In jüngster Zeit findet der Begriff der "Cancel Culture", verstanden als Einschränkung der Rede- und Meinungsfreiheit, auch Verwendung in Diskussionen um die "Wissenschaftsfreiheit" an deutschen Hochschulen. Argumentiert wird häufig gegen eine diversitätsgerechte Hochschulbildung und gegen die Bedingungen akademischer Wissensproduktion, unter denen diese stattfinden kann. Gudrun Hentges und Julia Reuter widmen sich der Frage, wie Forschung und Lehre zu einer diversitätssensiblen Hochschule beitragen können, an der Diskriminierung keinen Platz hat und diskutieren, in welchem Verhältnis dieser Anspruch zur Meinungs- und Wissenschaftsfreiheit steht.1
Die Wurzeln des Neologismus "Cancel Culture" reichen weit zurück in das 20. Jahrhundert. Debatten um "Political Correctness" haben ihren Ursprung in den USA, sie entstanden im Kontext der Sozialbewegungen des 20. Jahrhunderts, die vor allem in den 1960er Jahren eine große Wirkungskraft entfaltet haben: die Bürgerrechts-, die Frauen-, die Lesben- und Schwulenbewegung.
"Cancel Culture" als Kampfbegriff
Immer häufiger wird hierzulande der Anglizismus "Cancel Culture" als Kampfbegriff gegenüber Personen eingesetzt, die sich öffentlich für Menschen- und Minderheitenrechte engagieren und gegen gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit vorgehen.2
Da es bei diesem Engagement zumeist um die Sichtbarmachung und Bekämpfung von Marginalisierung und struktureller Diskriminierung benachteiligter Personengruppen und um das Anstoßen statt Absagen zentraler Debatten geht - gerade auch mit Blick auf die Frage, welche Rolle die Wissenschaft bei alledem spielt -, ist eine pauschale Aburteilung als "Cancel Culture" nicht gerechtfertigt. Häufig wird der Vorwurf formuliert, es gehe lediglich um das Moralisieren, um "individuelle Befindlichkeiten" oder um die Durchsetzung von Ideologien mächtiger "Weltanschauungsgenossen".3 Diese Spielarten der Kritik, die häufig medial inszeniert werden, zielen darauf ab, Antirassismus und Antisexismus zu delegitimieren.
Neuerdings findet der Begriff der "Cancel Culture" auch an Hochschulen Eingang in Debatten um "Wissenschaftsfreiheit". Dabei kommt es zu einer eigentümlichen Vermischung von Argumenten. Denn die Frage, wie "frei" Wissenschaftler*innen in Forschung und Lehre sind, und ob sie "alles" sagen dürfen, wird oft gegen eine diversitätsgerechte Hochschulbildung ausgespielt.4
Als Sozialwissenschaftlerinnen, die als "weiße" Professorinnen an einer Universität zu postkolonialen und rassistischen Ordnungen in der Wissenschaft forschen und lehren, kamen wir zuletzt immer wieder mit Debatten um Meinungs- und Wissenschaftsfreiheit in Berührung. Dabei stellen wir uns die Frage, wie Forschung und Lehre einen Beitrag leisten können zu einer diversitätssensiblen Hochschule, an der Diskriminierung und Menschenfeindlichkeit keinen Platz haben. Ergebnis dieser gemeinsamen Reflexionen ist die Stellungnahme "Für Freiheit in Forschung und Lehre" der Forschungsstelle für interkulturelle Studien, die auch über die Fachöffentlichkeit hinaus auf mediales Interesse stieß.
Netzwerke für Meinungs- und Wissenschaftsfreiheit
Welche Rolle spielen in diesem Kontext Stiftungen oder Netzwerke, die sich den Schutz und die Verteidigung von Meinungs- und Wissenschaftsfreiheit auf ihre Agenda geschrieben haben und gegen eine vermeintliche "Cancel Culture" vorgehen wollen?
