Die internationale Ideologie. Anmerkungen zu Hardt/Negri "Multitude"

Es fällt einigermaßen schwer, zu der neuesten Veröffentlichung von Michael Hardt und Antonio Negri - "Multitude. Krieg und Demokratie im Empire" (Campus, Frankfurt/M. 2004) - konzise und dem Gegenstand angemessene Bemerkungen zu machen.1 Zu stark vollführen die Autoren Drehungen und Wendungen um die eigene Achse, als daß angesichts des obwaltenden Eklektizismus ein empirischer Nachvollzug der Argumentation möglich wäre. In dezidierter Form schließt "Multitude" an die Vorläuferarbeit der Autoren "Empire. Die neue Weltordnung" an, die 2000 im englischen Original und 2002 in deutscher Übersetzung ebenfalls bei Campus in Frankfurt/ M. erschienen war, nur daß diesmal für "Multitude" die Übersetzung noch im selben Jahr der Originalausgabe vorliegt. "Empire" war bereits von einer postmodernen Theoriegrundlage gekennzeichnet, von der aus der Individualismus als "Befreiung" sowie eine horizontale und deterritorialisierte Machtverteilung im Modell der Netzwerkvorstellung und die Überwindung imperialistischer Weltpolitik auf seiten der Großmächte als Tatsachen beschrieben wurden. Soweit die damalige Diskussion überblickt werden kann, lehnten nahezu alle materialistischen Philosophen und Gesellschaftstheoretiker diese Überlegungen ab, während postmodern beeinflußte Theoretiker, die im akademischen Bereich die große Mehrheit bilden, die Arbeit begrüßten (vgl. www.rosalux.de/cms/index.php?links_empire).

Hatte "Empire" die Analyse der heutigen globalen Herrschaft vom Blickwinkel der Machtzentren aus bezweckt, strebt "Multitude" den umgekehrten Weg an. Es soll gezeigt werden, welche Gegenkräfte sich gegen das globale Kapital formieren könnten oder sich bereits formiert haben.2 Bevor zum Aufbau, zur Struktur und zur Argumentationsweise der Publikation von Hardt/Negri einige kritische Bemerkungen in aller gebotenen Kürze vorgebracht werden, sind zunächst ihre beiden wesentlichen positiven Aspekte zu benennen. "Multitude" besticht erstens durch die elementare Zusammenfassung aller Grundtendenzen der heutigen Diskussion zu Globalisierung und Weltkapital, freilich in postmoderner Fassung. Wie weit diese postmodernen Einspielungen zumindest den wissenschaftlichen Diskurs bestimmen, geht besonders aus der von Hardt/Negri benutzten Literatur hervor, die kaum noch Momente der kritischen Theorie gegenüber den sich neu und verschärft herausbildenden Hierarchien durch das Kapital beinhaltet. Die Realitätsferne der Postmoderne läßt sich sehr gut an Kernbegriffen wie Biopolitik oder Netzwerkmacht veranschaulichen, die vor allem die zentral angelegte, vertikale Machtbestimmung des Kapitals verleugnen (hier z. B. S. 72/73). Angetreten mit Losungen zur Verabschiedung des Projekts der Aufklärung und in der Erschütterung des Status der Interpretation selbst, also nicht in der Veränderung des Gegebenen, sondern in der rein idealistischen Umwidmung des Gegebenen die eigentlich "kritische" Perspektive zu sehen, hat der Postmodernediskurs die Dominanz in den Gesellschaftsdebatten übernommen. Zweifellos ist es ein Verdienst von Hardt/Negri, den Umfang dieser Theorieverschiebungen verdeutlicht zu haben, dessen Ausmaß selbst die skeptischsten Kritiker der Postmoderne vor Jahren nicht erwartet hätten.3 Hilfreich für eine grundlegende Veränderung der gegenwärtigen gesellschaftlichen Situation ist das allerdings nicht, denn durch die interpretative Parzellierung von Vernunft und Rationalismus verlieren die orientierungslosen Subjekte die vielen Orte der Emanzipation aus den Augen.

