Die Wiederkehr des Verdrängten

Vom Sinn der Verschwörungstheorien

Strukturelle Parallelität von populistischen und verschwörungstheoretischen Politikmustern sorgt dafür, dass beide Effekte einander verstärken. Ist diese Parallelität reiner Zufall oder bedingen sich Verschwörungstheorien und eine Schwächung demokratischer Strukturen gegenseitig? Carsten von Wissel hat sich auf Spurensuche begeben.

Verschwörungstheorien vermitteln Sinn, Kausalitätsgefühl und Wirksamkeitsempfinden, wo man sich sonst keinen Reim machen kann. Plötzlich fügt sich alles zusammen, die Dinge sind so, wie sie sind, weil irgendjemand das so will. Sie sind insofern optimistisch, als sie Pfade anbieten, wie man die Übel der Welt loswerden kann, nämlich, indem man diejenigen loswird, die für sie als Verschworene verantwortlich sind. Verschwörungstheorien erlauben es zudem, Selbstinszenierungen als Wissende(r), Durchblickende(r) zu installieren und steigern damit subjektives Selbstwertgefühl. Im Zusammenhang mit selbstermächtigendem Denken, das Wert legt, sich jenseits etablierter System- oder Mainstreammedien zu informieren, kann das wichtig werden. Verschwörungstheorien helfen damit auch bei der Stabilisierung von Gruppen oder Identitäten, sie helfen, Freund und Feind zu unterscheiden, zu klären, wer dazugehört und wer nicht. Dies macht sie besonders für diejenigen attraktiv, die sich gegenüber der Gesellschaft in mehr oder weniger unverstandener Dissidenz wähnen. Man kann dann zum Selbstdenker werden, das damit verbundene Selbstermächtigungsmoment ist, wie schon das oben genannte besondere Wissen, gut für das Selbstwertgefühl. Aus diesem freidenkerischen Selbstermächtigungsmoment würde auf einen ersten Blick folgen, dass Verschwörungstheorien mit Wissenschaft wenig zu tun haben, ja, dass Wissenschaft ein Gegenpol von Verschwörungstheorie wäre. So einfach ist es jedoch nicht.

Simulationen von Wissenschaftlichkeit

Verschwörungstheorien sind an der Oberfläche Narrative, die wissenschaftlichen Theorien insofern ähneln, als sie Sinnzusammenhänge stiften, auf Kausalitäten verweisen. Sie leisten also oberflächlich gesehen etwas Ähnliches wie Wissenschaft. Aus diesem Grunde gibt es einen einseitigen Austausch zwischen Wissenschaft und Verschwörungstheorien: Verschwörungstheorien ahmen wissenschaftliches Gebaren nach, nicht dessen Überprüf- oder Falsifizierbartkeit, aber einen Anschein. Selbstverständlich dient dieser Anschein nicht dazu, Wissenschaftler*innen oder Expert*innen zu täuschen, aber für Nichtexpert*innen soll ein Eindruck erweckt werden, es mit einer der Wissenschaft ähnlichen Form von Wissen zu tun zu haben, mit Wissen, das nur deshalb nicht als wissenschaftlich gilt, weil es aus Gründen irgendwelcher Interessen marginalisiert wird. Auch aus diesem Grund ist in der Wissenschaft erworbenes soziales Kapital in der Verschwörungstheorieszene etwas wert, die Anmutung - nicht die Eigenschaften und Praxen von Wissenschaftlichkeit - weiß man dort zu schätzen, ein Doktortitel ist dem Renommee in dieser Szene durchaus nicht abträglich.