Die US-amerikanische Foundation for Individual Rights in Education (FIRE) verfolgt das Ziel, die individuellen Rechte von Studierenden und Lehrenden zu verteidigen. Dazu zählt FIRE u.a. Redefreiheit, Vereinigungsfreiheit, Religionsfreiheit und die Unantastbarkeit des Gewissens. Die 1999 von Alan Charles Kors und Harvey Silverglate gegründete Stiftung begreift es als ihre Aufgabe, die Mitglieder der Colleges und Universitäten sowie die Öffentlichkeit darüber aufzuklären, dass die Rechte an den Hochschulen bedroht seien.5
Mit ihrer Streitschrift The Shadow University: The Betrayal Of Liberty On America‘s Campuses (1998) erzielten Kors und Silverglate große Resonanz. Nach Ansicht der beiden Autoren grenzten sich Universitäten von der Gesellschaft ab, indem sie ihre "eigene politisch korrekte Weltsicht durch Zensur, doppelte Standards und ein Rechtssystem ohne ordentliche Verfahren durchsetzen". Sie versteigen sich zu der These, die Universitäten hätten eine "heimliche Kehrtwende" vollzogen und seien zum "Feind einer freien Gesellschaft" geworden. Diese "Schattenuniversität" müsse nun zur Rechenschaft gezogen werden. Das Manifest The Shadow University wirft den Universitäten vor, über ein "verdecktes Justizsystem" auf dem Campus zu verfügen, auf Scheingerichte zurückzugreifen und "willkürliche Bestrafung" vorzunehmen, um die Mitglieder der Hochschulen zur Konformität zu zwingen. Die Autoren sind der Meinung, an den Hochschulen dominiere eine "totalitäre Denkweise", die sich in "Sprachregelungen, Verhaltenskodizes und Bürokratien des Campuslebens" manifestiere.6
Auch FIRE-Mitarbeiter Greg Lukianoff bediente das Narrativ einer "Schattenuniversität" und sorgte mit seinem Buch Unlearning Liberty: Campus Censorship and the End of American Debate (2012) für breite öffentliche Aufmerksamkeit.7
Lukianoff präsentiert "schockierende Fälle von Zensur an Amerikas Colleges und Universitäten". Er behauptet, dass aktuell die universitäre Lehre Studierende nicht zu einem kritischen Denken erziehen könne, sondern ideologische Spaltungen verstärke. Diese Kultur der Unterdrückung von Meinungs- und Wissenschaftsfreiheit hinterlasse ihre Spuren auch in der Gesellschaft; diese sei nicht mehr dazu in der Lage, rational zu debattieren.
Ausgerechnet am Internationalen Frauentag 2021 wurde mit der Academic Freedom Alliance (AFA) just ein weiterer Zusammenschluss von Hochschullehrenden in den USA gegründet, der ebenfalls für die "Wahrung des Prinzips der akademischen Freiheit" eintritt.8 Während FIRE vor allem das Campusleben der Studierenden im Blick hat, adressiert AFA in erster Linie Hochschullehrer*innen.
Anknüpfend an FIRE und Lukianoffs Publikation erfolgte die Gründung des Netzwerkes Wissenschaftsfreiheit im Februar 2021.9 Die inhaltliche Nähe zwischen der US-amerikanischen Blaupause und dem Netzwerk Wissenschaftsfreiheit ist auffällig. Auch im Manifest des Netzwerkes ist davon die Rede, dass die "Freiheit von Forschung und Lehre" gegen "ideologisch motivierte Einschränkungen" verteidigt werden müsse. Angeprangert wird, dass die Freiheit von Forschung und Lehre unter "moralischen und politischen Vorbehalt gestellt werden" solle. Man könne beobachten, dass der "Freiheit von Forschung und Lehre" "wissenschaftsfremde Grenzen" gesetzt werden. Somit entstehe ein "Konformitätsdruck", der "wissenschaftliche Debatten" von Beginn an zu ersticken drohe. Es wird unterstellt, dass Forschungsprojekte, die nicht den weltanschaulichen Vorstellungen der Anhänger*innen einer "Cancel Culture" entsprächen, verhindert würden. Da Projektanträge und das Reviewing von Publikationen zumeist von Fachkolleg*innen durchgeführt werden, steht also durchaus auch der implizite Vorwurf "wissenschaftlichen Fehlverhaltens" im Raum.