Hardts und Negris Beschreibungen der verschiedensten Aktivitäten von Globalisierungsgegnern, Nicht-Regierungs-Organisationen und anderer Selbsthilfegruppen sind zweitens sehr plastische und authentische Darlegungen des heute vorhandenen Protestpotentials im Weltmaßstab (z. B. S. 316-319). Hier gelingt ihnen eine gültige Dokumentation der empirischen Probleme von Gegenbewegungen zum Kapital. Da sie aber theoretisch und praktisch ihrem deskriptiven Antagonismus keinerlei echte normative Fundierung geben, müßte man die Darstellung direkt klassisch marxistisch vom Kopf auf die Füße stellen. Trotz der häufigen Erwähnung klassenspezifischer Konstellationen (z. B. S. 119/120 und öfter) fehlen in dem Gebäude von Hardt/Negri klassenanalytische Bestimmungen, die der jetzigen Realität gerecht werden, sowie Elemente einer Staatstheorie, die frühere Erkenntnisse zur autoritären Entwicklung des Staatswesens präzisieren helfen könnten.4

"Multitude" gliedert sich wie "Empire" in drei große Hauptteile. Der erste Teil befaßt sich mit dem permanenten Kriegszustand im Weltmaßstab, der zweite möchte den Begriff der Multitude erklären und ihm die Bewegungskraft der globalen Veränderung zuschreiben, während sich der dritte Teil mit den Aussichten der Demokratie beschäftigt. In konzentrierter Version bietet das Vorwort (S. 7-14) bereits alle Thesen von Hardt und Negri auf, die in den längeren Kapiteln später ausführlich erläutert werden. So behaupten die Autoren hier erstens, daß sich die Möglichkeit der Demokratie im globalen Maßstab heute zum allerersten Mal eröffne. Sie behaupten zweitens, daß das Projekt der Multitude für diese Demokratie die Mittel bereitstelle. Drittens meinen sie, daß es zwar so "scheint", als würde ein permanenter und allerorten herrschender Kriegszustand das demokratische Projekt substantiell gefährden, aber dennoch sei die Multitude nicht aufzuhalten, weil sie per se die lebendige Alternative zur heutigen Weltordnung darstelle. Viertens herrschten mittlerweile neuartige Machtverteilungsstrukturen vor, in denen Netzwerkmächte und biopolitische Produktionssegmente von besonderer Bedeutung seien. Das alles führen Hardt und Negri zu dem Schluß, daß die globale Ordnung nicht mehr als imperialistisch zu bezeichnen sei, sondern daß sich die transnationalen Konzerne, die jeweiligen Industriestaaten und die internationalen Agenturen des Finanzkapitals zu einem Empire vereinigt hätten, das bevorzugt danach strebt, gemeinsam den bestmöglichen Zugang zu den Weltressourcen zu gewährleisten. 5

