Gilt in der Anarchie die Straßenverkehrsordnung?

Ein Gespräch mit dem Buchautor Jochen Knoblauch

Der Autor und Blogger Jochen Knoblauch (geboren 1954 in Berlin) gehört seit Jahrzehnten zu den umtriebigen Anarchisten im deutschsprachigen Raum. Knobi war Mitherausgeber des „Schwarzen Kalenders“ und der „anarchistischen session“. Er betreibt den Blog „knobi-der-buechernomade“, arbeitet u.a. bei der Graswurzelrevolution mit und ist Herausgeber diverser Bücher und Broschüren. Mit ihm sprach am 12. September 2015 in Berlin GWR-Redakteur Bernd Drücke. (GWR-Red.)

 

Graswurzelrevolution: Knobi, wie bist Du aufgewachsen? Wie verlief Deine Sozialisation? Und wie bist Du „politisch drauf gekommen“?

 

Jochen Knoblauch: Eine Rolle spielte mein „Elternhaus“, wobei ich meinen leiblichen Vater nie kennengelernt habe. Meine Mutter war ziemlich liberal - alle Kinder wurden nicht getauft, und waren im übrigen von verschiedenen Vätern. Zur damaligen Zeit ein Skandal. Auf der anderen Seite gab es einen gewalttätigen, kleinkriminellen Trinker, unseren Stiefvater. Aber im Prinzip bin ich in einem Frauenhaushalt aufgewachsen, und selbst später nach WG-Erfahrung und Kollektiv wieder mit meiner Liebsten und unserer Tochter in einem weiteren Frauenhaushalt gelandet. Das prägt. Selbst noch Mitte der 1960er Jahre hatte unsere Mutter es schwer uns durchzubringen und so habe ich noch Hunger erlebt. Unsere Mutter liebte so Kalendersprüche, Lebensweisheiten und einen hat sie mir dann als Jugendlichen, als ich früh Ärger mit der Polizei hatte, mal eindringlich nahe gebracht: „Junge, du kannst alles machen, du darfst dich nur nicht erwischen lassen.“ Nun, in späteren Jahren habe ich mich dann auch seltener erwischen lassen.

In der Schule habe ich dann eine erste Gruppe mitgegründet, die auch eine kleine Schülerzeitung und Flugblätter herausbrachte, und die sich an dem damaligen Schülerstreik als einzige Hauptschüler mit beteiligten. Und dann gab es noch eine Kneipe, die Apo-Theke, wo sich in Berlin immer diverse Leute trafen, Schülergruppen, Kommunisten, Anarchisten, Kiffer und andere. Mit denen kamen wir oft ins Gespräch. Und dann war auch schon recht früh die anarchistische Richtung für mich klar.

 

GWR: Wann war das?

 

Knobi: 1970 bin ich von der Hauptschule abgegangen, der Schülerstreik war Ende 1969. In Kneipen, Jugendzentren usw. bin ich schon recht früh unterwegs gewesen. Als Kind aus „prekären Verhältnissen“ – wie es heute so schön heißt – waren wir früh auf uns selbst gestellt.

 

GWR: Du hast in West-Berlin die „wilden 69er“ und 70er mitgekriegt? Wann wurdest Du aktiv in der Berliner Szene?

 

Knobi: Dadurch, dass ich Jahrgang 1954 bin, ist 68 und davor nicht so präsent. Aber dadurch, dass ich in Charlottenburg groß geworden bin und einen Teil meiner Jugend dort verbracht habe, und Charlottenburg damals das Zentrum der Studentenbewegung war, also: Stuttgarter Platz, da wo die Kommune 1 lebte, die meisten Demonstrationen am Ku‘damm stattfanden, die oft über die Kaiser-Friedrich-Straße und so weiter führten, habe ich viele Demos hautnah mitgekriegt.

Als Schüler bin ich schon mitgelaufen. Da war ich schon relativ nah dran und dabei, auch wenn ich nicht immer alles gleich verstanden habe, worum es da genau ging.

 

GWR: Gab es da bestimmte Erlebnisse, wo Du sagen würdest, das waren prägende Ereignisse in meinem Leben?

Dinge, die vielleicht auch eine bestimmte Richtung in Deinem Leben noch verstärkt haben?

 

Knobi: Der Vietnam-Krieg und die Demonstrationen dagegen waren prägend. Die Präsenz von Polizei und Bürgern, das war schwierig. Ein prägendes Ereignis war vielleicht in dem Sinne gar nicht so politisch: die Haare wurden immer länger, das Bürgertum und die Polizei waren nicht gerade unsere Freunde.