Gemessen an der großen Anzahl an Unterzeichner*innen (ca. 450) des Manifests und der Presseresonanz sind die bisherigen Aktivitäten des Netzwerks jedoch gering. Sie beschränken sich derzeit (Stand: 30. April 2021) auf die Ankündigung eines Workshops zum Thema "Wissenschaftsfreiheit und Cancelculture", in dem "Kritiker, Opfer und Verteidiger der Cancelculture miteinander ins Gespräch" gebracht werden sollen, um sich über "rechtliche Grundlagen, Grenzen und aktuelle Probleme der Wissenschaftsfreiheit" auszutauschen.10
Aussagekräftiger als das recht allgemein gehaltene Manifest sind die Positionen der Netzwerk-Initiatorin Sandra Kostner, die den Begriff einer "identitätslinken Läuterungsagenda" geprägt hat:
"In der extremsten Form hat das Läuterungsbedürfnis so weit geführt, dass Identitätslinke ein neues Überlegenheitsgefühl entwickelt haben. […] Das neue Überlegenheitsgefühl bezieht seine Kraft aus dem moralischen Läuterungsgrad, den Mitglieder der ›Dominanzgesellschaft‹ aufweisen können. […] Wahrlich frappierend ist in diesem Kontext, dass viele Identitätslinke offenbar gar nicht merken, wie sehr ihre gut gemeinten, dem Kampf gegen Rassismus gewidmeten Strategien einer neuen Form von Rassismus, den man als Läuterungsrassismus bezeichnen könnte, Vorschub leisten. Indem sie die ›Dominanzgesellschaft‹ alleine oder so gut wie ausschließlich für die gesellschaftliche Positionierung aller Nichtprivilegierten verantwortlich machen, sprechen Identitätslinke denjenigen, als deren Anwälte sie auftreten, ihre Handlungsfähigkeit ab. Ausgerechnet diejenigen, die ihre antirassistische Haltung als ethisch moralisches Leuchtsignal vor sich hertragen, entlarven sich dergestalt selbst als Rassisten."11
Hier wird deutlich, dass Kostner nicht nur "Identitätslinke" als Begriff erfunden, sondern auch den Begriff des "Läuterungsrassismus" aus der Taufe gehoben hat. Ein Effekt der Begriffsschöpfung ist eine Täter-Opfer-Umkehr: Nicht Rassist*innen seien verantwortlich für rassistische Diskriminierung, sondern jene, die im Namen des Antirassismus vorgeben, diesen bekämpfen zu wollen.
Diese höchst problematische Argumentation findet an anderer Stelle noch eine Steigerung, wenn Kostner behauptet, dass das Konzept des "strukturellen Rassismus" Ergebnis einer "neue[n] aktivistische[n] Wissenschaft" sei, die aus den Critical Race Studies hervorgegangen sei. Es handele sich um eine "Rassismusforschung, die ohne alle empirische Basis" auskomme, was sie am Beispiel des Todes von George Floyd erläutert. Für "Antirassismusaktivisten", so Kostner, stand von Beginn an fest, dass George Floyd starb, weil er schwarz war. Eine Infragestellung dieser Aussage führe zum Rassismusvorwurf. Kostner wagt die steile These, dass die "gefilmte Szene, die das Knie eines weissen Polizisten auf dem Hals eines am Boden liegenden Afroamerikaners zeigt" keineswegs offenbare, "ob für den Polizisten Rassismus ein handlungsleitendes Motiv" gewesen sei. Während einige der Journalist*innen und Wissenschaftler*innen davon überzeugt seien, verurteilten andere diesen Fall als rassistisch motivierten Mord, um nicht selbst ins Fadenkreuz der "äusserst kampagnenstarken Aktivisten zu geraten".12
Für diskriminierungskritische Forschung und Bildung
Sicherlich lenkt das Netzwerk Wissenschaftsfreiheit mit seinen Bedenken eines "Konformitätsdrucks" den Blick auf die Voraussetzungen von Wissenschaftsfreiheit in Zeiten eines "akademischen Kapitalismus"13; wenngleich die Netzwerk-Sprecher*innen vor allem einen Konformismusdruck durch "Identitätslinke" sehen.
