Ein Interview mit der Kommunardin und Contraste-Redakteurin Regine Beyß
Regine Beyß lebt in der Kommune Villa Locomuna in Kassel. Die 1989 in Jülich geborene Redakteurin der Contraste betreibt den Blog dasmaedchenimpark. Außerdem engagiert sie sich in der Föderation deutschsprachiger Anarchist*innen (FdA). GWR-Praktikant Emilio Backmann und GWR-Redakteur Bernd Drücke sprachen mit ihr über Aktivismus, Kommuneleben und die Zukunft anarchistischer Printmedien. (GWR-Red.)
Bernd Drücke: Regine, du bist politisch und sozial sehr aktiv. Wie bist du aufgewachsen? Wie fing alles an? Was hat dich politisiert?
Regine Beyß: Ich kann mich erinnern, dass mich die globale Ungerechtigkeit schon früh umgetrieben hat. Aber ich hatte damals andere Lösungsstrategien als heute. Ich habe zum Beispiel ehrenamtlich bei einer Tafel, später bei einer Suppenküche geholfen. Bei uns zu Hause wurde früher auch viel über Politik diskutiert, ich hatte da schon einen Zugang und Interesse. Ich bin in einer kleinen Gemeinde zwischen Aachen und Jülich groß geworden. Meine Eltern hatten einen landwirtschaftlichen Betrieb mit Hofladen.
Zum Journalisitk-Studium bin ich 2009 nach Dortmund gezogen, dort war ich bei Amnesty International aktiv. Richtig politisiert wurde ich aber erst, als 2011 die Occupy-Bewegung in Deutschland ankam. Zu der Zeit habe ich gerade mein Volontariat bei einer Lokalzeitung gemacht und war in einer Lokalgruppe von Attac. Wichtig war mir auch der Veganismus, über den ich zur Konsumkritik kam. Mit dem Engagement bei Occupy wurde die Kritik dann umfassender und radikaler. Und ich lernte ganz neue Menschen und politische Richtungen kennen. So kam ich auch zum ersten Mal mit dem Thema Anarchismus in Kontakt.
Bernd Drücke: Wie bist Du auf den Anarchismus gestoßen und was hat dich inspiriert, Anarchistin zu werden? Was verstehst du unter Anarchie? Wie sieht deine Utopie aus?
Regine Beyß: Ein anderer Aktivist aus der Occupy-Bewegung erwähnte bei einem Treffen mal das Thema Anarchismus. Und irgendwie bin ich da hellhörig geworden, weil ich davon noch keine richtige Vorstellung hatte – und auch die klassischen Vorurteile, wie sich herausstellte. Ich habe dann einige Texte im Netz gelesen und mir „Anarchie“ von Horst Stowasser in der Uni-Bibliothek ausgeliehen.
Als ich das las, fiel es mir sozusagen wie Schuppen von den Augen. Ich konnte meine persönlichen und politischen Ziele darin wiederfinden und wusste plötzlich: Das ist die Theorie, die mir bisher gefehlt hat. Der Anarchismus gab dem, was ich wollte und machte, einen Namen.
Inzwischen habe ich natürlich noch mehr gelesen, mich mit vielen Anarchist*innen ausgetauscht und Erfahrungen gesammelt. Zudem ist das Thema Feminismus bzw. Intersektionalität dazugekommen. Ich verbinde mit Anarchie vor allem Herrschaftsfreiheit, Selbstbestimmtheit und Selbstorganisation. Ich stelle mir vor, wie Menschen sich gegenseitig ein gutes Leben ermöglichen, weil jede*r das bekommt, was er oder sie braucht – und zwar bedingungslos. Ich bin davon überzeugt, dass erstens für alle genug da ist und wir uns zweitens so organisieren können, dass unsere positiven Eigenschaften wie Solidarität und Kooperation gefördert werden. Ich glaube nicht, dass der Mensch von Natur aus gut oder böse ist. Ich glaube, wir sind beides. Aber dann sollten wir doch unser Gesellschafts- und Wirtschaftssystem so gestalten, dass wir unsere guten Seiten zeigen können, also z.B. solidarische Ökonomie statt Kapitalismus, und Konsens statt Mehrheitsentscheidungen.
Bernd Drücke: Wie haben deine Eltern reagiert, als sie gemerkt haben, dass du Anarchistin bist?