Es ging ziemlich hart zur Sache. Als Schüler bin ich zweimal verprügelt worden auf der Straße, wegen der langen Haare. Auf der anderen Seite gab es schon die Subkultur der Langhaarigen, wo man das Gefühl hatte, dass das gar nicht so wenige waren.

Wenn wir alle auf einem Haufen waren, dann fühlten wir uns schon relativ stark.  Da blieb einem eigentlich nichts anderes übrig, als neben der reinen Kulturszene auch in die Polit-Szene einzusteigen; das war eng verbunden.

Beeinflusst haben mich auch die Diskussionen mit StudentInnen im damaligen RC (Republikanischer Club; Treffpunkt des SDS), Anfang der 1970er Jahre dann, als ich in einer WG in Schöneberg lebte, die Auseinandersetzung mit der Frauenbewegung usw.

 

GWR: Bekannt bist Du als Anarchist. Viele Menschen wissen sicher immer noch nicht, was Anarchie tatsächlich ist. Oder sie denken, Anarchie sei Chaos und Terror und Anarchisten seien Bombenwerfer. Was verstehst Du darunter?

 

Knobi: Ja, auf alle Fälle keine Bomben werfen. Es gab mal eine Zeit um 1900, wo es eine solche Richtung im Anarchismus gab, die sog. „Propaganda der Tat“.  Meine erste Begegnung mit Anarchisten hatte ich durch ein Buch von John Henry Mackay, ein deutsch-schottischer Dichter, dessen Gedichte haben mich als Jugendlicher beeinflusst. Mackay war Zeit seines Lebens immer ein Gewaltfreier.

Deshalb war das für mich auch weniger klar, etwas mit Gewalt lösen zu können. Anarchie kann immer nur ein Weg sein, der gewaltfrei etwas verändern kann. Eine gewalttätige Lösung wäre immer nur vorübergehend und nicht längerfristig. Es geht ums Bewusstsein und weniger um momentane politische Änderung der Machtverhältnisse. Wenngleich das „revolutionäre“ West-Berlin der frühen 1970er Jahre eher martialisch war und von „bewaffneten Gruppen“ dominiert war.

 

GWR: John Henry Mackay ist 1933 im Alter von 69 Jahren in Berlin-Charlottenburg gestorben. Er war ein Vertreter des Individual-Anarchismus. Würdest Du sagen, dass Du Dich als Individual-Anarchist verstehst? Was wäre Individual-Anarchismus?

 

Knobi: Das ist schwierig. Anarchismus besteht aus diversen Strömungen. Neben dem genannten Individual-Anarchismus gibt es den Anarcho-Syndikalismus, den kollektivistischen Anarchismus, und so weiter und so fort, viele verschiedene. Aber das sind Schubladen. Ich bin nicht dafür, diese Schubladen immer aufzutun. Der Individual-Anarchismus ist aufs Individuum bezogen. Ich würde aber sagen, dass der Anarchismus sich immer auf das Individuum, also auf die kleinste Einheit, bezieht. Von daher wären eigentlich alle Individual-AnarchistInnen. Aber diese Schubladen sind zu eng. Ich würde alles unter einen Begriff nehmen: Anarchismus, mit einem Ziel, der Anarchie. Und die sollten wir auch zusammen anstreben.

 

GWR: Von Mackay stammt ja auch dieses bekannte Anarchie-Gedicht (1), in dem er begründet, warum er sich als Anarchist versteht: „Ich will nicht herrschen, aber auch beherrscht nicht werden!“ Vielleicht ist das auch eine gute Zusammenfassung dessen, was wir als Selbstdefinition und Minimalkonsens aller Anarchistinnen und Anarchisten verstehen können?

 

Knobi: Ja. Bei den verschiedenen anarchistischen Strömungen ist das Ziel ja gleich: die Anarchie. Es gibt nur unterschiedliche Wege dahin. Der Individual-Anarchist sieht mehr die persönliche Veränderung als Weg. Der Anarcho-Syndikalismus sieht eher auf der Ebene der Arbeiterschaft den gewerkschaftlichen Kampf und dadurch die Veränderung. Aber das Ziel ist letztendlich das Selbe. Und darauf sollten wir uns konzentrieren. Ich finde es ist relativ egal, welchen Weg der Einzelne da jetzt geht. Das Ziel müssen wir vor Augen haben.

