Kunst im Zeitalter des digitalen Expansionismus

in (19.04.2020)

Mehr, größer, erweitert, angehäuft: Diese Gewichtungen sind das Maß für den Wert im kapitalistischen Modell des ewigen Wachstums. In der Doktrin des unendlichen Fortschritts gibt es nur unbegrenztes Wachstum, immer höher, immer größer. Die Linien auf den Diagrammen müssen in steter Aufwärtsbewegung neue Gipfel erreichen. Die Reproduktion muss sich über ihre früheren Grenzen hinaus ausdehnen und idealerweise mehr aus dem Weniger herauspressen. Mehr ist gut, ist das einzig Gute. Ohne Aufstieg ist keine Zukunft vorstellbar, nur ein Abstieg in Richtung Hölle, ein Niedergang, der eine Katastrophe bedeutet. Oftmals wird Wachstum in der Prahlerei der Unternehmen herausposaunt, während seine Effekte den Planeten spürbar prägen und sichtbare Auswirkungen in riesigen Gruben, Bergen von Konsumgütern, enormen Fabriken und an Arbeitskräften hinterlassen. Manchmal werden die Auswirkungen stärker verschleiert, solange bis sie unübersehbar sind: feinstaubelastete Luft, Wasserverschmutzung und -knappheit, toxische Deponien.

Im Gegensatz zu solchen vulgären Wachstumsbekundungen beteuert der informationelle Plattformkapitalismus seine Immaterialität, seine Reduktionen gegenüber den Industrieanlagen mit ihren rülpsenden Gasen und fossilen Übergriffen. Als sich das Cloud Computing – in Gestalt von Software, Plattform und Infrastruktur als Dienstleistung – in den 2010er Jahren etablierte, wurde viel über seine Nachhaltigkeit und von „Green Cloud Computing“ gesprochen. Dieses weltverändernde und weltbildende System hat sich alle Arbeit und Kommunikation einverleibt. Heute sitzen Menschen in einem oft nicht greifbaren Gewirr von Fäden, die Daten in Lichtimpulsen durch kreisförmige Netzwerke von Rechenzentren katapultieren. Diese robusten, gut geschützten – manchmal getarnten – Gebäude beherbergen Server, Speichergeräte, Kabel, Geräte zur Lieferung großer Energiemengen und zur Kühlung der Maschinen oder zum Löschen von Bränden. Sie verstecken sich, während sie überall sind. Die Wolke des Cloud Computing ist weniger sichtbar als die Wolken am Himmel. Die Sicherheit verlangt es.

Der Künstler John Gerrard wollte sehen, was das überhaupt ist. Er wollte ein Datenzentrum, das die Cloud beheimatet, sehen und darstellen, so wie John Constable einst die Wolken über London in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts sah und darstellte, im Einklang mit dem Bestreben der Landschaftsmalerei und der neuen Wissenschaft der Meteorologie. Die Speicher- und Durchgangsorte, aus denen sich die Cloud zusammensetzt, haben eine ländliche Färbung, denn sie nehmen oft den Namen „Farm“ an. Es ist, als ob sie die Bits, die sie beherbergen, wie Schweine oder Hühner kultivieren (obwohl auch diese heute in menschenleeren Fabriken gezüchtet werden). Gerrard wurde der Zugang zu einem Google-Rechenzentrum verweigert, also mietete er einen Hubschrauber, um Bilder vom Himmel aus zu machen. 2500 Bilder, um die Unterstellung, die der Name nahelegt, aus der Welt zu räumen, dass nämlich die physische Infrastruktur der Cloud selbst neblig oder wolkenähnlich, „ephemer, quasi-mystisch“
[1] sei. Das daraus entstandene Kunstwerk Farm (Pryor Creek, Oklahoma) (2015) ist eine Umrundung einer CGI-Rekonstruktion des Gebäudes, wie sie von einer virtuellen Kamera aus gesehen wird, vor einem Himmel, der in wechselndes Licht getaucht ist, das mit der tatsächlichen Tageszeit in Oklahoma korreliert. Reihen von Backup-Dieselgeneratoren und Kühltürmen für Server im Inneren des Gebäudes lassen es wie eine chemische Fabrik erscheinen. Die Cloud ist ein weiteres Fabrikprodukt. Die Umweltbelastung durch den digitalen und algorithmischen Kapitalismus ist so heftig wie der jeder anderen Industrie.