Aber wenn das alles so wäre, warum dann Krieg? Hardt/Negri beantworten diese Frage höchst unzureichend, da sie die Ursachen für gesetzlose Präventivkriege, Interventionen und andere Kriegsstrategien nicht aus der widersprüchlichen Struktur der globalen Konkurrenz zwischen den imperialistischen Hauptmächten ableiten können oder wollen. Bei ihnen "scheint" es immer nur der permanente Kriegszustand zu sein (z. B. S. 7, S. 41, S. 46 und öfter); es ist aber zu befürchten, daß der Krieg tatsächlich auf Dauer gestellt wird und ab dann nur noch eines als Sinn hat, nämlich sich selbst.6 Im Rahmen dieser Verstetigung des Krieges, deren Verläufe von Hardt/Negri zwar benannt, aber meist nur in ihr theoretisches Schema eingepaßt werden, spielt der Wandel innerstaatlicher Grundlagen eine besondere Rolle. Es handelt sich dabei um die Tendenz zur Aushöhlung der formaldemokratischen Grundlagen durch die Etablierung des Ausnahmezustandes als Regel (S. 22, S. 24, S. 36) und um die Auswucherung der Korruption im Regierungshandeln (z. B. S. 66, S. 322, S. 329), hier nicht nur verstanden als Bestechlichkeit, sondern als allgemeine Reduktion des politischen Handelns auf Verwaltungsakte. In der Tat erweist sich der Ausnahmezustand "in der Politik der Gegenwart immer mehr als das herrschende Paradigma des Regierens. Diese Verschiebung von einer ausnahmsweise ergriffenen provisorischen Maßnahme zu einer Technik des Regierens droht die Struktur und den Sinn der traditionellen Unterscheidung der Verfassungsformen radikal zu verändern - und hat es tatsächlich schon merklich getan. Der Ausnahmezustand erweist sich in dieser Hinsicht als eine Schwelle der Unbestimmtheit zwischen Demokratie und Absolutismus." 7 Dieser elementare Gedanke von Giorgio Agamben wird von Hardt/Negri ebenso richtig und kritisch aufgenommen, wie die eigene Auffassung von Korruption in dieses neue Paradigma der Regierungstechniken organisch eingebunden ist. Nur wird in "Multitude" weder der Zusammenhang der beiden Tendenzen deutlich gemacht (wo Ausnahme herrschend wird, ist Kontrolle kaum möglich), noch zeigen Hardt/Negri auf, wie der Ausnahmezustand und die Korruption erst die günstigen Bedingungen für dauerhafte Kriegsanstrengungen züchten. Statt dessen halten sie den Ausnahmezustand und die Korruption für Effekte des Souveränitätsverlustes der Nationalstaaten, für die Verwischung der Grenzziehungen von Innen und Außen sowie für die Krise des staatlichen Gewaltmonopols und seiner Repräsentationsformen (S. 42, Fn. 20 auf S. 397). Als Erklärung für die Möglichkeit und Ausführbarkeit permanenter Kriegszustände ist der Hinweis auf den Verlust von Souveränität aber völlig unzureichend. Ganz im Gegenteil wird durch die Realisierung von Ausnahme und Korruption die Souveränität erst wirklich essentiell. Das heißt, die am Krieg interessierten Kräfte, Gruppen und Klassenfraktionen schaffen durch Ausnahmegesetze die eigentlich für alle geltenden Verfassungen implizit ab und ersetzen sie durch temporäre Ausführungsbestimmungen, die nicht zeitlich befristet werden, sondern deren Gültigkeit auf Dauer gestellt wird. Das ist der Kernpunkt des Traums von Souveränität. Es ist nicht mehr nur, wie weiland Carl Schmitt bemerkte, derjenige Souverän, der über den Ausnahmezustand entscheidet, vielmehr muß es heute lauten, Souverän ist, wer den Ausnahmezustand als allgemein akzeptierte Regierungsführung aufrechterhalten kann. Das hat nichts mit dem Verlust an Souveränität oder der konstatierten Krise des Nationalstaats zu tun. Es handelt sich um Machtkonzentrationen und Machtverlagerungen innerhalb der herrschenden Klassenfraktionen und um Anpassungsleistungen der Staatsapparate an die veränderten Bedingungen im globalen Zeitalter des Kapitals. Die Konzerne und Staaten können diesen Prozeß im übrigen sehr leicht forcieren, da sie bislang kaum Gegenwehr zu erwarten haben und diese Gegenwehr wegen der Zersplitterung und Atomisierung der Gegenkräfte auch kaum konsolidiert werden kann. Was die von Hardt/Negri durchaus zu Recht beschriebenen Phänomene im permanenten Krieg für die Entwicklung einer Demokratiemöglichkeit in der Zukunft überhaupt bedeuten, "scheint" ihnen nicht aufzugehen, denn der dauerhafte Kriegszustand ist für sie grundsätzlich "Schein". Daß die Demokratie sowohl in formaler als auch in inhaltlicher Hinsicht grundsätzlich in Gefahr und daß der Anspruch von Hardt und Negri, die Demokratie im Weltmaßstab theoretisch zu antizipieren, völlig illusorisch ist, würde bei einem unbefangenen Blick auf die Realität sehr schnell bewußt werden.

