Ernest Mandel 100

Ernest Mandel, der am 5. April 1923 in Frankfurt a. M. geboren wurde, wäre jetzt einhundert Jahre alt geworden. In einem jüdisch-sozialistischen Elternhaus in Antwerpen aufgewachsen, wurde Mandel einer der produktivsten Sozialwissenschaftler des 20. Jahrhunderts. Durch mehr als zwei Dutzend Bücher, durch Hunderte Aufsätze und mehr als zweitausend journalistische Artikel zieht sich wie ein roter Faden die praktische Dimension seiner geistigen Anstrengungen: Mitzuarbeiten an der Transformation der kapitalistischen in eine sozialistische Gesellschaft, die statt durch bürokratischen Despotismus durch die Selbstverwaltung der Lohnabhängigen auf allen Ebenen geprägt sein sollte.

Als Jude und seit seiner Jugend überzeugter Trotzkist, überlebte Mandel Krieg und Holocaust nur durch eine Verkettung unwahrscheinlich glücklicher Umstände. Er war mitentscheidend an der Einberufung einer illegalen Europäischen Konferenz der IV. Internationale im Februar 1944 in Frankreich beteiligt, die von den nazistischen Besatzern nicht verhindert werden konnte. Im April 1945 wurde er aus dem Lager Nieder-Roden bei Frankfurt a. M. durch die Alliierten befreit. Mandels Hoffnung, sein durch die Okkupation Belgiens unterbrochene Studium der Wirtschafts- und Sozialgeschichte wiederaufnehmen zu können, erfüllte sich zunächst nicht. Er musste zeitweise mit großen materiellen Schwierigkeiten ringen. Von 1954 bis 1963 arbeitete er als wirtschaftswissenschaftlicher Sachverständiger für den belgischen Gewerkschaftsbund. In dieser Zeit war er auch Mitglied der belgischen Sozialdemokratischen Partei, aus der er als aktiver Trotzkist jedoch ausgeschlossen wurde.

Schon in den unmittelbaren Nachkriegsjahren wurde Ernest Mandel sowohl als theoretischer Kopf wie als Aktivist der trotzkistischen Richtung innerhalb des revolutionären Sozialismus bekannt. Seit 1945 gehörte er bis zu seinem Tode dem Vereinigten Sekretariat, dem Führungsgremium der kleinen, in sich bald gespaltenen IV. Internationale, an. Als politischer Publizist machte er sich über die trotzkistischen Gruppierungen hinaus einen Namen, obwohl er zunächst nur unter Pseudonym publizieren konnte. Zugleich begann er, systematisch beinahe die gesamte wirtschaftswissenschaftliche Literatur zu studieren. Resultat war 1962 die fast tausendseitige Abhandlung „Traité d’Economie Marxiste“. Das Buch wurde in alle Weltsprachen übersetzt; in der Bundesrepublik erschien es 1968 bei Suhrkamp unter dem Titel „Marxistische Wirtschaftstheorie“.

Mandel begriff die von Marx analysierten ökonomischen Gesetzmäßigkeiten nicht als Fetisch, sondern suchte nach Möglichkeiten, den logischen Selbstwiderspruch des Kapitals durch die Emanzipation der Gesellschaft vom Kapitalismus zu lösen. Mandel argumentierte, dass der Sozialismus jede Form der warenproduzierenden Gesellschaft schließlich überwinden werde. Dies brachte ihn in theoretischen Gegensatz zu zahlreichen Linken in Ost und West, die in den sechziger Jahren nach einem Sozialismus-Modell suchten, das Plan und Markt miteinander vereinbaren könne. Den parlamentarischen Reformvorstellungen vieler Linker setzte Mandel seine Auffassung entgegen, dass nur eine auf dem Rätesystem beruhende Selbstregierung der werktätigen Massen dem Sozialismus adäquat sei. Allerdings trat Mandel stets für Parteien-Pluralismus auf dem Boden einer sozialistischen Verfassung ein und sprach sich auch für das Prinzip der Gewaltenteilung aus, wobei die verschiedenen Komponenten „von unten her“ einer Kontrolle unterworfen sein sollten. Der deutsche Leser kann eine Reihe diesbezüglicher Überlegungen in den Bänden „Der Spätkapitalismus – Versuch einer marxistischen Erklärung“ (1972), „Revolutionäre Strategien im 20. Jahrhundert“ (1978), „Kritik des Eurokommunismus“ (1978), „Revolutionärer Marxismus heute“ (1982) sowie in dem gemeinsam mit Johannes Agnoli verfassten Gesprächsband „Offener Marxismus“ (1980) finden. Doch neigte Mandel in seinem unerschütterlichen Optimismus dazu, die Beharrungskräfte des Kapitalismus zu unter- jedoch das revolutionäre Bewusstsein der Arbeitenden zu überschätzen.