Mehr noch, diese Cloud existiert nicht losgelöst von Ideen der Expansion. Order of Magnitude (2019), eine Videoarbeit von Benjamin Grosser, zeigt den Wachstumsfetisch des digitalen Kapitalismus auf. Er entnahm aus jedem Video-Auftritt von Mark Zuckerberg, dem Gründer von Facebook, zwischen 2004 und 2018 die Wörter „mehr“ und „wachsen“ sowie alle Leistungskennzahlen wie „50%“, „vier Millionen“ oder „eine Milliarde“: „Man wächst einfach mehr, wenn man mehr, mehr, mehr, mehr bekommt“, und so weiter. Fünfzig Minuten expansionistischer Rede ergeben eine Jump/Cut-Montage, in der die blasse grau-blaue Farbe von Zuckerbergs T-Shirts fast unverändert ist, während der glühende Wunsch nach Expansion größenwahnsinnig erscheint. Das ist das Grundprinzip eines Systems, das Energie und Ressourcen verschlingt, auch solche, die früher schwer zu quantifizieren waren. Likes, Vorlieben, Lächeln, Zeit, Augenbewegungen, Reaktionen und Aufmerksamkeit werden geerntet, um weiter verkauft zu werden. Die zunehmende Erfassung dieser menschlichen Daten ist die Lebensgrundlage der Plattform.

Das Geschäft der sozialen Medien korreliert mit der Stimmung. Facebook stand bei der Entwicklung von Tools zur Erfassung von Emotionen, „Like“-Buttons, traurigen oder schockierten Emoticons an vorderster Front. Im Jahr 2016 hat Facebook seine Palette von „Reaktionen“ – „Liebe“, „Haha“, „Wow“, „Traurig“ und „Wütend“ – eingebettet, auf die man als Antwort auf Beiträge klicken kann. Jeder Click wird quantifiziert, jede/r Nutzer*in wird mit Mengenangaben in Bezug auf Wirkung und Engagement konfrontiert, ein freiwilliges soziales Kreditsystem. Das Signalisieren von Emotionen ist ein Mittel, um mehr Verkehr, mehr Engagement und damit mehr Daten zu sammeln oder mehr Menschen mehr Werbung auszusetzen. Die Mitarbeiter*innen für Kundenerfahrung und der Personalabteilung passen diese Methoden der Datenerfassung an. Die Emoji-Gesichter bitten uns, sie nach dem Passieren der Sicherheitskontrolle auf Flughäfen, in Einkaufszentren, Cafés oder Banken anzuklicken. Der Slogan von Happy or Not, Hersteller von Smiley-Terminals und der Analysesoftware zur Verarbeitung der Ergebnisse, lautet: „
Creating happiness in every business, worldwide“. In jedem Unternehmen – und weltweit. Nur die vollständige Okkupation ist wünschenswert. Sollten die Analysen Negativität zeigen, hat das Konsequenzen für das Team. Smiley-Feedback-Technologien und Software-Anwendungen gibt es auch für die Mitarbeiter*innen. „Team Mood“ ist nur eine Anwendung, die Gruppen von Mitarbeiter*inen verfolgt und sie bittet, ihre Stimmung am Ende des Arbeitstages einzugeben. „Diese Analysen sind ein Werkzeug für das Team zur kontinuierlichen Verbesserung“[2]. Die Stimmung des Teams – und damit seine Produktivität – kann unendlich verbessert werden. Kontinuierliche Verbesserung ist ein Beispiel für eine quasi japanische Managementphilosophie, Kaizen, die auf das Toyota-Produktionssystem zurückgeht. Es zeigt das schrittweise und kollektive Streben nach Verbesserung der Organisation, der Materialien und der Arbeitsabläufe. Erweitert um den Bereich der sich ständig verbessernden Stimmung ist es eine Überwachung des Gefühlslebens, um die Verbesserung in Kontexten zu regulieren, die den Unmut überhaupt erst verursachen.

