Das Märchen von der Entschleunigung

in (18.09.2020)

Sollten wir ein Bild malen vom Alltag in Österreich „in Zeiten von Corona“, wie würde es aussehen? Den Eindruck, den Politik und Medien über weite Strecken vermittelt haben: „Die Gesellschaft steht still“, gepaart mit dem Aufruf zu „entschleunigen“. Ein gediegenes Biedermeier-Ensemble also. Es ist die Perspektive gesunder Privilegierter, mit abgesicherten Erwerbsarbeitsplätzen, ohne Betreuungspflichten, in einladenden Wohnverhältnissen. Entschleunigung ist ihnen vorbehalten, großteils Männern und Wohlhabenden. Ich möchte hier ein anderes Bild skizzieren. Ein Bild von Frauen ohne Privilegien, die im Privaten am Rad drehen, weil alles an ihnen hängen bleibt – weil das schon immer so war. Es sind reale Geschichten, aber erfundene Namen.
Maria ist Pensionistin, selbst nicht mehr ganz fit. Sie pflegt zuhause ihren krebskranken Mann, der durch die Chemotherapie geschwächt ist. Bisher hatte Maria Unterstützung: eine Palliativpflegerin und der Hausarzt kamen regelmäßig, eine Nachbarin half im Haushalt, der Wirt im Ort lieferte wochentags das Mittagessen. Jede einzelne dieser Unterstützungen ist mit dem „Shutdown“ plötzlich weggebrochen. Maria ist ganz allein. Als sie eines morgens mit Fieber und Halsweh aufwacht wird sie panisch. Bei der Gesundheitshotline 1450 kommt sie zwar durch, dort wird ihr allerdings erklärt, sie sei keine Risikoperson, solle den Hausarzt anrufen und „Abstand zum kranken Mann halten“. Maria pflegt ihren Mann. Abstand ist nicht möglich.
In diesem Bild aus der Perspektive der Frauen geht es nicht nur um Geringverdienerinnen in „systemrelevanten“ Jobs. Im Gesamtsystem sind Frauen besonders deshalb systemerhaltend, weil die unbezahlte Versorgungsarbeit in ihren Händen liegt. Es sind großteils Mütter und Großmütter, die sich um den Nachwuchs kümmern. Es sind großteils Partnerinnen, Töchter, Schwiegertöchter und Enkeltöchter, die Alte und Kranke zuhause pflegen. Unsere Volkswirtschaft funktioniert überhaupt nur, weil Frauen mit ihrer unbezahlten Arbeit das System stützen. Im Gegenzug müssen sie in eher geringbezahlten Erwerbsjobs arbeiten, zu einem großen Teil in Teilzeit und landen schließlich in der Altersarmut. Ökonomisch ist das kein Geheimnis, sondern statistisch und wissenschaftlich unbestritten. Es erhält nur nicht besonders viel Aufmerksamkeit.
In Frage gestellt wurde dieses extreme Ungleichgewicht auch im Corona-Ausnahmezustand nicht. Im Gegenteil: Es wurde wie selbstverständlich davon ausgegangen, dass die Betreuung der Kinder zuhause großteils möglich ist, wenn alle Schulen und Betreuungseinrichtungen plötzlich geschlossen werden. Die Verantwortung wie auch das Risiko wurden privatisiert, denn ArbeitgeberInnen mussten ihre MitarbeiterInnen nicht freistellen oder zuhause arbeiten lassen – sie konnten nur. War das nicht möglich oder wurde nicht ermöglicht: Pech gehabt. Viele Kindergärten etwa nahmen Kinder nicht in Betreuung, wenn die Eltern keinen Nachweis erbringen konnten, dass sie „systemrelevant“ arbeiten. Manche ArbeitgeberInnen wiederum bestanden auf Arbeitsleistung, weil offiziell die Kindergärten Betreuung anbieten. Wenn alle können und niemand muss, bleibt es letztlich an den Frauen/Müttern hängen. Business as usual. 
Salma ist Mutter von vier Kindern, mit dem jüngsten in Karenz. Der Vater ist Apotheker und unabkömmlich. Als Salma von den Schulschließungen hört, bekommt sie Herzrasen: mit vier Kindern zuhause, die Kleinen beschäftigen, mit den Großen Lernen, den Kleinsten stillen, Haushalt und Gesamtversorgung aufrecht erhalten. Die Großeltern dürfen nicht helfen. Die Spielplätze sind abgesperrt. Es brennt – im wahrsten Sinne. Eines Abends lässt Salma das heiße Öl wenige Augenblicke unbeaufsichtigt auf dem Herd, weil die Kinder im Wohnzimmer schreien. Die Pfanne fängt Feuer, die Flammen sind zu hoch, um den Deckel drauf zu werfen. Die Feuerwehr löscht den Brand, alle sind körperlich unverletzt. Die süffisanten Belehrungen der Feuerwehrmänner, dass man Öl am Herd einfach „nie alleine lassen dürfe“ tun weh. 
In kürzester Zeit hat im Frühjahr 2020 eine gewaltige Verlagerung von „Gesellschaft“ und öffentlichen Aufgaben ins Private stattgefunden. Was „draußen“ entschleunigt wurde, hat „innen“ für atemberaubende Beschleunigung gesorgt. Bei Frauen in unterbezahlten Jobs, die sich täglich der Gefahr einer Infektion aussetzen und mit schlechtem Gewissen zu den Kindern heimkehren. Bei Frauen ohne Erwerbsarbeit und mit immer weniger Einkommen für sich und ihre Familien. Bei Frauen, die immer schon prekär leben mussten, Künstlerinnen und „Neue Selbstständige“, die einmal mehr durch den Rost der sozialen Hilfen fallen. Ganz ins Innere versetzt sind viele Frauen in Homeoffice, die gleichzeitig Hausfrauen und für die ebenfalls gebeutelten Kinder Lehrerinnen und Psychologinnen sein müssen. 
Frauen waren „drinnen“ immer schon voll beschäftigt mit Versorgungsarbeit und Betreuungspflichten. An der Aufteilung der bezahlten und unbezahlten Arbeit hat sich in den vergangenen Jahrzehnten kaum etwas verändert. Der Corona-Ausnahmezustand hat dieses Ungleichgewicht nur noch weiter verschlimmert. Wenn nun also davon geredet wird, bald wieder zum „Normalzustand“ zurück kommen zu wollen, sage ich: Bitte nicht! Diese Krise ist wie ein Vergrößerungsglas auf diesen Normalzustand. Damit das „draußen“ gut funktioniert, wird „drinnen“ Schwerstarbeit geleistet – unbezahlt. Es braucht nichts weniger als einen Systemwandel. Das Private ist politisch!


Dieser Text erscheint in Bildpunkt. Zeitschrift der IG Bildende Kunst, Nr. 54, Sommer 2020, „Ausnahmezustand“.

Gabi Horak ist seit 22 Jahren Redakteurin des feministischen Magazins an.schläge und Aktivistin in der Österreichischen Armutskonferenz.