Diejenigen, die Wissen unterdrücken, sind in den verschwörungstheoretischen Diskursen heute zumeist irgendwie Herrschende, etablierte Leute, sog. Establishment. Früher waren es oft Fremde, aber insbesondere und immer wieder jüdische Menschen. Bei Letzteren ist es bis heute geblieben. Oft heißt es, für verschwörungstheoretisch Gehaltenes habe sich dann halt irgendwann doch als valides Wissen entpuppt, zumeist werden David Snowdons Echelon-Enthüllungen als Beispiel dafür herangezogen, oft auch diverse andere Nachrichten aus der Welt der Geheimdienste, des dopingdurchseuchten Sports etc. In der Regel wird schnell deutlich, dass es sich bei diesen Beispielen, die in legitimatorischer oder sensationsjournalistischer Absicht zusammengestellt werden, nicht um echte Verschwörungstheorien, sondern lediglich um einfachere Verschwörungsnarrative handelt, im Kern geht es stets darum, dass prinzipiell für möglich Gehaltenes, das zunächst auf Negation traf, doch eine Tatsache gewesen sei.1

Die besonderen epistemischen Eigenschaften von Verschwörungstheorien geraten dabei aus dem Blick, wenn man sie lediglich für von den Mächtigen marginalisiertes Wissen hält. Genau diese Eigenschaften erlauben es jedoch, Verschwörungstheorien von wissenschaftlichen Theorien zu unterscheiden. Zunächst einmal zeichnen sie sich durch eine Überbetonung von Intentionalität aus. Sie halten sehr oft ein Aprioridesign komplexester Abläufe und Verkettungen für möglich. Jede und jeder, der einmal bei einem politischen Szenario mitgewirkt hat, würde derart komplizierte vorausgeplottete Abläufe für unrealistisch halten. Wer auch immer an einem Orts- oder Kreisverbandstreffen einer beliebigen demokratischen politischen Partei teilgenommen hat, wird wissen, dass man im Vorab derart Komplexes, wie es die meisten elaborierteren Verschwörungstheorien suggerieren, nicht plotten kann. Auch sind auf Geheimhaltung basierende Strukturen, wie sie nötig wären, um z.B. die Mondlandung der Apollo-Mission in irgendwelchen Hallen in der Wüste Arizonas nachzustellen und das Ganze noch geheim zu halten, nicht möglich. Irgendjemand würde doch reden und das ganze schöne Verschwörungsgebäude fiele in sich zusammen.

Solcher Probleme ungeachtet waren Verschwörungstheorien bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts gängiger, überaus weitverbreiteter Politikinhalt und haben ganze politische Systeme und viele Behörden beschäftigt. Sie waren allgegenwärtig und galten als völlig legitimes Wissen: Stets galt es, auf einer Hut zu sein. Jüdische Finanzmagnaten, Freimaurer, jüdische Offiziere, Kommunisten, jüdische Ärzte, Sklavenhalter der Südstaaten, all solche Leute machten sich ihnen zufolge anheischig, den Staat zu unterwandern oder zu übernehmen. Dies geschah damals in Demokratien wie in autokratischen Systemen. Allerdings waren (zumindest dann im 20. Jahrhundert) Demokratien weniger auf disruptive Ereignisse angewiesen, um sich von solchen Denkmustern zu befreien. Die atlantischen Demokratien vermochten es, in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg verschwörungstheoretische Muster zu überwinden, nachdem sie im Rahmen der Kommunistenhatz in den USA noch einmal zu einer späten Blüte gerieten. In der Sowjetunion hingegen war Stalins Tod notwendig, um der sog. Verschwörung der Jüdischen Ärzte ein Ende2 zu bereiten.

Verschwörungstheorien und Demokratie

Inwiefern Verschwörungstheorien eine Hervorbringung der europäisch beeinflussten Moderne sind, ist unklar. Dafür spricht, dass sie auf eine Öffentlichkeit angewiesen sind, die der, die wir kennen, ähnlich ist. Auch aus diesem Grund kennen wir verschwörungstheoretische Narrative z.B. aus der attischen oder römischen Politik, so nennt Butter Ciceros Reden gegen Verres als die Urtexte der Verschwörungstheorie im späteren modernen Sinne.3 Über Verschwörungstheorien im Mittelalter und in nichteuropäischen Geschichten wissen wir wenig bis nichts. Erst mit dem Buchdruck und dem dadurch ermöglichten Wiedererstehen von Öffentlichkeiten tauchen auch Verschwörungstheorien wieder auf. Vermutlich muss es eine gesellschaftlich verankerte Unterscheidung von Mythos und Realität geben, um von Verschwörungstheorie sprechen zu können, und es muss in irgendeiner Form Antagonisten der Mehrheitsgesellschaft geben oder zumindest Akteure, die ein aktives Interesse daran entwickeln solche Antagonisten zu identifizieren.