Order of Magnitude verwendet Found Footage, also Video-Fetzen, die seit Äonen auf Servern gehalten werden. Die Wiederverwendung dieses Materials ist ein ökologischer Akt. Es folgt der degrowth-Logik der Vermehrung von „Rs“: Wiederverwendung (re-use), Wiederverwertung (re-cycle), Wiederaneignung (re-appropriate), Vermeidung (re-duce). Eine Größenordnung kann schrumpfen, die Linien der Graphen können sinken, nicht als Zeichen einer Krise, sondern als Indikatoren für eine neue Art des Daseins in der Welt. Dies wäre nicht mehr eine Welt, in der ein unverschämt reicher Mann über die Art der sozialen Beziehungen in der Welt herrscht und von Freundschaft und Neugier profitiert. Das degrowth-Konzept unterbricht das business-as-more-than-usual, um die Ressourcen des Planeten zu retten und Ungleichheit und Leid zu beseitigen. Die Aufmerksamkeit auf den unaufhörlichen Wachstumswunsch von Facebook zu lenken, mit unerbittlicher Langeweile den absurden Obsessionismus eines demokratisch nicht rechenschaftspflichtigen, dezentralisierten, persönlich übergriffigen, energiehungrigen (auch wenn immer mehr Prozent davon erneuerbare Energien sind) Social-Media-Unternehmens aufzuzeigen, geschieht deshalb, um einen Raum für die Vorstellung seines Gegenteils – das eine künstlerische Arbeit sein könnte – zu öffnen. Und es soll die allzu materielle Präsenz eines internetbasierten Dienstleisters in der Welt der Wirtschaftsprognosen und der Gewinnerzeugung für Aktionär*innen unterstreichen, ein Nebenprodukt seiner schattenhaften Rolle im „Überwachungskapitalismus“, seiner Erzeugung von Daten, die er anfordert und speichert, um das Verhalten der Beteiligten in den Konsumsektoren sowie vor und nach Verbrechen vorherzusagen.

Degrowth kehrt nicht nur die Forderungen nach kontinuierlichem Wachstum um. Es bedeutet, das Wachstum, die Messung als Maßstab, überhaupt aufzugeben. Degrowth bedeutet, anderswo oder anders zu wachsen, weg von den Quellen des Elends, hin zur Selbstkultivierung im Rahmen der Konvivialität und mit einem Verantwortungsbewusstsein in Bezug auf die Auswirkungen von Produktion und Konsum auf die Natur. Die Werte von degrowth stimmen mit denen von Künstler*innen überein, zumindest jener der Romantik oder der Künstler*innen-Handwerker*innen, wie sie der Marxist William Morris konzipiert hatte. Degrowth muss anders mit dem Wachstum umgehen und re-orientiert das Wachstum wieder auf die Natur. Wachstum bedeutet, eins mit der Natur zu sein und sie nicht immer über sich selbst hinauszudrängen im Verlangen nach immer mehr. Morris empfand die Tage der Akkumulation als eine Denaturierung des menschlichen Lebens, der Beziehungen und Aktivitäten. Er konzipierte eine utopische Gegenvorstellung zur industriellen Fabrikgesellschaft, die an den flachen Wänden gut ausgestatteter Salons fast greifbar gemacht wurde: sich windende Blätter, zarte Blüten, reife Früchte. In prachtvollen Entwürfen aus stilisierten Geißblatt- und Tulpenblüten, verschlungenen Blättern und Stielen in Rosa, Blau und Grün, die an den Wänden von Salons tapeziert waren, fand sich inmitten der Wärme knisternder Feuer und Plüschsessel die zweite Natur von William Morris, die eine nicht-entfremdete Existenz inspirierte. Dieses „Märchenland!“[3] für ein harmonisches Selbst wurde gestaltet, aber nicht gefunden. Aber es entstand damals und tut es immer noch, in einer limitierten Auflage.

Es scheint heute leichter, sich das andere Wachstum, das industrielle, das der 24/7-Gesellschaft vorzustellen. Leichter für Künstler*inen, sich zu profilieren, indem sie in ihren Eingeweiden picken, ihre Methoden auf sich selbst zurückbiegen, anstatt mit guten Absichten einfallsreiche Modelle dafür zu entwerfen, wie degrowth aussehen oder sich anfühlen, riechen oder klingen könnte, wie die Sinne wiederbelebt und soziale Welten ungebaut und neu aufgebaut werden könnten. Verstrickt in den Netzen der sozialen Medien, der Clouds und Netzwerke des Internets der Dinge, ist ein Maßstab der Verweigerung nur eine weitere unvorstellbare Weite jenseits der Kontrolle eines/ einer jeden von uns, und offenbar sogar außerhalb des Rahmens selbst der künstlerischen Vorstellungskraft, deren Bemühungen, ihn zu modellieren, allzu leicht in Naivität, Kitsch oder Luxusmoral verfallen.



Dieser Text erscheint in Bildpunkt. Zeitschrift der IG Bildende Kunst (Wien), Nr. 53, Frühling 2020, "Wachstumsprobleme (degrowth)".
Übersetzt aus dem Englischen von Jens Kastner.



Esther Leslie ist Professorin für Political Aesthetics am Birkbeck College der University of London.

 

 

[1] J. Pickford, Google Earth: Artist Takes to the Clouds, in Financial Times, 6. Februar 2015.

[2] Team Mood: https://www.teammood.com/en/

[3] May Morris, William Morris, Bernard Shaw, William Morris: Artist, Writer, Socialist, Volume 1, Blackwell 1936, S. 49.