Es bleibt die Frage, ob vorschnelle Anrufungen identitätspolitischer Kategorien nicht den Blick für gemeinsame Forschungsanliegen unterschiedlicher Akteur*innen verstellen und Dynamiken eines identitätspolitischen Zugehörigkeitsregimes hochschrauben, das kaum Raum für einen wissenschaftlichen Austausch lässt.14
Es wäre zielführender, die Diskussion um Freiheit in Forschung und Lehre nicht unter juristischen und politischen Begriffen wie Meinungsfreiheit, Wissenschaftsfreiheit oder "Cancel Culture" zu führen, sondern unter theoretisch-analytischen Begriffen, wie z.B. der symbolischen Gewalt, der institutionellen Diskriminierung, der Positionalität oder Intersektionalität. Genau aus diesen Forschungszusammenhängen sind in den letzten 20 Jahren nicht nur zahlreiche anspruchsvolle empirische wie theoretische Analysen, Forschungsverbünde und Studiengänge hervorgegangen. Es wurden auch Institute, Vereine und Netzwerke gegründet, die ihrerseits auf die sozialen Limitierungen von Wissenschaft(sfreiheit) hingewiesen haben. Diese Netzwerke von Wissenschaftler*innen fokussieren jedoch nicht die Frage, ob im akademischen Bereich jede Person ihre Meinung sagen darf oder nicht. Es geht eher darum, welche Äußerung als persönliche Meinung und welche als wissenschaftliches Argument wahrgenommen wird, wie durch Worte Soziales geschaffen wird, welche Sprecher*innenposition im wissenschaftlichen Diskurs mehr oder weniger Gewicht hat, oder auch welche Personen(gruppen) das Privileg besitzen, die Gewalt, die von manchen Äußerungen ausgeht, nicht wahrnehmen zu müssen.15 Dies sind keine "persönlichen Empfindungen oder Empfindlichkeiten", "moralische Appelle" oder "linke Läuterungen", sondern zunächst einmal analytische Fragen, die sich Wissenschaftler*innen stellen (sollten).
Die Forschungsstelle für interkulturelle Studien (FiSt) der Universität zu Köln beschäftigt sich mit diesen Fragen seit nunmehr 25 Jahren.16 Dieser Zusammenschluss kritischer Migrationsforscher*innen gab im August 2020 die Stellungnahme "Für Freiheit in Forschung und Lehre" heraus, die das Ergebnis gemeinsamer Aktivitäten in Forschung und Lehre markiert. Anders als beim Netzwerk Wissenschaftsfreiheit, dessen überwiegend professoraler Gründungskern 62 Akademiker und zehn Akademikerinnen etablierter Fachdisziplinen umfasst, wird hier Expertise aber nicht vom (Professor*innen-)Status abhängig gemacht. Denn aus Sicht der FiSt fängt genau dort die Beschränkung von Wissenschaftsfreiheit an, wo über die Asymmetrie wissenschaftlicher Kommunikation nicht nachgedacht wird und bestimmte Statusgruppen im akademischen Diskurs nicht dieselben Teilhabechancen besitzen.17
Auch das Netzwerk Wissenschaftsfreiheit sollte seine Position im sozialen Feld der Universität kritisch hinterfragen. Es ist zumindest verwunderlich, dass diese durch strukturelle Macht- und Herrschaftsverhältnisse begünstigte "Unfreiheit" wissenschaftlicher Rede im Manifest des Netzwerks Wissenschaftsfreiheit nicht benannt wird. Dabei könnte die "teilnehmende Objektivierung" der eigenen Tätigkeit hier durchaus auch produktiv für die eigene Thematik gewendet werden.18 Denn wie wirkmächtig das symbolische Kapital des Netzwerks ist, zeigt sich auch am großen medialen Interesse an seinem inhaltlich vagen Gründungsmanifest, das statt wissenschaftlich-differenzierter Analyse auf erfolgreiches Agenda Setting in einer politisch aufgeheizten Debatte um vermeintliche "Cancel Culture" abzielt.19
