Zur repressiven Wendung eines progressiven Ansatzes
grenzenlos
Frank-Walter Steinmeier: „Wir müssen an die Ursachen der Fluchtgründe heran.“
Thomas de Maizière: „Die Tragödie hat ihre Ursachen in den Ursprungsländern.“
Angela Merkel: „Wir werden an der Überwindung der Fluchtursachen arbeiten.“ (1)
Vom Kriege gezeichnet und erprobt im Gedenken an die Opfer und Helden*innen sowie in der mahnenden Erinnerung an die Barbar*innen und deren Mitläufer*innen im Zweiten Weltkrieg, zeugen die Erklärungen der Nationen Europas und der europäischen „Friedensgemeinschaft“ von dem postulierten Glauben, dass die Würde des Menschen unantastbar sei; dass der Schutz dieser Würde Vorrang habe vor den Unterscheidungen nach Herkunft, Hautfarbe, Geschlecht, Glaube, politischem Status und persönlicher Überzeugung. Nicht erst die Millionen von vertriebenen Syrer*innen durch Assads Krieg gegen die Bevölkerung, auch der permanente Kriegs- oder Ausnahmezustand in Afghanistan, Irak, Libyen, Sudan oder Eritrea, stellt die europäische Politik mit schreiender Dringlichkeit vor die Einforderung dieses Glaubensbekenntnisses. Was wir sehen, sind Lippenbekenntnisse und politische Maßnahmen, die fleißig das Gegenteil in die Tat umsetzen.
Die Liste der Lippenbekenntnisse ist lang: Neu hinzugesellt hat sich die positiv anmutende Absicht der Bekämpfung von Fluchtursachen. „Curbing the root causes of irregular migration in close cooperation with regional partners“ ist eine Variation der Phrase, die sich seit Beginn der sogenannten Flüchtlingskrise in offiziellen Dokumenten der EU-Kommission, sowie von ihr beauftragten Entwicklungshilfeorganisationen und Thinktanks, selbst die Klinke in die Hand gibt.
Ursprünglich gemeint als progressiv-kritischer Aufruf gegen eine Politik der nationalen Abschottung, militarisierter Sicherheitspolitik und neo-kolonialer Intervention, verkehrt sich die Bekämpfung von Fluchtursachen in den Händen der europäischen Regierungen zu ihrem Gegenteil.
Der Aufstand der sudanesischen Bevölkerung gegen jahrzehntelange Repression durch das Militärregime Umar al-Baschirs und seine Nachfolger, zerrt jene Dämonen ans Tageslicht, welche das europäische „Migrationsmanagement“ mit in die Welt rief. Ferner zeigt es die Realität der Bekämpfung der Fluchtursachen am Horn von Afrika.
Revolution im Sudan und die europäische Bekämpfung von Fluchtursachen
Über Jahre hinweg organisierte sich die sudanesische Zivilgesellschaft im Verborgenen, bis im Dezember 2018 offene Proteste gegen das Regime von Präsident Umar al-Baschir ausbrachen und eine Welle zivilen Ungehorsams und Streiks hervorrief, die al-Baschir am 11. April 2019 zu Fall brachten.
Führende Vertreter des Militärs sprangen in Eile vom sinkenden Schiff al-Baschirs und formierten sich als militärischer Übergangsrat („Military Transitional Council – TMC“), um angeblich die demokratische Transformation des Landes zu überblicken.