Regine Beyß: Ich glaube, meine Eltern hoffen immer noch, dass das eine Phase ist. Wir haben auch nie wirklich darüber gesprochen. Aber sie lesen meine Blog-Artikel und da schreibe ich ja häufiger über Anarchismus. Sie machen sich Sorgen, dass ich mir damit mein Leben verbaue. Aber ich konnte sie insofern beruhigen, als dass ich ja eh kein Leben anstrebe, in dem ich meine anarchistischen Überzeugungen nicht leben kann, also z.B. eine Karriere im öffentlichen Dienst oder so.
Bernd Drücke: Du bist organisiert in der FdA. Was will diese Föderation deutschsprachiger Anarchist*innen? Wie ist sie entstanden? Wieviele FdA-Gruppen gibt es? Wie sieht euer Selbstverständnis aus?
Regine Beyß: In der FdA vernetzen sich anarchistische Gruppen und Einzelpersonen aus dem deutschsprachigen Raum. Die erste Föderation dieser Art gab es schon Anfang des 20. Jahrhunderts, damals hieß sie Anarchistische Föderation Deutschlands. Zwischen den beiden Weltkriegen gab es dann die Föderation Kommunistischer Anarchisten Deutschland (FKAD). Daneben organisierten sich immer auch Arbeiter in der Freien Arbeiter-Union (FAU).
Nach dem Zweiten Weltkrieg gab es bis 1989 keine Föderation mehr, dafür autonome Kleingruppen, weiterhin die FAU, die Graswurzelrevolution oder auch das Projekt A von Horst Stowasser. 1989 wurde dann wieder eine Initiative für eine anarchistische Föderation in Deutschland gegründet, die 1991 auch in die Internationale der Anarchistischen Föderationen aufgenommen (IFA) wurde. Trotzdem scheiterte dieser Versuch, eine Föderation aufzubauen.
Um die verbleibenden Kontakte nicht abreißen zu lassen, verblieben einige Aktivist*innen im Forum deutschsprachiger Anarchist*innen (FdA).
Ab 2009 kamen neue und regelmäßige Aktivitäten in Gang, also Treffen, gemeinsame Aktionen und die Zeitschrift Gaidao. Seit 2013 heißt das Netzwerk Föderation deutschsprachiger Anarchist*innen (FdA).
Aktuell sind rund 25 Gruppen föderiert. Praktisch geht es darum, sich auszutauschen, zu vernetzen und im Sinne der freien Vereinbarung gemeinsam aktiv und sichtbar zu werden, um dem Ziel einer herrschaftsfreien Gesellschaft näher zu kommen.
Bernd Drücke: Der Anarchismus fristet in Deutschland ein Nischendasein. Wo siehst du die Schwächen des Gegenwartsanarchismus? Und was müsste sich ändern, damit er stärker als bisher zu einer gesellschaftsverändernden Kraft wird?
Regine Beyß: Ich glaube, generell macht allen linken Bewegungen der Erfolg des Neoliberalismus zu schaffen, also dass wir von klein auf Wettbewerb, Konkurrenz und Individualismus eingeimpft bekommen und nichts anderes mehr vorstellbar zu sein scheint. Es ist schwer, sich noch auf Solidarität, Kooperation und Kollektivität zu berufen, weil diese Werte kaum noch irgendwo auftauchen. Natürlich spielen gerade beim Anarchismus immer noch die Klischees eine Rolle, die auch seine historische Belastung widerspiegeln.
Abgesehen davon habe ich aber den Eindruck, dass sehr viele Menschen, die sich politisch engagieren, viel mit den Prinzipien des Anarchismus anfangen können und teilweise auch danach handeln, ohne sich explizit Anarchist*innen zu nennen. Und bei Veranstaltungen, die ich z.B. in Dortmund und Kassel miterlebt habe, nehmen die Berührungsängste ab – so mein Eindruck. Trotzdem führen wir ein Nischendasein, das stimmt.
Ich denke, wir sollten stärker versuchen, uns aus der eigenen Szene heraus zu bewegen, öffentlich Stellung beziehen und uns in Diskussionen einmischen.
Gerade in einer Zeit, wo die Menschen von Politiker*innen und Parteien enttäuscht sind und sich nicht mehr vertreten fühlen, bietet der Anarchismus eine wunderbare Alternative.