Als einer der bedeutendsten Schüler Leo Trotzkis beschäftigte sich Ernest Mandel immer wieder mit Leben und Werk des russischen Revolutionärs. Er verdichtete seine Überlegungen 1981 zu dem Band „Leo Trotzki – eine Einführung in sein Denken“, der, wesentlich erweitert und der veränderten politischen Situation Rechnung tragend, 1992 unter dem Titel „Trotzki als Alternative“ neu erschien. Ein Vergleich beider Ausgaben zeigt, dass Ernest Mandel in seinen letzten Lebensjahren Werk und Persönlichkeit Trotzkis stärker historisierte, also kritischer sah, ohne seine Sympathie und Verehrung für diesen großen Ketzer im Kommunismus abzuschwächen. Mandel leuchtete jene Widersprüche in Trotzkis Denken aus, die ihn in der Phase des Bürgerkrieges und des Kriegskommunismus 1918-21 seine libertären Vorstellungen zeitweilig beinahe vergessen ließen. Doch unterstrich Mandel die Erkenntnis der Revolutionäre von Marx bis Trotzki, dass die Lohnabhängigen sich selbst organisieren und befreien müssen, dass keine Partei und kein Zentralkomitee diese Aufgabe für sie übernehmen kann. Mandel porträtierte Trotzki nicht nur als machtpolitischen Gegenspieler Stalins, sondern als Alternative zum Stalinismus, ohne sich in Spekulationen allzu sehr zu verlieren. Er wies schlüssig nach, dass viele der Krisen im Marxismus durch Stalins Aufstieg und die brutale Art seiner Herrschaft überhaupt erst hervorgerufen wurden. Wie viele andere Sozialisten analysierte auch Ernest Mandel in den achtziger Jahren die Ursachen und möglichen Entwicklungsrichtungen der Perestrojka in der Sowjetunion, wobei sich seine Hoffnungen auf eine sozialistische Erneuerung der UdSSR nicht bestätigten.

Erst 1962 hatte Mandel sein Studium wieder aufnehmen und es 1967 an der Sorbonne abschließen können. Anfang 1972 wurde er von der Berufungskommission des Fachbereichs Wirtschaftswissenschaften der Freien Universität Berlin (FU) für eine Professur im Fach Sozialpolitik vorgeschlagen. Dies rief seine Gegner auf den Plan. Mandel habe nicht promoviert und könne nicht berufen werden, obwohl das Universitätsgesetz die Berufung Nichtpromovierter in Ausnahmefällen einräumte. Die schließlich Ablehnung Mandels durch den Wissenschaftssenator der Stadt wurde jedoch nicht mit dem noch fehlenden Doktortitel begründet, sondern mit Mandels „gegen den demokratischen Rechtsstaat gerichteten politischen Aktivitäten.“ Doch dies genügte Mandels Widersachern nicht: Am 28. Februar 1972 verwehrte der Bundesgrenzschutz mit ausdrücklicher Order von Innenminister Genscher ihm die Einreise in die Bundesrepublik, da Ernest Mandel die Zerschlagung des bürgerlichen Staatsapparates anstrebe. Die Solidarität von FU-Kollegen wie Elmar Altvater und Reinhard Rürup ermöglichte Mandel die externe Promotion in Brüssel. Erst 1978 wurden die Reisebeschränkungen, denen Mandel auch in einer Reihe weiterer westlicher Staaten, darunter den USA, unterlag, aufgehoben. In den sich sozialistisch nennenden Staaten blieb er eine „Unperson“: Er durfte nicht dorthin einreisen und seine Werke wurden in den „Giftschrank“ der Bibliotheken verbannt.

Sein wissenschaftlicher Weg war steinig. Erst im Jahre 1982 erhielt er an der Freien Universität Brüssel eine außerordentliche, 1986, zwei Jahre vor der Emeritierung, dann eine ordentliche Professur für Politische Ökonomie. Nach 1989 konnten erstmals seine Arbeiten in Osteuropa erscheinen und er selbst in der Noch-DDR auftreten, wo ich ihn als einen solidarischen, stets auch am Weg der ostdeutschen Wissenschaftler interessierten Menschen kennenlernte.

Wer Ernest Mandel kannte, war von seinem tiefen Sinn für Gerechtigkeit, seinem Kampfesmut und historischen Optimismus ebenso beeindruckt wie von seinen vielseitigen Interessen für die Kunst und Literatur. Er war in vielen Sprachen und Kulturen zu Hause, doch Antwerpen blieb seine Heimat. Er war Internationalist, aber keineswegs wurzellos, wie ein Klischee vielleicht suggerieren mag. In seiner langjährigen deutschen Lebensgefährtin Gisela fand er eine Partnerin für seine Arbeit und eine kongeniale Übersetzerin vieler seiner Bücher. Nach ihrem Tod wurde seine zweite Frau Anne der ihm am nächsten stehende Mensch. Als revolutionärer Sozialist, als ungemein produktiver Wissenschaftler, als Internationalist war der am 20. Juli 1995 in Brüssel verstorbene Ernest Mandel weit über die trotzkistische Bewegung hinaus ein Lehrer von mehreren Generationen der Linken. Er wird es durch seine Werke bleiben.