 

GWR: Du warst 1994 Mitgründer von „espero“ (Spanisch: „Ich hoffe“), dem 2013 mit Erscheinen der Nr. 77 eingestellten Rundbrief der Mackay-Gesellschaft. Kannst Du dazu etwas erzählen?

 

Knobi: „espero“ war eine kleine Zeitschrift, die aus der Mackay-Gesellschaft heraus entstanden ist, u. a. vom mittlerweile leider verstorbenen Uwe Timm. Es wurde damit versucht, ökonomische Fragen zu diskutieren. Ökonomie ist ein Thema, das bei AnarchistInnen oftmals unter den Tisch fällt. Die Diskussion wird oft nicht geführt. Da heißt es dann: „Kapitalismus ist scheiße, fertig, aus“. Aber wie Ökonomie aussehen könnte, darüber wird in libertären und anarchistischen Kreisen relativ wenig geredet, meiner Ansicht nach. Mit espero haben wir versucht, ein Forum zu schaffen, um darüber zu diskutieren, was aber, das würde ich im Nachhinein sagen, von der libertären Szene nicht so angenommen worden ist. Anarcho-Syndikalisten, Individual-Anarchisten und alle anderen bleiben da schon in ihren Ecken und da wird das Thema anscheinend nicht gerne diskutiert.

Uwe Timm hat zu ca. 90% die Redaktion gemacht und ich den technischen Teil: Layout, Druck, Versand usw. 

Nach ein paar unsäglichen Beiträgen – aus meiner Sicht – habe ich dann aufgehört, und Uwe Timm hat das Projekt dann eingestellt. Ein viertel Jahr später ist er gestorben. Ich finde es schade, dass das Projekt espero so einfach sang- und klanglos eingegangen ist.

 

GWR: Es gibt ja auch die sogenannten „Anarcho-Kapitalisten“. Was sagst Du zu diesen „Libertarians“, die meines Erachtens nicht anarchistisch, sondern extrem neoliberal und hierzulande eher am rechten Rand der FDP angesiedelt sind?

 

Knobi: „Anarcho-Kapitalismus“ ist für mich ein Konstrukt, das genau so fehl ist wie „National-Anarchismus“. Kapitalismus kann nichts mit Anarchie zu tun haben. Das sind zwei gänzlich verschiedene Werte und Systeme. Da kann es keinen Zusammenhang geben. Genauso wenig wie mit „National-Anarchismus“. Also, es widerspricht sich schlichtweg. „Anarcho-Kapitalismus“ ist eine Sache, die aus den USA kommt, die hauptsächlich eine ökonomische Freiheit in dem Maße fordert, wo Menschen auf der Strecke bleiben. Das kann nicht das Ziel des Anarchismus sein.

Die Anarchie kann ja nur die Freiheit für alle bedeuten, nicht nur von Einzelnen. Wahrscheinlich steuern wir eher darauf hin, dass die Konzerne, die immer größer werden, die immer mehr Macht erhalten, letztendlich das kapitalistische System zementieren. Aber die einzelnen Leute, denen die Konzerne gehören, das sind ja keine Anarchisten. Oder was haben die davon, andere Menschen zu unterdrücken und auszubeuten. Das geht für mich nicht zusammen.

 

GWR: Du bist auch Herausgeber und Autor von zahlreichen Büchern. Ein Bestseller ist der Band „Anarchismus - Eine Einführung“, den Du mit Hans-Jürgen Degen für die theorie.org-Reihe des Schmetterling-Verlags gemacht hast?

 

Knobi: Ich war froh, dass Hans-Jürgen Degen dabei war. Er ist ein noch älterer Hase als ich. Und das war gut so. Dass eine „Einführung“, es ist ja nicht die einzige, so gut läuft, freut uns. Das Buch soll für die Idee werben. Wir hoffen damit viele Menschen erreichen zu können.

 

GWR: Was sind Deine Lieblingsbücher?

 

Knobi: Das ist schwer zu sagen. Viele Bücher haben mich zu unterschiedlichen Zeiten begeistert und beeinflusst. Sehr imponierend war für mich von P. M. „bolo‘bolo“ von 1983 und auch viele seiner anderen Bücher, die danach herauskamen, wo es um eine Utopie geht, die sofort umsetzbar wäre, wenn die Leute sich bereit erklären in Großgemeinschaften zu leben.