Außerhalb des sogenannten Westens gelang die moderne Überwindung von Verschwörungstheorie nicht, so dass es bis heute Staaten gibt, in denen verschwörungstheoretisch konstruierte Politikinhalte Standard sind, wie z.B. die Türkei, deren politische Polizei und Geheimdienste seit Jahrzehnten Verschwörungen gegen den türkischen Staat hinterherjagen. Nach dem jüngsten Putsch von 2016 waren Anhänger*innen der Gülen-Bewegung Betroffene dieser Aufdeckensbemühungen, vor 2016 andere mehr oder weniger vermeintliche Bedrohungen. Das türkische Beispiel zeigt, dass dort, wo verschwörungstheoretische Diskurse das Zentrum des Politischen betreffen, Demokratieprobleme an der Tagesordnung sind. Wenig überraschend ist insofern, dass in denjenigen EU-Staaten, die mit einem Abrutschen in rechtspopulistischen Autoritarismus zu kämpfen haben, verschwörungstheoretische Denkmuster eine große Rolle spielen. Entweder will der Jude Soros  die Legitimität des Staates anknapsen und ungarische Studierende ihrer nationalen Identität entfremden oder Dunkelleute haben ein Flugzeug vom Himmel geholt, in dem Lech Kaczyñski und viele seiner Gefolgsleute saßen.

Verschwörungstheorien sind immer wieder identitär motiviert und darauf angewiesen, eine Trennung von Volk und anderen, Nicht-Volk, den sich Verschwörenden, vorzunehmen. Allerdings ist die Trennung von Volk und anderen nicht notwendigerweise ethnisch oder religiös definiert, sie kann sich auch auf Professionen (Klimawissenschaftler*innen z.B.) oder Eliten beziehen. Immer wieder ist das Volk gut und die Verschwörer*innen sind auf irgendeine Art schlecht, unehrlich und sinister. Diese Trennung von Volk und Nicht-Volk hat eine Parallele zum Populismus, weshalb es Überschneidungen gibt. Verschwörungstheorien sind insofern ein nichtnotwendiges Element von Populismus, nicht zuletzt auch, weil in ihnen ein optimistisches Moment für diejenigen Adressat*innen von Populismus mitschwingt, die der Meinung sind, dass ihr Lebensentwurf mehr und mehr gesellschaftlich marginalisiert wird: Wenn das, was ihnen widerfährt, Folge einer Verschwörung ist, dann gibt es eine prinzipiell behebbare Ursache für ihr Leid. Verschwörungstheorien sind deshalb oft auf eine vordergründige Art [i]optimistisch[/i], auch wenn sie die Gegenwart in recht dunklen Farben malen. Wenn die Verschwörer*innen besiegt sind, dann könnte alles wieder so werden, wie es früher vermeintlich war. Dennoch findet sich in der Populismusliteratur wenig zum Thema. Müller zum Beispiel belässt es bei einem bloßen Hinweis, dass es da was gibt.4

Eine weitere Gemeinsamkeit von Verschwörungstheorien und Populismus ist die Demokratieunverträglichkeit. Weder Verschwörungstheorien noch Populismus bereichern die Demokratie, ganz im Gegenteil, beide verdüstern ihre Perspektiven. In der Hauptsache, weil sowohl Verschwörungstheorien wie auch Populismus darauf angewiesen sind, Gegnerschaften zu konstruieren, die Aushandlung und Abwägung eher nicht erlauben. Weder kann ich mit Verschwörer*innen, die dunkle, nicht transparent gemachte Verschwörungsziele verfolgen, verhandeln, ob sie das Ziel ihrer Verschwörung nicht möglicherweise verändern könnten, noch geht das mit Eliten irgendwelcher Art, wenn diese definitionsgemäß gegen das Volk sind.