Die führenden Vertreter des Aufstandes, die Koalition der Forces of Freedom and Change, darunter maßgeblich die Sudanese Professionals Association, vereinbarten mit den Militärs die zügige Überführung der Verwaltung in zivile Strukturen und die Vorbereitung demokratischer Wahlen. Wenig überraschend zeigte sich der TMC als untoter Arm des alten Regimes, nicht bereit, diesen Absprachen nachzukommen und spielt bis heute auf Zeit. Am 3. Juni 2019 reagierte der TMC auf anhaltende Proteste mit der Räumung eines gewaltlosen Sit-ins in Khartoum. In den frühen Morgenstunden stürmten Einheiten der paramilitärischen Rapid Support Forces (RSF) das Protestcamp. Mehr als hundert Menschen wurden ermordet, dutzende Frauen und Männer vergewaltigt, gefoltert und verschleppt. (2)
Der Zugang zum Internet war über einen Monat landesweit blockiert. Den letzten Vertreter*innen der unabhängigen internationalen Presse wurden die Arbeitsgenehmigungen entzogen. Kurz versuchte der Übergangsrat, alle Verantwortung für das Massaker von sich abzuweisen. Da dies wegen der führenden Rolle des RSF-Kommandeurs, Mohamed Hamdan Dagalo („Hemeti“), im militärischen Übergangsrat unglaubwürdig war, wurden im Nachhinein „Fehler“ eingestanden.
Während die Opposition sich von solchen Beteuerungen nicht beeindrucken ließ und zu einem erneuten Generalstreik und zu Protesten aufrief, lud die deutsche Bundesregierung am 21. Juni zu einem informellen Treffen, um die Lage im Sudan zu erörtern. Auf der Liste der Teilnehmer stand kein einziger Vertreter der sudanesischen Opposition, dafür aber die expliziten Unterstützer des sudanesischen Militärs: die Regierungen Ägyptens, Saudi Arabiens und der Vereinigten Arabischen Emirate, welche dem TMC gleich nach Sturz al-Baschirs drei Milliarden US-Dollar als Unterstützung zukommen ließen. (3)
Dies nicht zuletzt, weil die Saudis und die Emirate sich darauf verlassen wollen, dass Einheiten der RSF (seit 2015 (4)) weiterhin auf Seiten der Saudischen Kriegskoalition im Jemen ihre Dienste erweisen. Oder weil der ägyptische Präsident Sisi fürchtet, dass der Widerstand im eigenen Land gegen die Gewaltherrschaft des Militärs durch die starke Demokratiebewegung im Sudan erneut entfacht wird. Vor dem Hintergrund der genehmigten deutschen Rüstungsexporte im Wert von einer Milliarde Euro in den ersten fünf Monaten (5) diesen Jahres an eben jene fragwürdigen Partner und deren Rolle als Garanten der Stabilität im Sinne der europäischen Migrationsbekämpfung, ist es nicht überraschend, dass das Auswärtige Amt (AA) das besagte Treffen am 21. Juni am liebsten unkommentiert und ohne Aufsehen der Medien hinter verschlossenen Türen abhalten wollte. Diese Rechnung ging nicht auf und auf den öffentlichen Protest der sudanesischen Diaspora in Berlin hin rechtfertigte das AA sein Vorgehen damit, dass „unilaterale Maßnahmen“ keine Lösung bringen würden und daher die Kooperation mit „regionalen Partnern“ angestrebt wird. (6)
Welche Art der Kooperation hier gemeint ist und wem dabei als regionalem Partner Bedeutung zugemessen wird, erschließt sich mit einem Blick hinter die Kulissen des europäischen Migrationsmanagements im Mittelmeer und am Horn von Afrika.
Abschreckungspolitik im Mittelmeer: Die Obsession mit den Pull-Faktoren (7)
Nachdem in den Jahren 2013 und 2014 die Zahl der Bootsflüchtenden über die zentrale Mittelmeerroute ihren vorläufigen Höhepunkt erreichte, arbeiteten die Regierungen der Europäischen Union und die EU-Kommission im Eiltempo daran, ihren selbst diagnostizierten Kontrollverlust durch neue umfassende Strategien einzudämmen.
Ganz im Sinne der Aussagen de Maizières gegenüber der Seenotrettungsmission Mare Nostrum der italienischen Küstenwache, welche er als „objektive Beihilfe zum Schlepperwesen“ (8) bezeichnete, damit als wesentliche Ursache (als Pull-Faktor) für das Sterben auf dem Mittelmeer ausmachte, und die geforderte Unterstützung der Mission ablehnte, wurde die staatliche Seenotrettung weitgehend eingestellt. Private Seenotretter*innen übernahmen seit 2015 zunehmend diese Verantwortung und sahen sich schnell dem Vorwurf ausgesetzt, gemeinsame Sache mit den libyschen Schleppern zu machen und damit für das Sterben auf dem Mittelmeer Verantwortung zu tragen.