Demgegenüber steht die lange vor Gründung des Netzwerks Wissenschaftsfreiheit formulierte FiSt-Stellungnahme, der ein anderes Verständnis von Freiheit und Forschung zugrunde liegt. So beobachtet die FiSt mit Sorge, dass in jüngster Zeit verstärkt rassismuskritische Forschung und Forscher*innen gezielt diffamiert werden. Das umfasst Lehrveranstaltungen, in denen Studierende oder Kolleg*innen wissenschaftliche Befunde oder Konzepte der Rassismusforschung als Diskussionsgrundlage ignorieren, oder auch das Abkanzeln rassismuskritischer Aktionen als "überzogene Antworten einzelner Beleidigter".20 Diskriminierungserfahrungen von Promovierenden, denen aufgrund ihrer eigenen Migrationsgeschichte die Fähigkeit abgesprochen wird, objektiv über Rassismus forschen zu können,21 fallen ebenso darunter wie gezielte Diffamierungen von ausgewiesenen Rassismusforscher*innen, wie etwa das Beispiel von Professorin Maisha-Maureen Auma zeigt. Die FiSt tritt mit ihrer Stellungnahme für eine Wissenschaft ein, die mit dem Instrumentarium kritischer Rassismus- und Diskriminierungsforschung ebendiese Phänomene erkennt und einordnet. Kommt sie zu dem Ergebnis, dass hier "klassistische", "sexistische" "rassistische" oder allgemein "menschenverachtende" Äußerungen und Handlungen vorliegen, sieht sie die Notwendigkeit zu widersprechen. Dies ist keine Verletzung von Neutralität, sondern die Umsetzung von Sachargumenten - insbesondere für Dozent*innen, die sich qua ihres Beamt*innenstatus oder ihrer Beschäftigung an einer staatlichen Bildungseinrichtung, aber auch als Mitglieder einer akademischen Gemeinschaft im Sinne der Menschenrechte und des Grundgesetzes sowie den ethischen Kodizes der Scientific Community und der hier gültigen Codes of Conduct verpflichtet haben.
Die Überwindung von strukturellen Ungleichheiten und Vulnerabilität ist keine Aufgabe der betroffenen Akteur*innen selbst, sondern eine Aufgabe aller Mitglieder der Hochschule, vor allem aber derjenigen, die von diesen Ungleichheiten profitieren.22 Zahlreiche Hochschulen haben dies in jüngster Zeit erkannt und Diversitätskonzepte entwickelt. Auch die Deutsche Forschungsgemeinschaft hat sich dem Problem der Chancenungleichheit in der Wissenschaft gestellt und fordert von Antragsstellenden seit einigen Jahren Stellungnahmen zur Einhaltung ethischer Standards und den Schutz vulnerabler Proband*innen.23 Das hat nichts mit "Cancel Culture" oder Einschränkung von Meinungsfreiheit zu tun, sondern dient der Sicherung guter wissenschaftlicher Praxis.
"Gute wissenschaftliche Praxis bedeutet, die Grenzen des Sagbaren begründet zu markieren. Gute wissenschaftliche Praxis bedeutet, die Situiertheit wissenschaftlicher Praxis und die eigene Positionierung entlang ungleichheitsrelevanter Machtstrukturen mitzudenken".24 Wissenschaft ist ein soziales Kräftefeld. Anstatt Meinungsfreiheit und Rassismuskritik gegeneinander auszuspielen, sollte man die vom Netzwerk Wissenschaftsfreiheit wiederholt geäußerte Befürchtung einer ungleichen Verteilung von Rederechten, Forschungsmitteln und Stellen lieber empirisch untersuchen. Denn am Ende sind nicht Meinungen, sondern Erkenntnisse die Leitwährung wissenschaftlicher Kommunikation.