Verzerrungen der Realität

In einigen Hinsichten sind Verschwörungstheorien aber noch eindeutiger als Populismus, der zumindest dem Namen nach einen emanzipativen Bezugspunkt haben könnte und zu manchen historischen Momenten auch hatte, wenn er gegen Eliten ging, die ihrerseits wenig mit Demokratie im Sinn hatten. Denn Verschwörungstheorien können aus epistemischen Gründen nicht emanzipativ sein, denn sie enthalten notwendigerweise eine Verzerrung der Realität. Sie sind kein Wissen, auf dessen Grundlage ein politisches System angemessen auf Ereignisse reagieren könnte. Ganz im Gegenteil, sie stören den Realitätsbezug eines politischen Systems und je relevanter politische Entscheidungen für den Alltag und die Lebenswelt von Menschen werden, desto mehr Schaden können sie anrichten. Deshalb richtet es im 21. Jahrhundert größeren Schaden an, wenn ein politisches System von verschwörungstheoretischem Denken beeinflusst ist, als es im 19. Jahrhundert der Fall gewesen sein mag. Je mehr Politik Konsequenzen hat in der Welt der Dinge, desto gefährlicher kann es sein, wenn Politik von Verschwörungstheorien affiziert wird. In der länger zurückliegenden Vergangenheit war die Welt der Dinge von Politik in erster Linie durch Kriege betroffen und es war schlimm genug, wenn Kriege mit verschwörungstheoretischen Narrativen befeuert worden sind, heute aber berührt politisches Entscheiden viel mehr als vor 100 oder 150 Jahren.

Allerdings ist diese aus der Mitte des 20. Jahrhunderts stammende Wissensordnung des Politischen der Demokratien, zu der verschwörungstheoretisches Wissen als legitimes Wissen nicht mehr gehörte, in Bewegung geraten. Für diesen Wiedereintritt des Verdrängten sind zwei Entwicklungen verantwortlich: einerseits seit nunmehr fast 30 Jahren ein Medienwandel, andererseits die Coronapandemie. Mit zum Verdrängten gehört das Wissen, dass verschwörungstheoretisches Denken nie ganz weg war in den Jahren vor Ankunft des Internets. Von Dänikens 1968 im durchaus seriösen Econ Verlag erschienene Erinnerungen an die Zukunft erzielten eine Millionenauflage und waren zum Jahreswechsel 1968/69 für zwölf Wochen auf Platz eins der Spiegel-Bestsellerliste. Verschwörungstheoretisch im engeren Sinne war das Buch nicht, allerdings war es schon von der Behauptung durchzogen, dass es da Leute gebe, die bestrebt seien, das überlegene Wissen, das in dem Buch enthalten sei, als unwahr gelten zu lassen. Und Butter weiß selbstverständlich auch von anderen Verschwörungstheorien zu berichten: denen um den Kennedy-Mord, Harold Weisbergs 1965 im Selbstverlag herausgebrachtes Buch Whitewash5 und vielem mehr. Das Internet wirkt in diesem Zusammenhang wie ein Wissensgleichmacher, weil dort wissenschaftliches Wissen und verschwörungstheoretisches immer nur wenige Klicks voneinander entfernt zu finden ist. Wer an sowas glaubt, findet anders als früher schnell viele Leute, denen es genauso geht, und schon gehen die Bestätigungszirkel los. Gleichzeitig haben alte Medien, in die man mit solchen Gedanken früher nicht so ohne weiteres hineinkam (bis auf Ausnahmen, wie Däniken beim Econ Verlag), an Bedeutung verloren. Im Hinblick auf gesellschaftlich relevante Diskurse kommt ihnen viel weniger eine Gatekeeper*innenfunktion zu und auch, was das Agendasetting betrifft, müssen Massenmedien damit umgehen, dass Themen aus den sog. Sozialen Medien herausdiffundieren.

