Das ist ein richtiger Knochenjob

Stimmen von Kinderarbeiter*innen in Chile zur Pandemiezeit

Phasen globaler Krisen waren schon immer schlechte Zeiten für Kinderrechte. Ein Indikator dafür ist der aktuelle Anstieg von Kinderarbeit während der Covid-19-Pandemie. Kinderarbeit ist in der Regel informelle Arbeit, auch wenn es Ausnahmen gibt. Weltweit müssen nun 160 Millionen Kinder arbeiten – 8,4 Millionen mehr als noch vor vier Jahren. Fast die Hälfte von ihnen ist ausbeuterischen und gefährlichen Bedingungen ausgesetzt. Das besagt der aktuelle Report »Kinderarbeit: Globale Schätzungen 2020«, den UNICEF und die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) erstellt haben. Dieser Bericht erfasst nur die Anfangsphase der Covid-19-Pandemie und warnt davor, dass bis Ende 2022 weitere neun Millionen Mädchen und Jungen in Kinderarbeit gedrängt werden könnten.

Für den bitteren Rückschlag gibt es mehrere Erklärungen: Da sind neben der Armut nunmehr auch die Corona-bedingten Schulschließungen. Für diese iz3w-Ausgabe zum Thema »Informelle Ökonomie« haben wir acht Mädchen und Jungen im Alter zwischen zehn und 15 Jahren aus zwei chilenischen Partnerorganisationen der Kindernothilfe – Protagoniza in Coronel, einer Hafenstadt in der Nähe von Concepción im Süden des Landes, und Niñas y Niños sin Fronteras im Stadtteil Independencia der Hauptstadt Santiago – eingeladen, in kurzen Zoom-Beiträgen zu schildern, wie sie ihren Alltag erleben.

Martina (10) aus Coronel:
»Ich arbeite auf dem Markt. Zusammen mit meiner Mama. Wir verkaufen gebrauchte Kleidungsstücke und manchmal auch etwas Obst. Seit Corona ausgebrochen ist, streiten die Erwachsenen viel mehr, oft wegen jeder Kleinigkeit. Da wird gebrüllt, die Leute gehen aufeinander los. Das macht mir, wenn wir auf dem Markt sind, richtig Angst. Ich vermisse meine Freunde aus der Schule sehr. Wir haben uns so lange nicht mehr sehen können!«

Mario (14) aus Coronel:
»Seit vielen Jahren helfe ich, Obst an einem Stand auf dem Markt zu verkaufen. Das geht immer um sechs Uhr in der Früh los: Aufbauen, Obstkisten schleppen, den Stand herrichten. Abends sind wir gegen 17 Uhr fertig. Wir versuchen, uns so gut es geht mit Masken und Handschuhen zu schützen und haben vor dem Marktstand ein Seil gespannt. Wenn die Regierung Lockdowns anordnet, müssen wir trotzdem raus. Wie sollen die Menschen sonst an Obst und Gemüse kommen? An guten Tagen verdiene ich mit meiner Arbeit um die 10.000 Pesos (rund 11 Euro). Die brauchen wir zu Hause wirklich dringend. Ich versuche, mir abends nach der Arbeit den Schulunterricht des Tages auf dem Handy anzuschauen. Das schaffe ich aber nicht immer, weil ich einfach zu ausgepowert bin. So geht es ganz vielen aus meiner Klasse.«

Antonio (13) aus Coronel:
»Ich arbeite als Fischer im Golfo de Arauco, vor der Küste von Coronel. Und zwar immer spätabends, dann ist Flut. Dafür muss ich mich an den Marine-Soldaten, die den Strand kontrollieren, vorbeischleichen, um zu meinem kleinen Boot zu kommen und unbemerkt hinausrudern zu können. Wegen Corona gibt es Ausgangssperren. Deshalb darf ich mich auch nicht von den Pacos (Polizisten) auf dem Weg zum Strand erwischen lassen.«

Jorge (14) aus Coronel:
»Wir sind zu Hause sechs Kinder. Alle arbeiten, indem wir Brennholz machen und verkaufen. Das ist ein richtiger Knochenjob. Ich habe damit angefangen, als ich elf Jahre alt wurde. Wir fahren mit einem kleinen Transporter, den sich einer meiner Brüder leiht, nach Concepción und holen dort in einem Sägewerk Holzabfälle. Die müssen dann mit Beil und Axt weiter verkleinert werden, bis wir sie als Brennholz verkaufen können. Jetzt während der Pandemie ist das sehr viel komplizierter geworden, weil die Polizei für jede Fahrt einen Passierschein verlangt. Aber wenn wir nichts verkaufen können, haben wir auch nichts zu essen. Was wir hier erleben, ist vor allem für uns Kinder eine sehr schwere Zeit.«

Bernadita (15) aus Coronel:
»Bei den allermeisten von uns haben die Eltern durch Corona ihre Arbeit verloren. Wir mussten deshalb anfangen, zu Hause Brot zu backen. Das ist jetzt meine Arbeit. Wir bieten das Brot vor allem den Nachbarn an. Außerdem arbeite ich – wenn das Internet funktioniert – in den sozialen Netzwerken, um irgendwelche Dinge, vor allem Kleidung und Haushaltsgegenstände, die wir zuvor beschafft haben, zu verkaufen. Da geht ganz schön viel Zeit drauf, und der Verdienst ist gering. Trotzdem kenne ich viele andere Kinder, die ebenfalls angefangen haben, ständig irgendetwas zu verkaufen.«