Emilio Backmann: Du betreibst den Blog dasmaedchenimpark.org. Gab es einen besonderen Anlass, oder Grund für dich, mit diesem Blog anzufangen? Und wie kam es zu diesem Namen?
Regine Beyß: Ganz am Anfang habe ich über Veganismus gebloggt, wie wahrscheinlich ganz viele andere Menschen auch. Damals habe ich gerade mein Volontariat absolviert und wollte darüber hinaus noch über dieses Thema schreiben – einfach, weil es mir Spaß gemacht hat und ich anderen Menschen einen Einblick geben wollte. Mit dem politischen Aktivismus nahmen auch die Themen zu, über die ich schreiben wollte.
Und plötzlich ging es um Demonstrationen, Aktionen, Kapitalismuskritik, Antirassismus, Demokratie und so weiter. Das Mädchen im Park ist eigentlich eine Figur aus dem Buch „Kapitalismus aufbrechen“ von John Holloway. Es geht darum, dass ein Mädchen sich entscheidet, im Park ein Buch zu lesen, statt zur Arbeit zu gehen, und damit schon einen revolutionären Akt leistet. Diesen Gedanken der alltäglichen Revolte fand ich spannend und ich konnte mich damit auch identifizieren. Als ich 2014 in die Villa Locomuna einzog, startete ich den Blog unter diesem Namen neu.
Bernd Drücke: Du bist Redakteurin der Contraste. Diese überregionale „Monatszeitung für Selbstorganisation“ wurde 1984 als Wandelsblatt und Sprachrohr von selbstverwalteten Betrieben und Kollektiven gegründet. Nach dem plötzlichen Tod des hauptamtlichen Contraste-Redakteurs Dieter Poschen 2013 erschien sie zunächst unregelmäßig und es sah so aus, als würde sie eingestellt. Heute macht sie wieder einen lebendigen Eindruck. Wann und wie kamst du dazu? Wie schätzt du die Situation und die Perspektiven der Contraste und anderer alternativer Printmedien ein?
Regine Beyß: Das war Zufall. Die Contraste-Redaktion traf sich in Kassel, bei uns in der Kommune, zu ihrem Winterplenum. Diese Verbindung von Journalismus und Selbstorganisation – da musste ich mal vorbeischauen. Seitdem bin ich Redaktionsmitglied. Die Situation der Zeitung ist sehr prekär. Eine Redakteurin arbeitet hauptamtlich für unseren gemeinnützigen Verein, alle anderen arbeiten ehrenamtlich. Honorare für Texte bezahlen wir keine. Das wünschen wir uns natürlich anders.
Bei alternativen Medien kommen einige Dinge zusammen. Sie müssen mit vielen anderen Angeboten konkurrieren, sie haben keine allzu große Reichweite, sie haben wenig finanzielle und personelle Ressourcen – das ist ein Teufelskreis. Aber ich glaube, dass eine solche Gegenöffentlichkeit sehr wichtig ist. Und dass wir nicht aufhören dürfen, Geschichten von Selbstorganisation und Alternativen zu erzählen. Vielleicht müssen wir etwas an unseren Formaten oder an unseren Strukturen ändern, aber ich persönlich bin ja immer noch ein großer Fan von gedruckten Zeitungen.
Bernd Drücke: Ich auch. Leider sind ja seit dem „Siegeszug“ des Internets viele Bewegungszeitschriften verschwunden. Der Schwarze Faden, der ab 1980 eine wichtige anarchistische „Vierteljahresschrift für Lust und Freiheit“ war, wurde 2004 eingestellt und die ab 1977 erschienene anarchosyndikalistische Direkte Aktion (DA) erscheint seit Mai 2016 nicht mehr als Printmedium. Wie siehst du angesichts der allgemeinen Printmedienkrise die Perspektiven für alternative und anarchistische Monatszeitschriften wie Graswurzelrevolution, Contraste und Gaidao?
Regine Beyß: Unsere gemeinsame Stärke ist sicherlich, dass wir über Dinge berichten, die in den so genannten Mainstream-Medien nicht auftauchen. Und vielleicht wird das Interesse daran ja im Zuge der multiplen Krisen wieder größer? Ansonsten kann ich nur für die Contraste sprechen. Die gibt es ja schon seit mehr als 30 Jahren. Das spiegelt sich auch in der Leser*innenschaft wider.