Ausblick
Meinungs- und Wissenschaftsfreiheit in der Kontroverse haben auch eine internationale Dimension. Somit sollten Wissenschaftler*innen über den nationalstaatlichen Tellerrand blicken und zur Kenntnis nehmen, welchen Gefahren Wissenschaftler*innen in anderen Ländern ausgesetzt sind - sei es in Ungarn, Polen, Rumänien oder in der Türkei. Die Initiative Scholars at Risk stellt sich diesen Herausforderungen, indem sie verfolgte Wissenschaftler*innen durch Beratung, Rechtsbeistand, Stipendien etc. unterstützt. In ihrem Bericht "Free to think"25 dokumentieren sie allein für den Zeitraum von September 2019 bis August 2020 341 Angriffe auf Hochschulen in 58 Ländern. Darunter fallen gewalttätige Angriffe auf Universitäten in Afghanistan, Indien, Jemen, illegale Inhaftierungen und Verfolgungen von Wissenschaftler*innen, Einschränkungen der Reisefreiheit (Israel, Türkei, USA), Unterdrückung von Meinungsäußerungen von Studierenden (Kolumbien, Indien, palästinensische Gebiete, Südafrika) und Bedrohungen der Autonomie von Universitäten (Brasilien, Ghana, Polen, Rumänien, Russland, Türkei).
Diese bedenklichen Entwicklungen außerhalb der EU und der USA sollten in der Debatte um wissenschaftliche Freiheit und die Frage einer "Cancel Culture" mitberücksichtigt werden. Sie lassen deutlich werden, dass die Rechte von Minderheiten auf dem Campus immer wieder massiv bedroht sind und auch in demokratischen Gesellschaften verteidigt werden müssen.
Anmerkungen
1) Für hilfreiche Anregungen und Kommentare bedanken wir uns bei Henrike Terhart und Daniel Meyer (beide: Universität zu Köln) und Michael Klundt (Hochschule Magdeburg/Stendal).
2) Vgl. Gudrun Hentges 2014: "Geschichte und Intention der Political Correctness", in: Polis. Report der Deutschen Vereinigung für Politische Bildung, Heft 1/2014: 6-9.
3) Sandra Kostner 2020: "Flucht vor Argumenten", in: FAZ v. 28.11.2020. Abrufbar unter: https://www.faz.net/aktuell/karriere-hochschule/hoersaal/warum-eine-begrenzung-der-redefreiheit-an-hochschulen-fehl-am-platz-ist-17067717.html.
4) Vgl. z.B.: Encarnación Gutiérrez-Rodríguez et al. 2016: "Rassismus, Klassenverhältnisse und Geschlecht an deutschen Hochschulen. Ein runder Tisch, der aneckt", in: sub\urban. zeitschrift für kritische stadtforschung 4 (2/3): 161-190; Sara Ahmed 2012: On Being Included. Racism and Diversity in Institutional Life. Durham: Duke University Press.
5) Vgl. https://www.thefire.org.
6) Alan Charles Kors/Harvey Silverglate 1999: The Shadow University: The Betrayal Of Liberty On America‘s Campuses, Free Press. Eigene Übersetzung.
7) Greg Lukianoff 2012: Unlearning Liberty: Campus Censorship and the End of American Debate, New York. Eigene Übersetzung.
8) https://academicfreedom.org. Einem der Gründungsmitglieder, Steven Pinker, wird aufgrund seiner Veröffentlichungen Rassismus und Sexismus vorgeworfen. Vgl. Michael Powell 2020: "How Steven Pinker became a Target over his Tweets", in: New York Times, 15.7.2020.
9) "Ich las ein Buch von Greg Lukianoff, der bei der Foundation of Individual Rights and Education arbeitet, die es in den USA seit 20 Jahren gibt. Ich dachte: Eine Institution, die sich für individuelle Freiheitsrechte an Hochschulen einsetzt, brauchen wir auch", Sandra Kostner, zit. nach: "Freiheit der Wissenschaft. Was nicht genehm ist, wird abgelehnt", in: Die Zeit v. 4.2.2021.