Oftmals wurde bemerkt, dass die beschworene Kausalität zwischen der Seenotrettung mit dem Ertrinken im Meer ungefähr so schlüssig ist, wie zu behaupten, dass es weniger Verkehrsunfälle gäbe, wenn keine Krankenwägen mehr fahren würden.
Gegenüber den wiederholt vorgebrachten Erkenntnissen zivilgesellschaftlicher Menschenrechtsorganisationen (9) oder der International Organisation for Migration (10), dass gerade das Fehlen sicherer Migrationsrouten und die europäische Abschottung den Nährboden für das Schleppergeschäft bestellt und die immer gefährlicheren Routen erklärt, denen sich Migrant*innen aussetzen müssen, zeigten sich die verantwortlichen Stellen europäischer Politik als wenig belehrsam.
Im Gegenteil: Das ultrarechte Verschwörungsbild der Komplizenschaft von „linksradikaler Seenotrettung“ und libyschen Menschenhändlern, mit dem gemeinsamen Ziel, die Grundfesten des Abendlandes zu untergraben, unterfütterte die Obsession offizieller Politik mit dem Abbau der Pull-Faktoren: Der Anziehungskraft Europas für irreguläre Migration, welche durch laxe Grenzsicherung, Komplizenschaft mit Schleppern und „garantierte“ Rettung auf dem Mittelmeer entstehen würde.
Die italienische Regierung legte vor, als sie 2017 in einem Memorandum of Understanding mit der libyschen Einheitsregierung (welche ausschließlich einen Teil der Hauptstadt Tripolis kontrolliert) den Aufbau, die Ausbildung und Ausrüstung einer libyschen Küstenwache vereinbarte. Die Aufgabe: Schlepper bekämpfen, deren Boote am Ablegen hindern oder zerstören, mit dem nicht explizit formulierten, aber gewünschten Ergebnis, irreguläre Migrant*innen innerhalb des libyschen Staatsgebiets festzusetzen. Die EU-Kommission beteiligte sich mit finanzieller Unterstützung und eigenen Ideen zum „capacity building“ der zu schaffenden Küstenwache.
Während einige Schleppergruppen auf die Aussicht zerstörter und konfiszierter Boote damit reagierten, ihre Holzboote mit weit günstigeren und seeuntauglicheren Schlauchbooten zu ersetzen oder abwegigere Routen zu wählen, eröffnete derselbe Deal Anderen ein lukratives Nebengeschäft: In stiller Kooperation mit der sogenannten Küstenwache, oder als Mitglieder derselben, konnten Menschen, die um jeden Preis die Hölle der libyschen Lager hinter sich lassen wollten, zunächst für ihre Überfahrt abkassiert, dann auf offener See wieder aufgegriffen und in den selben zynischen Kreislauf der Schlepperökonomie von Sklavenarbeit, Folter und Erpressung gezwungen werden (11).
Zeugnis davon geben die zivilgesellschaftlichen Seenotrettungsorganisationen, die berichten, wie Menschen in Panik von der sich nähernden sogenannten libyschen Küstenwache ins Meer sprangen und ertranken.
Oder davon, dass Booten auf offener See der Motor entnommen wurde, zum Rückverkauf an die Kollegen an der libyschen Küste. Oder davon, dass private Seenotretter*innen auf offener See festgehalten und mit der Waffe bedroht wurden. (12)
Nebenbei erfüllte die neue Küstenwache für die europäische Politik zwei andere Funktionen: Die private Seenotrettung massiv und unter Androhung von Gewalt zu behindern und einzuschüchtern, und jene Arbeit zu übernehmen, welche europäischen Booten wegen dem „Non-Refoulement“-Gebot versagt ist: Die erzwungene Rückkehr („Push-Backs“) von Migrant*innen in die lebensbedrohlichen Zustände libyscher Internierungslager. Was vom libyschen Staat derzeit übrig ist, ist nicht Teil der Konventionen, die dies untersagt.