Das alles sorgt dafür, dass verschwörungstheoretisches Wissen weit präsenter ist als noch vor wenigen Jahrzehnten, es bedeutet aber nicht, dass die politische Wissensordnung auf den Kopf gestellt wäre. Die Illegitimität verschwörungstheoretischen Wissens ist schließlich nicht verschwunden, alle wissen darum, aber es ist trotzdem da und wird, wie der Wahlkampf und aktuell die Auseinandersetzungen um sog. Voter Fraud in den USA zeigt, auch von einer Seite verwandt. Und in den USA hat es eine zentrale Funktion darin, die Fragmentierung des politischen Diskurses und der Medienlandschaft voranzutreiben, indem man die politischen Gegner*innen nicht als Gegner*innen, sondern als Verkörperung des Bösen, als Betrüger und Kriminelle darstellt. Verschwörungstheorien und -gerüchte sind dort von den Rändern des politischen Spektrums wieder in den konservativen Mainstreamdiskurs eingewandert, dies zeigen auch die nun (Anfang November 2020) seit Wochen durch die rechten amerikanischen Medien wabernden Erzählungen von angeblich ausufernder Korruption der Biden-Familie.6

Stressfaktor Corona

Und dann ist da noch die Corona-Pandemie, die rund um den Globus die politischen Systeme unter Stress setzt. Für viele, die da etwas nicht aushalten, ist Verschwörungstheorie aus schon oben genannten Gründen wieder einmal ein Ausweg. Es lässt sich Kausalität herstellen, irgendwer kann als schuldig benannt werden. Für populistische Politiker*innen ist das attraktiv, weil es erlaubt, von eigener infektionsschutzpolitischer Leistungsbilanz abzulenken. Für Egoist*innen, die nichts als ihr eigenes Wohlbefinden im Auge haben, sind Verschwörungstheorien bzw. -gerüchte hochattraktiv, weil sie zu legitimieren erlauben, warum man sich über Regelungen, die man als die eigene Freiheit einschränkend erlebt, hinwegsetzen kann, ja muss.

Auch aus epistemischen Gründen gibt es bei sogenannten Kritiker*innen der Corona-Maßnahmen Überlappungen mit Rechten und Rechtspopulist*innen. Die AfD ist, was ihre infektionsschutzpolitische Selbstverortung betrifft, von einem schneidigen Coronarschmittianismus, der die Mainstreampolitik als unzureichend, zu langsam, zu spät, zu schlappschwanzig hinzustellen trachtete, zu einer Umarmungsstrategie in Bezug auf die, die da demonstrieren gingen, umgeschwenkt. Für Rechtsextremist*innen entsteht somit ein erstklassiges Werbeumfeld, weil sie auf eine Klientel stoßen, die es mit politischen Grenzziehungen nicht so eng sieht. Für diverse rechte Gruppierungen ist dadurch ein nahezu idealer Nährboden entstanden, der ihnen einen überaus dankbaren Resonanzraum verschafft.

Dennoch sind die auf den Coronademos laufenden Leute vornehmlich Angehörige von Misstrauensgemeinschaften.7 Sie sind zunächst einmal skeptisch gegenüber allem, was sie als etabliertes Wissen betrachten. Genau das sorgt aber auch dafür, dass diese Bewegung ein so attraktives Nährmilieu für all die Antidemokraten und Rechtsextremen ist, die daran arbeiten, der Gesellschaft geteilte Wissensgrundlagen politischen Entscheidens und Handelns zu entziehen. In der Elitenskepsis einerseits und fehlenden politischen Abgrenzung andererseits finden sie eine geradezu ideale Schnittstelle zum Andocken. Irritierend an diesen Communities ist zudem, dass sie oberflächlich an vieles erinnern, was Neue Soziale Bewegungen in den 1970er und 1980er Jahren ausgemacht hat. Das prägt sich einerseits habituell aus. Manches an Coronaskeptiker*innengruppierungen erinnert an Hippies und Gegenkulturelle der Vergangenheit. Die Ikonographie dieser Bewegten ist insofern auch nicht eindeutig, das betrifft auch Sprech- und Denkweisen. Auf einer inhaltlichen Ebene ist da ein Schillern, dadurch erzeugt, dass Wissensgehalte die Seite zu wechseln scheinen. Kritik der Pharmaindustrie und westlichen Medizin, Vorliebe für alternatives Heilen, all das war in vergangenen Jahrzehnten Teil Grünen Denkens, aber nun finden wir es in Gemeinschaft mit Deutschnationalen und ähnlichen ideologischen Ausprägungen. Fast vergessen ist, dass diese Art Widersprüchlichkeit nichts wirklich Neues ist, so war die Schlüsselfigur der sog. Anti-Mask-League, einer politischen Bewegung, die das San Francisco des Jahres 1919 heimsuchte und gegen Maßnahmen zur Eindämmung der Spanischen Grippe protestierte, eine Juristin, die sich jenseits davon als Suffragette betätigte.8