Bis zum Ende des Kriegskapitels (S. 114) wartet man vergeblich auf Bemühungen um eine Definition des Begriffs Multitude. Sie wird auch im zweiten Hauptteil mit der gleichnamigen Überschrift nicht geleistet. Die Autoren grenzen zwar ihre terminologische Erfindung von allen möglichen anderen Konzepten wie Volk, Masse, Nation und Proletariat ab, ersetzen diese jedoch nicht adäquat, sondern häufen Eigenschaften und Absichten an, die angeblich die Multitude (oder auch Menge) charakterisieren sollen. Eine Minimaldefintion wäre vielleicht diese: Multitude ist ein Gebilde der Vielheit, das sich aus unzähligen Singularitäten (S. 117) zusammensetzt und deren Stärke die Differenzierung untereinander ist. Offensichtlich gibt es keine größere Gefahr für Hardt und Negri als die der Homogenität. Dabei wird unterschlagen, daß das Kapital dauernd Homogenität herstellt und sich selber ständig als Gleichmacher setzt, indem die doppelt freien Arbeitskräfte zum Anhängsel des Kapitals werden (müssen).8 Dagegen setzen Hardt/Negri auf ein Bewußtsein von Vielheit, das sich als Gemeinsames erkennen soll. Sie behaupten: "Mit der Zeit wird die Multitude, hat sie erst einmal ihre produktive, auf dem Gemeinsamen beruhende Gestalt entwickelt, in der Lage sein, durch das Empire hindurchzugehen und auf der anderen Seite herauszukommen, sich selbstständig auszudrücken und zu regieren. " (S. 119) Dieses "Hindurchgehen" ist so weit nichts anderes als der Deus ex machina, der qua Existenz die herrschende Weltordnung aufhebt. Die Konzernherren zittern schon.9

Weil den Autoren klar ist, daß sie mit dieser idealistischen Interpretation vermutlich nicht überzeugen werden, wagen sie einen sporadischen Ausflug in die politische Ökonomie. Weit entfernt davon, vom Standpunkt der Kritik der politischen Ökonomie neue Trends in den Arbeitsverhältnissen aufzudecken (z. B. S. 180), beschwören sie eine angeblich bereits durchgesetzte "Hegemonie der immateriellen Arbeit" (S. 132), die inzwischen durch die Quantität der Arbeitsverrichtungen im Dienstleistungssektor die produktive Arbeit in Industrie und Technologie unterminiert habe. Danach heißt es: "Information, Kommunikation und Kooperation werden zu Normen und das Netzwerk zur vorherrschenden Organisationsform der Produktion." (S. 132) Richtig ist: Information, Kommunikation und Kooperation sind neue Formen des Arbeitszusammenhangs, und sie werden intensiver als früher eingesetzt. Sie bedingen aber für sich keine vorherrschende Organisationsform der Produktion, weil das Kapital nach wie vor auf Akkumulation beruht und einen produzierten, materiellen Warenkörper zur Reproduktion benötigt. Unter den Bedingungen des Kapitals wird die Ausbeutung materieller wie menschlicher Ressourcen nie aufhören. Schließlich sind sämtliche Dienstleistungen abhängig von ihrer Amortisation, was wiederum bedeutet, daß der tertiäre Sektor nicht abgekoppelt von der Produktion materieller Güter auch nur irgendwie gedacht werden kann. Hardt/Negri benötigen jedoch die "Hegemonie immaterieller Arbeit ", um beweisen zu können, daß sich Singularität und Differenz mit den angeblich gemeinsamen Lebensidealen und -zielen der Multitude decken. Ist allerdings das Basiskonzept schadhaft, verfällt auch der Rest in gesellschaftstheoretische Apathie.