10) https://www.netzwerk-wissenschaftsfreiheit.de/veranstaltungen/aktuelles/.
11) Sandra Kostner (Hg.) 2020: Identitätslinke Läuterungsagenda. Eine Debatte zu ihren Folgen für Migrationsgesellschaften, Stuttgart: 31.
12) Sandra Kostner 2020: "Wer den strukturellen Rassismus leugnet, muss selbst ein Rassist sein - Analyse eines gefährlichen Denkfehlers", in: Neue Züricher Zeitung v. 1.12.2020
13) Richard Münch 2011: Akademischer Kapitalismus. Über die politische Ökonomie der Hochschulreform, Berlin.
14) Nicht zuletzt werden mit einem identitätspolitischen Schubladendenken auch solche Wissenschaftler*innen inkludiert, die sich aus ganz unterschiedlichen Gründen einem Netzwerk, Verein oder einer Bewegung assoziieren; möglicherweise gar nicht als öffentliche*r, schon gar nicht politische*r, sondern professionelle*r Wissenschaftler*in in Erscheinung treten wollen.
15) Vgl. auch die Beiträge in: Gudrun Hentges / Kristina Nottbohm / Mechtild Jansen / Jamila Adamou (Hg.) 2014: Sprache - Macht - Rassismus, Berlin.
16) https://www.hf.uni-koeln.de/37630.
17) Auch wir als Autorinnen dieses Textes werden aufgrund unserer Positionen in der Universität vermutlich häufiger auf die Stellungnahme der Forschungsstelle als Ansprechpartnerinnen "gelesen" und für weitere Auskünfte oder Publikationen häufiger angefragt werden als etwa andere Mitunterzeichnende in anderen akademischen Positionen.
18) Vgl. Pierre Bourdieu 1975: "The specificity of the scientific field and the social conditions of the progress of reason". Information (International Social Science Council) 14: 19-47.
19) Durch die vom Netzwerk Wissenschaftsfreiheit, insbesondere seiner Sprecherin Sandra Kostner in der Presse (s.o.) geäußerte Kritik an der Stellungnahme, hat sich der Aufmerksamkeits- und Rezipient*innenradius schlagartig erweitert.
20) Vgl. z.B. die Reaktionen auf die Petition #unirassismuskritisch der Kölner Studentin Senami Hotse: https://www.ksta.de/koeln/-sie-sehen-exotisch-aus-studentin-fassungslos-ueber-alltagsrassismus-an-der-uni-koeln-37788694.
21) Vgl. Karim Fereidooni 2020: "›Du führst Dich auf wie Mister Diskriminierung persönlich!‹ Gedanken zur Kritik an einer rassismuskritischen Forschungsarbeit"; in: Daniela Heitzmann/Kathrin Houda (Hg.): Rassismus an Hochschulen. Analyse - Kritik - Intervention, Weinheim/Basel 2020: 131-156.
22) Heitzmann/Houda (Hg.) (siehe Anm. 21): 9.
23) Vgl. https://www.dfg.de/foerderung/grundlagen_rahmenbedingungen/diversity_wissenschaft/index.html.
24) So zu lesen in der FiSt-Stellungnahme.
25) https://www.scholarsatrisk.org/resources/free-to-think-2020/.
Gudrun Hentges, Professorin für Politikwissenschaft, Bildungspolitik und politische Bildung an der Universität zu Köln; 2020 erschien der von ihr hrsg. Band "Krise der Demokratie - Demokratie in der Krise? Gesellschaftsdiagnosen und Herausforderungen für die politische Bildung"; im August 2021 erscheint der von ihr gemeinsam mit Georg Gläser und Julia Lingenfelder hrsg. Band "Demokratie im Zeichen von Corona".
Julia Reuter, Professorin für Erziehungs- und Kultursoziologie an der Universität zu Köln; 2020 erschien der von ihr mithrsg. Band "Vom Arbeiterkind zur Professur. Sozialer Aufstieg in der Wissenschaft".