Für uns wäre es vor allem wichtig neue Zielgruppen zu erreichen, die noch nicht so Teil der Szene sind, die all die Projekte, über die wir berichten, noch nicht kennen. Leider fehlen uns dazu oft die Ressourcen. Aber wir versuchen jetzt z.B. in den sozialen Medien sichtbarer zu werden und auch die Homepage soll bald attraktiver gestaltet werden. Bei uns können Menschen auch selber Artikel vorschlagen und schreiben, das ist viel partizipativer als bei anderen Zeitungen. Insofern hat die Contraste inhaltlich und konzeptionell einiges zu bieten, wir bräuchten aber mehr Abonnements und Spenden. Ich bin der Meinung, dass Printmedien trotz Internet überleben können, weil sie einfach ein anderes Produkt sind. Radio gibt es ja auch noch, trotz TV und Internet.
Bernd Drücke: Du lebst in der Kommune Villa Locomuna in Kassel. Wie ist sie entstanden? Wie ist das Leben in dieser Kommune organisiert?
Regine Beyß: Die Villa Locomuna wurde 2000 gegründet. Ich selbst wohne erst seit Oktober 2014 hier, kann also von der Gründungszeit nicht berichten. Einige Gründungsmitglieder leben aber noch hier. Wir sind Teil des Interkomm-Netzwerkes in der Region Kassel und auch des Kommuja-Netzwerkes. Darin organisieren sich politische Kommunen aus dem deutschsprachigen Raum. Politisch heißt in dem Fall, dass wir gemeinsame Ökonomie praktizieren, alle Entscheidungen im Konsens treffen, ein linkes Selbstverständnis haben und auch mit sozialen Themen und unserer Kommunikation beschäftigen.
In der gemeinsamen Alltagsökonomie werfen wir all unsere Einkommen zusammen und wirtschaften damit dann gemeinsam. Das funktioniert sehr gut. Wir tauschen uns über unsere Ausgaben aus und auch darüber, wie wir unsere Zeit verbringen. Geld- und Zeitökonomie gehören für uns zusammen. Ausgaben über 150 Euro kündigen wir an und diskutieren sie bei Bedarf.
Zurzeit leben 13 Menschen in der Gemeinschaft, es können aber noch mehr werden. Im Monat haben wir sechs Treffen, jeweils zwei Finanzplena, zwei Orgaplena und zwei Sozialplena. Außerdem essen wir unter der Woche abends zusammen, eine Person kocht immer für den Rest der Gruppe. Und wir haben im Jahr dann meistens noch zwei Intensivwochenenden, Bautage und gemeinsame Ausflüge.
Emilio Backmann: Hast du gezielt nach einer Kommune gesucht? Hattest du vorher schon den Gedanken, dass das Kommuneleben etwas für dich sein könnte?
Regine Beyß: Haha, nein, eigentlich nicht. Vorher hatte ich eine eigene Wohnung in Dortmund – also zur Miete. Das mochte ich auch ganz gern. Aber ich hatte das Gefühl, dass mir die politische Arbeit „draußen“ nicht mehr reicht. Ich wollte, dass sich das auch in meinem Alltag stärker niederschlägt und ich konkret Dinge anders mache, die über so was wie bewussten Konsum oder so hinausgehen. Ich habe dann 2014 beim ersten Interkommune-Seminar bei den Gastwerken in Escherode mitgemacht, auch eine Kommune aus dem Interkomm-Netzwerk.
Dort haben wir an einem langen Wochenende viele Workshops zu Kommune-Themen gemacht und uns den Lossehof in Oberkaufungen, die Kommune Niederkaufungen und auch die Villa Locomuna angeschaut. Dort wurden gerade vor allem neue junge Leute gesucht. Das hat mich nicht mehr losgelassen. Und wenige Wochen später hatte ich auch schon mein Kennenlerngespräch!
Emilio Backmann: Was unterscheidet für dich am stärksten das Leben in einer Kommune etwa vom Wohnen mit der Familie, oder alleine in einer eigenen Wohnung?
Regine Beyß: Wir haben hier einen bestimmten Ansatz des Zusammenlebens und wir haben uns alle bewusst dafür entschieden. Das heißt, wir wohnen nicht nur aus praktischen Gründen zusammen, wie zum Beispiel in den meisten WGs.
