»Die weiße puritanische Gesellschaft braucht ihren Sündenbock«

Interview mit Brontez Purnell

iz3w: Du bist in Triana aufgewachsen, einem Örtchen im Norden Alabamas an den Ufern des Tennessee River. Triana zählt 458 Seelen und hat einen Schwarzen Bevölkerungsanteil von 86 Prozent. Wie ist dir Männlichkeit dort begegnet?

Brontez Purnell: Meine Familie war ziemlich matriarchal. Meine Mutter hatte zehn Geschwister und nur vier von ihnen waren Jungs. Die Frauen waren also in der Mehrheit. Ich wuchs mit dieser Doppelnatur auf: Männer beherrschen die Welt, aber in meiner Familie saßen die Frauen am Ruder.

Und ich denke das gilt für viele soziale Zusammenhänge. Viele Menschen wachsen mit einer Mutter auf, die die Hosen anhat in der Familie. Neben all den äußerlichen Faktoren wie männlicher Gewalt und Privilegien waren die Frauen dennoch der Kopf meiner Familie. Im Guten wie im Schlechten, denn Frauen können auch sehr grausam sein.

Für die Männer, mit denen ich aufwuchs, hatte Männlichkeit oft etwas Infantilisierendes. Für meinen Großvater etwa, dessen einzige Aufgabe war, das Geld nach Hause zu bringen. Meine Großmutter gab zuhause die Anweisungen und er musste in der Ecke sitzen und warten, bis er aufgefordert wurde. Für alles gab es Regeln. Wir sehen unsere Väter als Oberhaupt des Haushalts, aber ihre Rollen sind vorgeschrieben. Ich glaube meine Großeltern waren gelangweilt und frustriert von diesen verfestigten Rollen. Daher kam der Überdruss, die Grausamkeit, die sich an den Kindern entlud – sie konnten sich nicht ausdrücken, durften sich nicht ausleben wie wir das heute tun.

 

Wie ist der Umgang der US-Gesellschaft mit Schwarzer Homosexualität? Wie wirken Rassismus und Homophobie zusammen?

Ich habe mich oft gefragt, wie wir damit umgehen, mit diesem übersexualisierten Bild von uns. Mit meiner Band Gravy Train!!! (2001 – 2010) tanzte ich die meiste Zeit in Unterwäsche herum, aber sehr verspielt. Wir machten uns über Sex lustig, versuchten gar nicht erst sexy zu sein. Wenn Leute darin ein rassistisches Klischee sehen wollen, sagt es mehr über sie aus als über dich. Die weiße puritanische Gesellschaft mit ihrer sexuellen Frustration hat schon immer einen Sündenbock gebraucht.

In der Sklavenhaltergesellschaft dachten die privilegierten Weißen, dass Sklav*innen ihre sexuelle Freiheit auslebten, weil sie keine arrangierten Ehen hatten. Diese Vorstellung führte zu großer Gewalt. Sie wurde als Vorwand genommen, ungestraft zu misshandeln und vergewaltigen, indem eben diese Vorstellung von sexueller Freiheit auf Schwarze Menschen projiziert wurde. Insbesondere wenn man über diese Menschen als Besitz verfügte.

Es gibt eine seltsame Obsession mit Schwarzer männlicher Homosexualität. Schau dir mal Little Richard an, und wie viele weiße Rock’n’Roller ihn zum Vorbild nahmen. Little Richard sagte immer, dass die Beatles von ihm besessen seien. Auch Elvis hat bei ihm geklaut. Aber in der Gesellschaft galt er als der seltsame Außenseiter.

Ich glaube auch, dass deshalb das Leben von Michael Jackson so kompliziert, tragisch und heftig war. Er bewegte sich weit außerhalb traditioneller Männlichkeit, aber es gab trotzdem dieses übersexualisierte Bild von ihm.

Mein Kumpel Channing Joseph schreibt gerade ein Buch über William Dorsey Swan. Das war ein Mann, der Drag-Bälle schmiss, in der Straße vom Weißen Haus in Washington D.C. Bei einem gab es dann eine Razzia, das war 1888.

Die ersten schwulen Schwarzen Männer, an die ich eine popkulturelle Erinnerung habe, waren Lamar Latrelle in »Revenge of the Nerds« (1984) und Hollywood Montrose aus dem Film »Mannequin« (1987). Und die waren nicht nur Schwarze schwule Männer – das waren Schwarze schwule New-Wave-Typen! Sie wurden nicht auf schlimme Weise dargestellt, sondern als Protagonisten der Geschichte.

In den 1980ern waren Darstellungen queerer Sexualität und auch Schwarzer queerer Sexualität gefühlt überall, und in großer Zahl. Doch dann erfolgte ein Rollback in eine heftige, harte Sexualität, die oft homophob ist, bis wir dann bei Gangsta Rap angekommen sind. Es gibt auch Theorien, dass es an AIDS lag, dass wir von diesen vielfältigen Repräsentationen von Sexualität wieder zurück bei der harten Männlichkeit ankamen. Aber ich sehe, wie wir uns wieder davon wegbewegen, mit dem Erfolg von Lil‘ Nas X und all den queeren Möglichkeiten – es scheint, dass es Licht am Ende des Tunnels gibt.

