentlichen. Diese Veröffentlichung führte zu Solidaritätsbekundungen in Libyen wie auch in Europa. Es fanden Demonstrationen in Deutschland, Italien, Spanien und Großbritannien statt. Aus dem großen Sit-In im Oktober 2021 ging außerdem die Bewegung Refugees in Libya hervor. Dadurch schufen wir einen Raum, in dem wir nun für uns selbst eintreten und sprechen können. Seitdem finden vor dem UNHCR häufiger Proteste statt.

Auf dem Migrationsgipfel im Februar 2023 hat die Europäische Union noch strengere Maßnahmen gegen die sogenannte illegale Migration beschlossen. Wie kann es weitergehen?

Ich denke, mit diesem System sind wir genug gestorben. Wir müssen weiter Wege finden, um die Geschichten der Betroffenen zu erzählen. Denn es geht nicht nur um Zahlen. Es geht um die Gesichter, die hinter diesen Mauern festgehalten werden bis sie verrotten. Es geht um die Menschen in den Tiefen des Mittelmeers: Wer sind sie? Was wollten sie zu unserer globalen Gesellschaft beitragen? Menschen, die Ärztin oder Lehrer werden wollten; Menschen, die Träume hatten, aber die Bezeichnung »Illegale« oder »Flüchtlinge« trugen.

Veränderungen kommen nicht über Nacht. Es ist ein Prozess, der in allen Formen kommt: In Protesten, Infoveranstaltungen oder Berichterstattungen.

Das Interview führte und übersetzte Annalena Eble.

 

Dieser Artikel ist erschienen im iz3w-Heft Nr. 396.