Ich habe mich auf diese Gemeinschaft eingelassen, das ist so etwas wie meine Wahlverwandtschaft. Aber gleichzeitig hat das für mich gesellschaftliche Relevanz, weil wir hier Dinge praktizieren, die für mich wegweisend sind für eine andere Wirtschafts- und Gesellschaftsform. Die gemeinsame Ökonomie ist da mit der wichtigste Punkt. Das machen Familien zwar teilweise auch, aber ich denke, dort spielen auf jeden Fall Hierarchien eine stärkere Rolle.
Wir begegnen uns hier alle auf Augenhöhe, jede*r hat Mitspracherecht, jede*r kann seine oder ihre Meinung, Bedürfnisse und Fähigkeiten einbringen. Da ist es auch egal, ob ich erst zwei oder schon 15 Jahre hier wohne. Wir tauschen uns über alles Mögliche aus und finden gemeinsame Lösungen, z.B. über unser berufliches Tätigsein, über finanzielle Fragen, über persönliche Konflikte, Krisen usw. Außerdem stehen mir hier viele Dinge zur Verfügung, die ich alleine nicht hätte, z.B. ein Auto, eine Werkstatt, ein Büro, ein großer Garten... und die vielen Fähigkeiten meiner Mitkommunard*innen. Es gibt Momente, da vermisse ich meine eigene Wohnung, weil zu viel los ist und ich mich gerne zurückziehen möchte. Ich bin tatsächlich auch eher wegen des politischen Konzeptes in die Kommune eingezogen, nicht so sehr, um mein Bedürfnis nach Gemeinschaft zu befriedigen. Aber insgesamt passt mir die Mischung aus Gemeinschaft und Autonomie hier ziemlich gut.
Emilio Backmann: Habt ihr als Kommune eine große Außenwirkung, oder meinst du, dass die Bewegungen eher durch Medien wie die Contraste, für die du schreibst, oder durch Organisationen wie die FdA in die Breite getragen werden können?
Regine Beyß: Es braucht auf jeden Fall beides. Kommunen sind für mich ein wichtiger Ort, weil sie in der Praxis zeigen, wie Menschen sich selbstbestimmt organisieren können und sich so unabhängiger machen können vom kapitalistischen System. Auf der anderen Seite nimmt das Leben in einer Kommune natürlich viel Zeit in Anspruch, die mensch nicht mehr in politische Arbeit „draußen“ stecken kann. Nichts desto trotz halte ich die Strategie für sehr sinnvoll, vor allem wenn sie sich immer mehr ausbreitet und die Kommunen sich auch überregional miteinander vernetzen.
In Kassel selbst werden wir sichtbar, wenn wir uns in Initiativen oder in der Nachbarschaft einbringen. Und es kommen auch immer wieder Anfragen von Medien, über uns zu berichten. Das hat dann schon größere Wirkung. Zudem organisieren wir weiterhin die Interkommune-Seminare und alle zwei Jahre ein Festival, das „Los geht‘s“, für Menschen, die Interesse an Kommune haben.
Meiner Meinung nach braucht es diese Kombination aus Projekten und Gegenöffentlichkeit. Wir sollten uns in gesellschaftliche Debatten einmischen – und wenn wir dann gleich auch eine funktionierende Alternative anbieten können, ist das doch wunderbar.
Bernd Drücke: Leider haben auch der Neofaschismus und rassistische Parteien wie die AfD Zulauf. Wie schätzt du die Situation antifaschistischer, sozialer Bewegungen insbesondere auch in Kassel und Dortmund ein? Wo siehst du in den nächsten Jahren sozial, politisch und ökologisch die größten Herausforderungen?
Regine Beyß: Ich finde solche „Einschätzungen“ immer schwierig. Woran soll ich Erfolge festmachen? Woran Misserfolge? Sind wir stark oder sind wir schwach im Vergleich zu rechten Bewegungen?
Das weiß ich einfach nicht. Da ich seit über zwei Jahren nicht mehr in Dortmund wohne, fällt es mir schwer, dazu etwas zu sagen. Ich verfolge aber mit großem Interesse die Aktivitäten rund um das anarchistische Dortmunder Buch- und Kulturzentrum Black Pigeon und die Gruppen, die dort aktiv sind.
In Kassel gab es auch einen Ableger von Pegida, der konnte aber zum Glück nicht richtig Fuß fassen – auch weil kontinuierlich Gegenkundgebungen und Proteste organisiert wurden. Der NSU-Komplex ist auch ein großes Thema, weil Halit Yozgat hier ermordet wurde. Die AfD hat es in Kassel nicht leicht. Entweder es fliegen Torten oder die Veranstaltungen werden gestört. Das funktioniert ganz gut.