In absoluter Konfrontation zu allen bisherigen Vorstellungen vom Sozialismus oder Kommunismus, einer Perspektive, die den Verfassern ja am Herzen liegt, betreiben Hardt und Negri wie schon in "Empire" eine Adelung der Armen. Daß jeder Mensch, auch der ärmste der Welt, seine Würde hat, obwohl sie ihm oft vorenthalten wird, steht vollkommen außer Frage. Nur legen Hardt/Negri für ihre Multitude hier nahe, daß Armut sowohl der Bewegungsfaktor als auch das Ziel der Veränderung sei (S. 149-159). Sozialismus und Kommunismus sind jedoch ausschließlich dann sinnvoll zu erreichen, wenn sie auf der Grundlage ökonomischen Reichtums und in sozialer Anerkennung der Individualität jedes einzelnen entstehen. Ansonsten würde die "ganze alte Scheiße" (Marx/Engels) der Verteilungskämpfe und der Not um das Überlebensnotwendige wieder von vorne losgehen. Hardt und Negri schreiben folgendes: "Die Armen verkörpern die ontologische Bedingung nicht nur des Widerstands, sondern zugleich der Produktion des Lebens selbst." (S. 153) Doch in der gesellschaftlichen Realität verkörpern die Armen nichts als sich selbst. Geknebelt, geschlagen und verhöhnt denken sie meist an den nächsten schweren Tag und nicht an ihre ontologische Mission, die sie gar nicht haben können, denn Armsein generiert keine Seinslehre und ist auch keine "Bedingung", sondern historisch entstandenes und damit auch wieder aufhebbares Unglück. Man sollte möglicherweise noch daran erinnern, daß Armut zwar zu Revolten, aber nicht zum systematischen Angriff auf die Zentren der Macht führen kann, denn die Armen sind eben durch ihre soziale Situation so weit vom gesellschaftlichen Leben ausgeschlossen, daß sie nicht einmal den Weg finden bzw. das Fahrgeld bezahlen könnten, um wie Mister Smith nach Washington zu gehen und dem Präsidenten seine Meinung zu geigen.10

Das theoretische Konstrukt von Hardt/Negri steht und fällt mit der Organisationsfrage. Doch einer Beantwortung dieser Frage wird ausgewichen; statt dessen wird die Vielheit der Multitude auf dem Weg ins gemeinsame Leben zur befriedigenden Antwort erklärt. Theoretisch an sich schon haltlos, wäre ein kurzes Innehalten in der empirischen Wirklichkeit hilfreich für ein Insistieren auf einer realistischen Analyse. Denn trotz aller Aktivitäten für Sozialforen und gegen die offensichtlichsten Eskapaden des Kapitals bleibt der differenzierte Protest gegen die herrschende Ordnung, gemessen an dem, was geleistet werden müßte, doch merkwürdig kleinlaut. Slavoj Zizek erläutert dieses Problem mit der nötigen Klarheit: "Folgt man heute einem Aufruf zu handeln, so vollzieht sich diese Handlung bzw. dieser Akt nicht im leeren Raum, sondern innerhalb der hegemonialen ideologischen Koordinaten. Diejenigen, die ›wirklich etwas tun wollen, um den Menschen zu helfen‹, werden sich an (zweifelsohne ehrenwerten) Projekten wie Medecins sans frontières, Greenpeace, feministischen und antirassistischen Kampagnen beteiligen, die von den Medien nicht nur toleriert, sondern sogar unterstützt werden, selbst dann, wenn sie auf ökonomisches Gebiet vordringen (etwa indem sie Unternehmen anprangern und boykottieren, die ökologische Vereinbarungen mißachten oder in ihren Betrieben Kinder beschäftigen); solange sie eine gewisse Grenze respektieren, werden derartige Projekte toleriert und unterstützt. Dennoch ist genau diese Form von Aktivität ein perfektes Beispiel für Interpassivität, dafür, daß man bestimmte Dinge nicht tut, um etwas zu erreichen, sondern um zu verhindern, daß wirklich etwas geschieht, sich etwas Grundsätzliches ändert. Alle diese beherzten, humanitären, politisch korrekten usw. Aktivitäten lassen sich auf die Formel bringen ›Laßt uns ständig irgend etwas verändern, damit insgesamt alles beim Alten bleibt!‹" 11 Genau in dem Moment also, wo der kapitalistische Block an der Macht zwar in sich widersprüchlich, aber doch als große Nivellierungsmaschine die eigenen Interessen kraftvoll vertritt, plädieren Hardt und Negri für die Unorganisiertheit des Widerstands, der in der Grundfrage, der Überwindung des Kapitals, zersplittert, notwendigerweise scheitern muß. Anstatt plurales Denken, gerichtet und strategisch formiert auf ein einheitliches Ziel zu fordern, verharren die Autoren bei dem Gebet, daß die Multitude der große, geheimnisvolle Akteur der Weltgeschichte sein werde.