Rückläufige Zahlen von Bootsflüchtenden konnten europäische Regierungen als Ausweis ihrer rückgewonnenen Kontrolle über die „Flüchtlingskrise“ verbuchen. Die Bekämpfung der Ursachen irregulärer Migration wurde zum neuen Non-plus-Ultra nachhaltiger Migrationspolitik erklärt. Die umgesetzten Maßnahmen zeigen, dass damit in erster Linie Schlepperbekämpfung gemeint ist und die Bekämpfung der Ursachen von Flucht vor Ort vor allem meint, die Grenzen Europas direkt an den Ursprung der Migrationsrouten zu verschieben.
Externalisierung der EU-Grenzen am Horn von Afrika: Der Khartoum-Deal
Die Länder am Horn von Afrika stehen dabei im Zentrum der europäischen Migrationsstrategien.
Insbesondere der Sudan, Eritrea und Somalia gelten als maßgebliche Herkunfts- oder Transitländer für Migrant*innen, welche versuchen, über Ägypten oder Libyen den Weg nach Europa einzuschlagen, wobei der Sudan aufgrund seiner zentralen Lage im Fokus steht. Im November 2014 versammelten sich 58 Regierungschefs des europäischen und afrikanischen Kontinents in der sudanesischen Hauptstadt Khartoum, um für das ostafrikanische Festland das zu planen, was im Sinne des Migrationsmanagements durch den Rabat-Prozess (12) für West-Afrika eingeführt und seit neuestem auf dem Mittelmeer mit der libyschen Einheitsregierung durchgesetzt wird. Offizielle Dokumente sprechen von „cooperation at bilateral and regional level“, der Stärkung der „horizontal coordination among all services“ und „capacity building“ zur Bekämpfung irregulärer Migration und Menschenhandels. (14)
Finanziert durch die EU und umgesetzt durch das International Center for Migration Policy Development (ICMPD) und nationale Partnerorganisationen, wie die deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ), wurde unter anderem die Einrichtung einer gemeinsamen Polizeiakademie in Ägypten vereinbart, die Vernetzung geheimdienstlicher Informationen („ROCK“(15)), der Bau von zwei Auffanglagern mit Haftanstalten im Sudan, sowie die Schulung und Ausrüstung sudanesischer Grenzschützer. (16) Davon profitierten auch die paramilitärischen Einheiten der für den Völkermord in Darfur, Blue Nile und Süd-Kordofan verantwortlichen „Janjaweed“, aus welchen 2013 die bereits erwähnten Rapid Support Forces (RSF) formiert und offiziell unter die Kontrolle des Geheimdienstes gestellt wurden. (17)
Diese Integration der RSF in den Staatsapparat war der Versuch des Regimes, die Miliz von ihrer blutigen Vergangenheit reinzuwaschen und ihr seit 2015 den Ruf als verlässliche Truppe zur effektiven Sicherung der Grenzen zu verleihen. Der oben genannte Anführer der Miliz ist heute ein führender Kopf des militärischen Übergangsrates „Hemeti“, und ein willkommener Gast des ägyptischen und saudischen Regimes.
Er brüstete sich wiederholt mit der Verantwortung, die er für die Europäische Union in der Bekämpfung irregulärer Migration übernehme. Dieser Ausspruch war freilich verbunden mit einer Drohung, die Hemeti in eine Linie mit dem ägyptischen Präsidenten Sisi stellt: Wenn Europa dem Regime nicht weiter Unterstützung zusichert, öffnen wir die Grenzen (18).