Aber auch wenn wir rechte Aktivitäten nicht unkommentiert lassen sollten und ich gerne Zeichen dagegen setze, sollte das nicht automatisch Priorität haben. Ich möchte nicht alles andere stehen und liegen lassen, nur weil die AfD meint, mal wieder irgendwo rassistischen Blödsinn zu verzapfen. Ich hoffe ja auch immer noch, dass sich das Problem AfD mit der Zeit wieder von selbst erledigt. Vielleicht bin ich da aber zu naiv. Insofern stecke ich – wie viele andere wahrscheinlich auch – in einer Zwickmühle zwischen sichtbarem Protest einerseits und Aufmerksamkeit entziehen andererseits.
In Kassel habe ich das Gefühl, dass die sozialen und antifaschistischen Bewegungen ganz gut aufgestellt sind. Aber ich lebe da auch in einer Blase. Im Verhältnis sind wir sicherlich in der Minderheit und noch nicht wirksam genug. Aber auch da ist wieder die Frage: Wie messe ich Wirksamkeit? Vor allem dauert aber gefühlt alles immer viel zu lange, wenn es zum Beispiel um die Folgen des Klimawandels geht.
Die größte Herausforderung ist sicherlich, für alle sozialen, politischen und ökologischen Bewegungen an Schlagkraft, Sichtbarkeit und Bedeutung zu gewinnen. Für mich gehört das auch alles zusammen. Wie können wir eigene autonome Strukturen aufbauen?
Wie können wir uns wieder die Mittel und Ressourcen aneignen, die wir für ein gutes Leben brauchen und sie kollektiv verwalten? Und wie können wir Menschen für uns gewinnen, die sich bisher noch auf staatliche Institutionen verlassen?
Bernd Drücke: Was können wir tun, um dem Ziel einer solidarischen, herrschaftslosen Gesellschaft näher zu kommen?
Regine Beyß: Ich denke, es ist wichtig, sich mit anderen zu organisieren und eigene Strukturen aufzubauen, die uns ein selbstbestimmtes und herrschaftsfreies Leben ermöglichen. Diese Strukturen sollten offen sein für Interessierte, sie sollten in allen möglichen Zusammenhängen bekannt gemacht werden. Ich meine so etwas wie Kommunen, solidarische Landwirtschaft, Kollektivbetriebe, Solidarökonomien und so weiter.
Wir sollten uns nicht davor scheuen, in der Öffentlichkeit klar Stellung zu beziehen – mit Namen und Gesichtern. Zumindest hierzulande geht das im Moment ja noch. Es besteht natürlich die Gefahr, dass die Repressionen in Zukunft zunehmen, wenn überall rechte Regierungen an die Macht kommen und im Zuge dessen die Öffentlichkeitsarbeit schwieriger und gefährlicher wird. Dann müssen wir unsere Kommunikationsstrategien ändern. Viele bereiten sich darauf ja auch schon vor und bauen sichere Kommunikationswege auf.
Bernd Drücke: Möchtest du den Leser*innen noch etwas mit auf den Weg geben, was dir in diesem Interview bisher zu kurz gekommen ist?
Regine Beyß: Auf viele Fragen haben wir im Moment vielleicht noch keine zufriedenstellenden Antworten. Aber das sollte uns nicht davon abhalten, Fragen zu stellen. Die Dinge können nicht so bleiben, wie sie sind. Punkt.
Und wenn mir jemand sagt, dass meine Ideen unrealistisch seien oder nicht funktionieren würden, dann kann ich nur entgegenhalten: Das System, in dem wir gerade leben, funktioniert doch auch vorne und hinten nicht. Keine Ahnung, ob wir was anderes hinkriegen oder grandios scheitern werden. Aber versuchen sollten wir es.
Oh je, das war jetzt ein bisschen zu pathetisch. Aber manchmal brauche ich sowas, um den Mut und die Motivation nicht zu verlieren.
Emilio Backmann und Bernd Drücke: Herzlichen Dank!
Das Interview wurde im April 2017 per E-Mail geführt.
Weitere Infos:
https://dasmaedchenimpark.org/
Artikel aus: Graswurzelrevolution Nr. 419, Mai 2017, www.graswurzel.net