Im dritten Kapitel über die Demokratie findet sich fast nichts zur Demokratie. Erneut das Protestpotential gegen die Globalisierung aufnehmend, erscheinen die Proteste jetzt als "Beschwerden", die mit der Petitionspolitik der Generalstände an den französischen Monarchen vor der Revolution von 1789 unzulässig analogisiert werden (z. B. S. 298). Ebenso fragwürdig ist der Analogieschluß, wonach die Texte und Schriften zur Anwendung des demokratischen Prinzips auf die Nationenbildung im 18. Jahrhundert mit der heutigen Situation vergleichbare Weitsichten aufweisen würden, denn die Proklamation der Demokratie durch die Multitude könne mit den Erfahrungen des 18. Jahrhunderts die Beengungen der traditionellen Vorstellungen von Demokratie überwinden (S. 340). Eine spätere Bemerkung von Hardt/Negri zur unilateralen Strategie der USA macht in ihrer mechanischen Analogiesetzung die ganze Konfusität ihres Ansatzes deutlich. Sie imaginieren die geopolitische Strategie dergestalt, daß sie glauben, die USA seien hierbei die "Nabe" eines Rades, "deren Speichen sich auf jede Region auf dem Globus erstrecken " (S. 350). Daß sich an der fortschreitenden Absurdität mancher Theorien nichts geändert hat, zeigt ein Rückblick in das Jahr 1978. Dort schrieb Edward Palmer Thompson: "Wir können die gegenwärtige Situation genauer definieren, wenn wir eine in MarxÂ’ Briefwechsel mit Engels häufig auftauchende Kategorie hinzuziehen (...). Diese ganze ›Scheiße‹ (Geschichtenscheissenschlopff) 12, in der sowohl die bürgerliche Soziologie wie der marxistische Strukturalismus bis zum Hals drinstecken (Dahrendorf neben Poulantzas, Modernisierungstheorie neben theoretischer Praxis), ist auf uns geschissen worden von der Paralysierung der Begriffe, von der Enthistorisierung des Prozesses und von der Reduktion von Klasse, Ideologie, Gesellschaftsformation und beinahe allem anderen auf begriffliche Statik. Der soziologische Querschnitt: die elaborierten Differentialumlaufbahnen im in sich geschlossenen Planetarium; die sich selbst entfaltende vorprogrammierte Entwicklungsfolge; die leicht ungleichgewichtigen Gleichgewichtsmodelle, in denen der Dissens unglücklich durch fremde Korridore streift auf der Suche nach einer Aussöhnung mit dem Konsensus; die Systemanalysen und Strukturalismen mit ihren Drehmomenten und Zusammensetzungen; die antirealen Fiktionen; die ökonometrischen und cleometrischen Gleissysteme - all diese Theorien hoppeln vorprogrammierte Routen entlang von einer statischen Kategorie zur nächsten. Sie sind sämtlich Geschichtenscheissenschlopff‹, unhistorische Scheiße." 13 Nichts anderes sind auch Multitude und Empire nach Hardt/Negri.