Die Realität der Schlepperbekämpfung im Rahmen des Khartoum-Prozesses sieht dann unter anderem so aus, dass RSF-Einheiten, zum Beweis ihres Engagements als Dienstleister Europas, eritreische Flüchtlinge (auch direkt in Flüchtlingscamps) aufgreifen und zurück nach Eritrea abschieben, von wo sie dem berüchtigten nationalen Militärdienst zu entkommen versuchten, den das eritreische Regime bei Bedarf auf Lebenszeit ausweitet. Offiziellen Verlautbarungen nach, kontrollierte die RSF die zentralen Migrationsrouten über Khartoum nach Ägypten und Libyen und überbietet sich in Meldungen über die Zahl der Menschen, die am Überqueren der Grenze gehindert wurden.
Inoffiziellen Aussagen nach zu urteilen, entwickelte sich dieselbe Dynamik, die wir in Libyen beobachten können:
„Migrant smuggling is not a sin,“ one of them rationalises (RSF-Mitglied). „Even if we leave [this activity], others will take care of it. So why not benefit from it and get some money, since the fuel is already provided by the government?“ (19)
Ausgestattet mit Benzin und offiziellem Mandat, realisierten RSF-Mitglieder ihre Kontakte zu libyschen Schmugglern und Menschenhändlern, um einen profitablen Nebenverdienst zu etablieren.
Viele Geflüchtete berichten von ihrer Reise in RSF-Fahrzeugen über die sudanesisch-libysche Grenze, wo sie an libysche Gruppen weiterverkauft wurden und diesen durch ihre „Schulden“ auf Gedeih und Verderb ausgeliefert sind (20).
„Wir sind uns der Tatsache bewusst, dass wir es dabei mit autoritären Regimen zu tun haben, mit Diktaturen. Aber für uns ist das Wichtigste, dass die vielen verzweifelten Menschen Schutz bekommen. Also nehmen wir diese Staaten mit an Bord, ohne deren Regime damit zu legalisieren. Sie bekommen von uns keine politische oder demokratische Legitimation. Wir konfrontieren sie nur mit ihrer Verantwortung.“ (21)
Mit solchen Worten rechtfertigte der EU-Kommissar für Migration, Dimitris Avramopoulos, die mit dem Khartoum-Prozess einhergehende Legitimierung der diktatorischen Regime Eritreas und Sudans. Es bleibet dahingestellt, ob er allen Ernstes seinen naiven Worten Glauben schenkte oder die zynischen Implikationen der Zusammenarbeit mit den Diktatoren der Region ganz bewusst in euphemistische Watte zu verpacken suchte, denn das Ergebnis ist dasselbe.
Ebenso ändert es nichts, ob sich der deutsche Entwicklungshilfeminister Gerd Müller wegduckt, indem er sagt, dass er den Zusammenhang von RSF-Beteiligung an EU-finanzierter Grenzsicherung „nicht nachvollziehen“ könne (22), oder ob die EU-Kommission ihre Verantwortung dadurch abstreitet, dass nicht sie selbst, sondern ihre Partnerorganisationen (die GIZ beispielsweise), die Vereinbarungen durchsetze.
Laut einer Mitteilung eines Sprechers der EU gegenüber der Deutschen Welle vom 22. Juli 2019 (23), sei die Zusammenarbeit mit der sudanesischen Regierung in der Bekämpfung irregulärer Migration seit März 2019 suspendiert. Die Finanzierung eines Geheimdienstzentrums (ROCK) in Khartoum sei erst seit Juni vorübergehend auf Eis gelegt. Doch scheint diese Erklärung im Lichte des vorherigen Abstreitens jeder Verantwortung zusätzliche Widersprüche aufzuwerfen. Denn erlaubt es nicht den Umkehrschluss, dass bis dahin wissentlich die Kooperation mit paramilitärischen Milizen eingegangen wurde, bzw. nicht ausgeschlossen werden konnte?