Die aktuellen Versuche, ein Gegenwissen aufzubauen, erinnern nicht von ungefähr an die Umwelt- und Anti-AKW-Bewegung und das wissen auch diejenigen, die das betreiben. Deshalb kopieren sie das Vorgehen, das damals auf der politischen Linken gewählt worden ist. Auf einer Metaebene inspiriert sind diese Leute vermutlich auch davon, dass es diese Kopierbemühungen schon einmal auf der Rechten gegeben hat, als die klimaskeptischen Lobbies sich anheischig machten, der US-amerikanischen Politik eine andere umweltpolitische Ausrichtung überzuhelfen. Damals ging es darum, Zweifel zu nähren. Was anderes brauchen die covidionären Akteure heute auch nicht.

Anmerkungen

1) Selbstverständlich ist der Übergang von Verschwörungsnarrativen zu -theorien fließend, es ist aber davon auszugehen, dass Verschwörungstheorien komplexer sind und zumeist mit irgendwelchen Erzählungen über Bemühungen, Herrschaft über die Welt, wenigstens aber die Nation zu erringen, verbunden sind. Verschwörungsnarrative geben sich schon einmal mit weniger zufrieden, da reicht es aus, wenn es um Geld oder anderweitige Erfolge geht.

2) Gegen Ende der Stalin-Ära wurden im Rahmen einer Kremlintrige jüdische Ärzte für ein vermeintliches Komplott zur Ermordung Stalins verantwortlich gemacht. Für Akteure in Stalins Umfeld war das eine schöne Gelegenheit, ihnen lästige Konkurrenten auszuschalten. Der Machtantritt Chruschtschows setzte diesem Geschehen 1953 ein abruptes Ende.

3) Michael Butter 2018: Nichts ist, wie es scheint. Über Verschwörungstheorien, Berlin: 145.

4) Ebd.: 170.

5) Stand heute kann man es mit einer Auflage vom 1. Oktober 2013 immer noch bei Amazon.de kaufen, dort ist es mit 4,5 Sternen bewertet.

6) Von der Trump-Kampagne werden sie dazu benutzt, von den wirtschaftlichen Aktivitäten des eigenen Kandidaten abzulenken, indem man immer wieder raunend von denen des Gegenkandidaten spricht. Das hat zum Ziel, eigenen Wähler*innen klarzumachen, dass beide Seiten zumindest gleich verderbt seien, man also beim Wählen beruhigt eigenem Vorteil folgen könne (vgl. Anne Applebaum 2020: "You’re Not Supposed to Understand the Rumors About Biden", in: The Atlantic vom 23.10.2020; url: https://www.theatlantic.com/ideas/archive/2020/10/smears-against-biden-dont-need-make-any-sense/616824/, Zugriff am 27.10.2020).

7) Vergleiche das Interview mit Sven Reichardt aus der Konstanzer Forschungsgruppe Diskurse und Orientierungen in der Corona-Pandemie; url: https://www.campus.uni-konstanz.de/wissenschaft/vertrauensverlust-und-wissensermaechtigung, Zugriff am 08.11.2020.

8) So auch im Falle der Anti-Mask-League in San Francisco von 1918/19; vgl. Brian Dolan 2020: "Unmasking History: Who Was Behind the Anti-Mask League Protests During the 1918 Influenza Epidemic in San Francisco?", in: Perspectives in Medical Humanities, May 2020; url: https://escholarship.org /uc/item/5q91q53r, Zugriff am 02.11.2020.

Carsten von Wissel, hat Politikwissenschaft studiert und in sehr soziologischem Umfeld mit einem technik- und wissenschaftssoziologischen Hintergrund promoviert. Er bloggt gelegentlich da: sciencepolicyaffairs.de, und lebt in Berlin und Bremen.