Eine Kritik an einem Buch mit dem Zitat aus einem anderen Werk zu beenden, spricht nicht eben für die Qualität der kritisierten Arbeit. Aber schon 1845 waren entsprechende Wundertheorien als Heil des "wahren" Sozialismus und Kommunismus im Schwange. Hardt/Negri als internationale Ideologen gleichen oft den deutschen aus der Mitte des 19. Jahrhunderts. Wie Marx und Engels urteilten: "Es handelt sich bei ihnen (den deutschen Ideologen - D. K.) überhaupt nur darum, neue Phrasen zur Interpretation der bestehenden Welt zu erfinden, die um so gewisser in burleske Prahlereien auslaufen, je mehr sie sich über diese Welt zu erheben glauben und in Gegensatz zu ihr stellen." 14

Wenn die Auffassungen von Hardt und Negri zur Grundlage eines künftigen Veränderungskonzeptes werden sollten, ist die Unrealisierbarkeit der Emanzipation vorprogrammiert.

Detlef Kannapin - Jg. 1969, Historiker; Dissertation zum Nationalsozialismus im Film der Nachkriegszeit eingereicht; zahlreiche Veröffentlichungen im DEFA-Jahrbuch, in Sammelbänden, in Jungle World, Berliner Debatte, Das Blättchen etc.

1 Alle folgenden im Text in Klammern nachgewiesenen Seitenzahlen beziehen sich auf dieses Buch.

2 Wir werden später sehen, daß Begriffe wie "formieren" oder "Formation " nicht den Intentionen der Autoren entsprechen.

3 Vgl. z. B. Terry Eagleton: Die Illusionen der Postmoderne. Ein Essay (1996), Stuttgart-Weimar 1997.

4 Aus emanzipatorischer Perspektive liegen die meisten theoretischen Defizite der Gegenwart im Fehlen einer aktuellen und schlüssigen Staatstheorie. Hier hätten die autoritären Tendenzen innerhalb formaldemokratischer Staatsapparate eine besondere Aufmerksamkeit verdient. Vgl. Nicos Poulantzas: Staatstheorie. Politischer Überbau, Ideologie, Autoritärer Etatismus (1977), Hamburg 2002, S. 231-277.

5 Das ist zusammengefaßt in etwa die These aus "Empire". Sie erinnert fatal an die Auffassung von Karl Kautsky, wonach sich die imperialistischen Mächte der Zukunft zu einem "Ultra-Imperialismus" zusammenschließen könnten. Da sowohl bei Kautsky als auch bei Hardt/Negri die Kategorie der widersprüchlichen Interessen von Konzernen und Staaten im Block an der Macht fehlt, ist Lenins Ausruf von Kautskys "Ultra-Unsinn" mutatis mutandis auch auf Hardt/ Negri anzuwenden. Vgl. Wladimir I. Lenin: Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus (Originaltitel: Der Imperialismus - die nächste Phase des Kapitalismus [1916]), in: Ders.: Werke, Band 22, Berlin 1977, S. 189-309, hier S. 276. Auf die weitere Diskussion um den Imperialismus von heute wird hier nicht weiter eingegangen, weil sie nur am Rande der Gegenstand von "Multitude " ist.

6 Diese Ansicht bzw. Befürchtung teilen inzwischen die unterschiedlichsten Theoretiker. Vgl. dazu z. B. Georg Seeßlen, Markus Metz: Krieg der Bilder - Bilder des Krieges. Abhandlung über die Katastrophe und die mediale Wirklichkeit, Berlin 2002, S. 158 und Herfried Münkler: Die neuen Kriege, Reinbek 2004, S. 132.

7 Vgl. Giorgio Agamben: Ausnahmezustand (Homo sacer II.1) (2003), Frankfurt/ M. 2004, S. 9.

8 Vgl. dazu Moishe Postone: Zeit, Arbeit und gesellschaftliche Herrschaft. Eine neue Interpretation der kritischen Theorie von Marx (1993), Freiburg 2003, S. 415/416.