Carlos (13) aus Coronel:
»Mir ist es ganz wichtig, dass ich über den Online-Unterricht den Anschluss in der Schule halten kann. Trotzdem muss ich weiter an einem Stand auf dem Markt mithelfen. Wir erleben jeden Tag, wie sich die Leute, die auf den Markt kommen, einschränken müssen. Um jedes Kilo Kartoffeln wird gefeilscht. Viele Erwachsene haben die Arbeit verloren. Als die Regierung wochenlange Quarantänen verhängte, wurde den Arbeitern einfach gekündigt. Meine Eltern haben sich mit Corona angesteckt. Wir mussten einen ganzen Monat mit allen im Haus bleiben. Am Ende haben wir die Nachbarn um Hilfe gebeten, weil wir überhaupt nichts mehr zu essen hatten.«

Juan Carlos (15) aus Vivaceta, Santiago:
»Für uns begann im März 2020 ein Albtraum. Wir kommen aus Peru. Meine Mutter, die uns Kinder großzieht, arbeitete viele Jahre als Hausangestellte ‚puerta adentro’ (also ohne abends nach Hause zurückkehren zu dürfen) ohne Vertrag für eine chilenische Familie. Als Corona ausbrach, wurde sie sofort entlassen. Wir hatten ganz schnell nichts mehr zu essen. Nur durch die ‚ollas comunes’ (Suppenküchen) kamen wir irgendwie über die Runden. Dann fingen meine Mutter, mein Bruder und ich an, Kunsthandwerk herzustellen, Dinge aus Kunstleder, die wir auf der Straße verkaufen. Dafür ziehe ich mit einem kleinen Wägelchen los. Manchmal ergatterte ich auch einen Job auf einer Baustelle. Was die Schule anbelangt, habe ich das Glück, dass wir einen gebrauchten Computer kaufen konnten. So schaffe ich es an einigen Tagen, beim Online-Unterricht dabei zu sein. Ich schätze mal, es ist nur noch die Hälfte der Kinder aus unserer Klasse, der das gelingt.«

Sahory (15) aus Vivaceta, Santiago:
»Jahrelang arbeitete ich mit meiner Mutter an einem Fischstand eines Onkels auf dem Zentralmarkt von Santiago. Ich unterstützte sie, seit ich acht bin. Das ging immer morgens um sieben Uhr los. Gegen 18 Uhr waren wir fertig. Ich nahm die Fische aus, manchmal bediente ich auch die Kunden. Der Markt war während der ganzen Lockdown-Zeit geöffnet, weil die Regierung sagte, wir seien für die Versorgung der Menschen wichtig. Trotzdem kamen in den schlimmsten Phasen von Corona deutlich weniger Leute auf den Markt und sie hatten viel weniger Geld zum Einkaufen. Einen Lohn bekam ich für meine Arbeit nicht, weil wir ja zur Familie gehören.

Ganz schlimm wurde es, als sich meine Mutter mit Corona und danach mit einer schweren Lungenentzündung ansteckte. Dann konnten wir nicht mehr auf den Markt. Jetzt beginnen wir um sechs Uhr in der Früh zu Hause zu kochen, peruanisches Essen zuzubereiten. Ich ziehe dann los und versuche, Essen auf der Straße zu verkaufen. Ich spüre, dass sich die Stimmung im Land massiv verändert hat: Schon am Fischstand fiel mir auf, wie schlecht es vor allem älteren Menschen geht. Sie haben nur noch ganz wenig im Geldbeutel. Leute, die wussten, dass wir so viele Jahre an einem Fischstand gearbeitet hatten, klopften immer wieder bei uns an und bettelten um etwas zu essen, auch als wir selbst schon nichts mehr hatten.

Was die Schule anbelangt, konnte ich dem Online-Unterricht nicht folgen. Ich hatte große Schwierigkeiten und weil die Situation bei uns zu Hause so kompliziert war, fühlte ich mich die ganz Zeit extrem gestresst. Dazu kam, dass es die Schule monatelang mit dem Online-Unterricht überhaupt nicht auf die Kette kriegte. Ich hatte zunächst gar keinen Computer, erst sehr viel später lieh mir die Schule dann doch ein Tablet. Trotzdem haben wir uns jeden Peso vom Mund abgespart, um das Internet bezahlen zu können.

Insgesamt fällt mir auf, wie der Rassismus in Chile durch Corona noch brutaler geworden ist. Was mich anbelangt, musste ich lernen, wie ich mich verteidigen kann. Ich suche immer nach klugen Strategien, um mich vor Rassismus zu schützen. Das wichtigste ist, keine Angst zu zeigen – auch nicht gegenüber der Polizei bei Kontrollen auf der Straße. Deshalb interessiere ich mich sehr für meine Rechte. Mein großer Traum wäre, entweder Sozialarbeiterin oder Anwältin zu werden.«

 

Danksagung: Ganz herzlichen Dank an Antonio, Mario, Martina, Bernadita, Carlos und Jorge aus Coronel – sowie Juan Carlos und Sahory aus Santiago für ihre Beiträge – sowie den beiden Sozialarbeiter*innen Alejandro Gutiérrez und Amanda Bélen aus dem Protagoniza-Team. Genauso herzlichen Dank an die Pädagogin und Anwältin María Elena Vásquez Rodríguez vom Projekt Niñas y Niños sin Fronteras für die Kindesschutz-Begleitung der hier dokumentierten Gespräche und an Claudia Vera vom Kindernothilfe-Partner Fundación ANIDE für die logistische Vorbereitung der Online-Interviews.

 

Jürgen Schübelin von der Kindernothilfe Duisburg hat diesen Report zusammengestellt und eingeleitet.

 

Eine Langfassung des Artikels findet ihr unter https://www.iz3w.org/zeitschrift/ausgaben/386_InformelleOekonomie/chile_lang