Das Ergebnis:
Die Militärregime Sudans und Eritreas erfreuten sich an jenem Teil der Khartoum-Vereinbarung, der für sie wichtig ist, nämlich ihrer diplomatischen Isolation zu entkommen und mit neuem Geld die eigenen Sicherheitskräfte zu stärken, ohne am Schutz der Migrant*innen und Flüchtenden, oder der Eindämmung der Migration interessiert zu sein. (24)
Die europäischen Regierungen können ihrerseits mit den Früchten ihrer Migrationspolitik am Horn von Afrika hausieren gehen. Für Migrant*innen im Sudan hingegen bedeutet es eine weiter gesteigerte Willkür von Seiten der Sicherheitskräfte und gefährlichere Fluchtrouten.
Für die sudanesische Demokratiebewegung überwiegt der Eindruck, dass europäische Regierungen in der Wahl zwischen der Unterstützung eines ungewissen Prozesses der Demokratisierung und der „Verlässlichkeit und Stabilität“ autokratischer Regime ihre Entscheidung schon lange getroffen haben. Wäre es in diesem Sinne nicht langsam angebracht, das EU „Better Migration Management“ als maßgeblichen Push-Faktor zu bezeichnen?
Die Revolution im Sudan geht weiter
Nach dem Millionenmarsch der Demokratiebewegung im Sudan am 30. Juni schien es kurz so, als wäre das Militär zu Kompromissen bereit: TMC und FFC vereinbarten die Teilung der Macht und die Bildung einer Übergangsregierung. Innerhalb der Opposition ist der Handschlag mit den Militärs und Milizenführern umstritten. Manche sehen ihn als den einzig möglichen Ausweg aus der Gewalt, die anderen als Spaltung und Ausverkauf der Revolution, weil es einen weiteren Schritt für die Legitimation der Gewalttäter darstellt.
Das Militär stimmte einer Aufklärung des Massakers vom 3. Juni zu, lehnte aber die Einbeziehung internationaler Beobachter*innen ab und fordert Immunität für die Mitglieder des TMC. Dass die Henker bereit wären, sich selbst an den Pranger zu stellen, und die fortschreitende Etablierung eines „Milizenstaates“ zu unterbinden, glaubte auf den Straßen Khartoums wohl kaum jemand, und kurze Zeit später kam es zu erneuten Massenprotesten.
Offiziell wurde der TMC am 18. August durch die Bildung eines souveränen Rates und Kabinetts aufgelöst. Der Ökonom Abdalla Hamdok wurde als Premierminister eingeschworen, während der Vorsitz des Souveränen Rates für die ersten 21 Monate an Abdel Fattah al Burhan (ehemals Vorsitzender des TMC) geht.
Erst in 39 Monaten sollen Wahlen abgehalten werden, womit der Clique aus Militär und Milizen einige Zeit bleibt, um ihre angeschlagene Machtposition wieder zu festigen. Nicht nur aufgrund der freundlichen Verbindungen des al-Baschir-Regimes und seiner Anhänger zum syrischen Assad-Regime und den Diktatoren in Ägypten, Saudi Arabien und den Emiraten bleibt zu befürchten, dass die autoritären Kräfte mithilfe ihrer zahllosen Milizen versuchen werden, die Opposition mit andauernder Gewalt niederzuringen. Von Beginn auf Gewaltfreiheit eingeschworen und selbst unter völliger Blockade des Internets nicht ihrer Schlagkräftigkeit beraubt, geht die Revolution weiter.
Die europäischen Regierungen und allen voran die EU-Kommission schreiten derweil unbeirrt voran, ihre Verquickung von Entwicklungs-, Migrations- und Militärpolitik zu festigen. Der mehrjährige Finanzrahmen der EU für 2021 – 2027 sieht eine Halbierung der Mittel für Entwicklungshilfe vor, während die Ausgaben für „Auswärtiges“ deutlich steigen. Darunter fiele dann auch die Auslieferung von Rüstungsexporten an auswärtige Partner in Höhe von 10,5 Milliarden Euro (25).
Die „Wahl“ der deutschen Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen zur neuen EU-Kommissionspräsidentin sowie der gegenwärtige Vorsitz des eritreischen Regimes im Khartoum-Prozess lassen keine Hoffnungen aufkommen, dass die „Bekämpfung der Fluchtursachen“ am Horn von Afrika in Zukunft mehr sein wird als euphemistischer Hohn.