9 Auch hier gibt es bemerkenswerte Parallelen zu Karl Kautsky und der mechanischen Kanonisierung des Marxschen Denkens in der II. Internationale. Die zum Teil diffamierende, zum Teil erstaunlich unwissende dreibändige Geschichte des Marxismus von Leszek Kolakowski enthält in ihrem zweiten Band eine treffende Einschätzung von Kautskys Standpunkt: "Verbessern wir einstweilen den Kapitalismus, der Sozialismus ist uns ohnehin durch die historischen Gesetze garantiert. " Leszek Kolakowski: Die Hauptströmungen des Marxismus. Entstehung - Entwicklung - Zerfall. Zweiter Band (1977), München 1978, 1988 (4. Aufl.), S. 71. Die Multitude von Hardt und Negri scheint ebenfalls auf der Seite der unerschütterlichen historischen Gesetze zu stehen, wo Widersprüche und Kampfakte eliminiert sind.

10 Anspielung auf den 1939 von Frank Capra in den USA gedrehten Spielfilm "Mr. Smith Goes to Washington", worin ein Bürger aus der US-amerikanischen Provinz die Regierung persönlich über dortige soziale Mißstände aufklärt.

11 Vgl. Slavoj Zizek: Die Revolution steht bevor. Dreizehn Versuche über Lenin, Frankfurt/M. 2002, S. 18/19 (Hervorhebungen von Zizek - D. K.).

12 "Ironischer Germanicus Thompsons", um die Gelehrsamkeit marxistischer Talmudisten in England zu persiflieren, die über ihre Texte deutsche und französische Konstrukte verstreuten (Anmerkung bei Thompson).

13 Vgl. Edward Palmer Thompson: Das Elend der Theorie. Zur Produktion geschichtlicher Erfahrung (1978), Frankfurt/M.-New York 1980 (im übrigen Campus- Verlag), S. 159/160.

14 Vgl. Karl Marx, Friedrich Engels: Die deutsche Ideologie. Kritik der neuesten deutschen Philosophie in ihren Repräsentanten Feuerbach, B. Bauer und Stirner, und des deutschen Sozialismus in seinen verschiedenen Propheten (1845/1932), in: Karl Marx, Friedrich Engels: Werke, Bd. 3, Berlin 1973, S. 379.

 

in: UTOPIE kreativ, H. 174 (April 2005), S. 342-348

Inhalt der Print-Ausgabe (ab Mai 2005 alle Artikel auch in Internet unter http://www.rosalux.de/cms/index.php?id=5659)

VorSatz; Essay HERMANN KLENNER: Vorwärts, doch nicht vergessen: Die Babelsberger Konferenz von 1958; Nachhaltigkeit & Ökologie MICHAEL LÖWY: Destruktiver Fortschritt. Marx, Engels und die Ökologie; ROLF KUHN: Neue Chancen für eine gestörte Landschaft Die Internationale Bauausstellung (IBA) Fürst-Pückler-Land in der Lausitz; JOACHIM H. SPANGENBERG: Nachhaltigkeit - Konzept, Grundlagen, Herausforderungen, Anwendungen; Gesellschaft - Analysen & Alternativen DETLEF KANNAPIN: Die internationale Ideologie Anmerkungen zu Hardt/Negri "Multitude"; MARKUS GILLES: Von begabten und unbegabten Studierenden; Dokumentierte Geschichte HUGO EBERLEIN: Erinnerungen an Rosa Luxemburg bei Kriegsausbruch 1914; Standorte LOTHAR RATAI: In welcher Zeit leben wir?; In memoriam ULRICH BUSCH: Von der "Roten Fahne" zur "Financial Times" Zum Tode von Günter Reimann (1904-2005); Festplatte WOLFGANG SABATH: Die Wochen im Rückstau; Bücher & Zeitschriften HANS KLEIN: In eine neue Zukunft. Dokumente einer Hoffnung (JENS LANGER); Eric Hobsbawm: Gefährliche Zeiten. Ein Leben im 20 Jahrhundert (PETER ULLRICH); Renate Reschke (Hrsg.): Nietzsche. Radikalaufklärer oder radikaler Gegenaufklärer? Nietzscheforschung, Sonderband 2 (ULRICH BUSCH); Rainer Funk: Ich und Wir - Psychoanalyse des postmodernen Menschen (JÜRGEN MEIER); William Taubman: Khrushchev. The Man and His Era (Chruschtschow. Der Mann und seine Ära) (HORST SCHÜTZLER); Summaries