Ich sage voraus, dass das unser Zeitalter wird, passiere was wolle. Ich erinnere mich daran, wie glücklich ich war, als ich Lil‘ Nas X das erste Mal sah. Es gab eine Zeit, da waren die schwulen Rapper eine ganz kleine Gruppe. House of LaDosha in New York, Mykki Blanco in Oakland, Le1f. Es gab noch einen kleineren Kreis von Schwarzen schwulen Indie-Rock-Jungs, wir kannten uns alle. Als wir dann aber Lil‘ Nas X sahen, dachten wir: Woher kam der jetzt? Und wir waren uns plötzlich im Klaren, dass unsere Arbeit nicht umsonst war. Das war aufregend.

 

Zurück nach Oakland: War es ein Exodus für dich, dorthin zu ziehen, fort von den Normen und Idealen, die du nicht erfüllen wolltest?

Ich fühle mich wie das letzte Kind der Great Migration, jener großen Wanderungsbewegung, bei der im 20. Jahrhundert Millionen Schwarze in die Industriestädte des Nordens zogen. Es ging auch für mich darum, dem Süden zu entfliehen, und allem was damit zusammenhängt – woanders anzukommen und etwas komplett Neues zu erleben. Es steckt auch in der Geschichte der Westküste, ganz generell: Menschen kamen aus dem ganzen Land hierher, um ihr Leben im Osten hinter sich zu lassen, um sich neu zu erfinden, ein neues Leben anzufangen. Wie der Bruder meiner Großmutter, der in den 1960ern hier nach Oakland kam, und als Bluesmusiker einen Club eröffnete, gerade hier die Straße hoch. Er kam zu Besuch nach Alabama und hatte diese verrückte weiße Hippiefreundin.

Sie wussten nicht, dass ich schwul war, aber weil ich der einzige seiner Neffen war, der Gitarre spielen konnte, meinten sie: »Du musst nach Kalifornien, wenn du groß bist.« Als ich also 19 war, sprang ich in diesen Van von Leuten aus West-Arkansas, die ich selbst kaum kannte. Ich war vorher nie in Kalifornien gewesen. Inzwischen sind es 19 Jahre. Kalifornien repräsentierte definitiv etwas Neues. Die Westküste ist auch die letzte Frontier, das Grenzland. Weiter kommst du nicht, außer du fängst an zu schwimmen.

 

Als Tänzer, Musiker, Dichter, Aktivist und Filmemacher bist du tief verwurzelt in der DIY-Kultur des Punks. Punk wurde ja oft dafür kritisiert, dass er nicht so offen und divers ist, wie er gerne tut. Was ist deine Erfahrung?

Definitiv leidet die ganze Sache darunter. Aber ich muss auch sagen, so wie Punk sich uns in den 1990ern eröffnete, schien es wirklich als dieses große Ding, auf das jede*r aufspringen konnte. Ich habe auch meine Querelen mit Punkrock. Aber ein Großteil der Dinge, die ich hier gelernt habe, haben mich durchs Leben gebracht.

In meiner Kariere war es definitiv der Fall, dass meine Band nicht so oft gebucht wurde, weil ich schwul und Schwarz bin. Ich hatte nicht dieselben Zugänge, die Möglichkeiten, das war schon manchmal hart. Aber alles in allem habe ich es trotzdem geschafft.

 

Welche Rolle spielen Männlichkeit und Homosexualität in deinem neuen Buch »100 Boyfriends«?

»100 Boyfriends« ist ein Roman über Lebensgeschichten verschiedener Männer, die miteinander verbunden sind. Ich versuche dabei darzustellen, wie Gefühle Verhalten beeinflussen und wie Verhalten Gefühle formt. Es gibt natürlich eine Menge Sex im Buch. Aber vor allem geht es um die Charaktere, die sich fragen »Wie bin ich hier schon wieder gelandet?«

Es geht um das Älterwerden, und darum, sich immer in denselben Mustern wiederzufinden und wie man aus diesen wieder herausfindet. Ich weiß nicht, ob die Charaktere immer Antworten parat haben, aber ich finde es interessanter, wenn Leute anfangen, sich tiefergehende Fragen über ihr Leben zu stellen. Das ist oft wichtiger als die Antwort.

 

Literatur von Brontez Purnell

Since I Laid My Burden Down. CUNY Feminist Press, 2017, ca. 18 Euro

Die deutsche Übersetzung von Peter Peschke: Alabama. Albino-Verlag, 2019, 18 Euro

100 Boyfriends. MCD X Fsg Originals, 2021, ca. 13 Euro

 

Das Interview führte und übersetzte Kathi King.