Wasil Schauseil
Anmerkungen:
1) Monitor – Grenzen dicht: Europas Pakt mit Despoten, Nikolaus Steiner und Charlotte Wiedl: https://www.wdr.de/tv/applications/daserste/monitor/pdf/2015/0723/manuskript-grenzen-dicht.pdf
2) https://www.theguardian.com/world/2019/jul/13/sudanese-protesters-demand-justice-after-mass-killings
4) https://www.aljazeera.com/news/2019/06/sudan-rsf-commander-hemeti-190605223433929.html
6) https://www.auswaertiges-amt.de/de/newsroom/maas-informelles-koordinierungstreffen-sudan/2228712
7) Das Push-Pull-Modell der Migration steht im Zentrum der ökonomisch motivierten Migrationstheorie und geht davon aus, dass Menschen entweder durch Push-Faktoren (Armut, politische Unterdrückung etc.) aus Gebieten „weggedrückt” oder durch Pull-Faktoren (Wohlstand, Sicherheit etc.) von anderen Gebieten „angezogen” werden.
9) Mare Nostrum „Beihilfe zum Schlepperwesen“: https://www.proasyl.de/fachnewsletter-beitrag/bundesinnenminister-mare-nostrum-beihilfe-zum-schlepperwesen/
10) IOM Applauds Italy’s Life-Saving Mare Nostrum Operation: “Not a Migrant Pull Factor”: https://www.iom.int/news/iom-applauds-italys-life-saving-mare-nostrum-operation-not-migrant-pull-factor
11) https://www.proasyl.de/pressemitteilung/seenotrettung-durch-libysche-kuestenwache/
https://www1.wdr.de/daserste/monitor/sendungen/libysche-kuestenwache-100.html
12) https://sea-watch.org/update-beweise-libysche-kuestenwache/ , https://sea-watch.org/sea-watch-erstattet-anzeigegegen-libysche-kuestenwache-lycg, https://www.tagesspiegel.de/politik/retter-im-mittelmeer-libyschekuestenwache-bedroht-fluechtlingshelfer/20203780.html
13) Der Rabat-Prozess (benannt nach der Hauptstadt Marrokos) bezeichnet die anhaltende Kooperation von mehr als sechzig europäischen sowie nord-, west- und zentralafrikanischen Staaten zum besseren „Migrationsmanagement“ zwischen dem afrikanischen und europäischen Kontinent. Initiiert wurde der Rabat-Prozess 2006 vom International Centre for Migration Policy Development (ICMPD).
15) https://www.nytimes.com/2018/04/22/world/africa/migration-european-union-sudan.html
16) Border Control From Hell: How the EU’s migration partnership legitimizes Sudan’s “militia state”, Suliman Baldo
17) Border Control From Hell
18) Border Control From Hell und Video der Rede von “Hemeti”: https://www.youtube.com/watch?v=aCv7LYhjNQA&feature=youtu.be
19) Multilateral Damage: The impact of EU migration policies on central Saharan routes, Jérôme Tubiana, Clotilde Warin, Gaffar Mohammud Saeneen
20) Multilateral Damage
21) Monitor – Grenzen dicht: Europas Pakt mit Despoten, Nikolaus Steiner und Charlotte Wiedl: https://www.wdr.de/tv/applications/daserste/monitor/pdf/2015/0723/manuskript-grenzen-dicht.pdf
22) Antwort auf Befragung der Bundesregierung zum Sudan im Bundestag: https://web.facebook.com/buchholz.christine/videos/1540062482797500/?v=1540062482797500
24) The Khartoum Process: Critical Assessment and Policy Recommendations, Maximilian Stern
25) Militarisierung und Migrationsabwehr in Europa, Richard Klasen: https://www.forumzfd.de/de/militarisierung-undmigrationsabwehr-Europa
Artikel aus: Graswurzelrevolution Nr. 442, Oktober 2019, www.graswurzel.net