Das klingt ein bisschen einfach, ist aber natürlich nicht so einfach. Ich fand das Buch sehr beeindruckend. Dann wäre vielleicht noch der „Planet des Ungehorsams“ von Eric F. Russell zu nennen. Eine kleine Sciencefiction-Kurzgeschichte, wo auch dieses Thema behandelt wird, obwohl das Wort Anarchie darin nicht vorkommt, aber eine gewaltfreie, herrschaftslose Gesellschaft besteht und die ganz einfach funktioniert, weil die Leute weder Unterdrückung hinnehmen noch Gewalt anwenden wollen. Und dadurch, dass sie das nicht wollen, funktioniert die Gesellschaft. Das ist sehr einfach gestrickt. So sind wir leider nicht, aber es ist ziemlich beeindruckend solche Texte zu lesen. Dass so etwas vielleicht funktionieren könnte, beflügelt die Phantasie.

 

GWR: Kannst Du etwas zu Deinen neuesten Büchern „Anarchismus 2.0“ (Schmetterling-Verlag) und „Marx versus Stirner“ (Edition AV) sagen?

 

Knobi: „Anarchismus 2.0“ war quasi die Fortsetzung zu dem Anarchismus-Einführungsband, wo wir wollten, dass die einzelnen Strömungen selber zu Wort kommen.  Ich denke, das ist ganz gut gelungen.

Das „Marx vs. Stirner“-Buch behandelt das alte Problem Individuum versus Masse und basiert darauf, dass man jetzt darüber redet, dass Anarchismus und Kommunismus zwei Brüder wären, die auch mitunter ganz gut zusammen gehen.

Mir fehlt beim Anarchismus oft die Abgrenzung zum Kommunismus. Der Anarchismus sollte viel mehr eigenständig sein. Und ein ganz alter Konflikt ist Marx versus Stirner, wobei Max Stirner diesen Konflikt nicht mitgekriegt hat, weil alles, was Marx und Engels gegen Stirner geschrieben haben, zu seiner Zeit [1806 bis 1856] nicht veröffentlicht wurde. Marx‘ Stirner-Kritik blieb unveröffentlicht und ist erst 1932 als „Die deutsche Ideologie“ in der Marx-Engels Gesamtausgabe in Moskau erschienen. Stirner selber hat diese Thesen nicht mehr mitbekommen und das ist vielleicht auch gut so, weil die nämlich arg polemisch waren. Mit dem Buch habe ich versucht, diese Sachen ein bisschen Aufzudröseln und im Sinne von Stirner dagegen zu schreiben. Es geht letztlich immer darum: Individuum contra Masse. Das Individuum und das Bewusstsein könnten wesentlich mehr zur Revolution beitragen als eine Masse, die hinter einer Fahne her rennt, aber letztlich kein Bewusstsein hat.

Das haben wir ja auch bei zig Revolutionen erlebt, wo zwar die Masse da war, aber letztendlich die Männer z.B. trotzdem ihre Frauen verprügelt haben und nicht das Bewusstsein hatten, was sie hätten haben sollen. Das ist eine Problematik, die ich bearbeiten wollte.

 

GWR: Du warst an vielen Projekten beteiligt, zum Beispiel am Aurora-Buchvertrieb. Du warst Verleger und hast viele Erfahrungen gemacht, hast immer viel mit Büchern zu tun und machst heute noch den Internetblog http://knobi-der-buechernomade.blog.de, wo Du Bücher rezensierst und gesellschaftliche Entwicklungen hauptsächlich zum Thema Anarchismus kommentierst. Vielleicht erzählst Du ein paar Geschichten, wo Du denkst, dass man da auch heute noch etwas raus ziehen kann, als Erfahrung?

 

Knobi: Ich war als Jugendlicher schon ein Bücherfreund. Ich habe immer viel gelesen, obwohl ich in meiner ersten Zeit, nach abgebrochener Lehre, Jobs und so weiter, in zwei Kneipenkollektiven [in West-Berlin und Essen] gearbeitet habe. Aber dann ging es zurück nach Berlin, wo ich im Kollektiv des Regenbogen-Buchvertrieb gearbeitet habe. Darauf folgte der Aurora-Buchvertrieb und Buchladen, bis 1990. Bücher haben mich immer begleitet. Manchmal sind sie eine Last, weil es zu viele sind.  Ich finde es wichtig, Bücher zu verbreiten. Es geht vielleicht auch nicht so sehr um die Bewertung von Büchern, ob die jetzt 100% gut oder schlecht sind. Ich bin immer dafür, kleine Verlage zu unterstützen, und Bücher, die einen irgendwie weiter bringen können zu empfehlen. Ich hoffe, dass mir das manchmal gelingt mit dem Blog.

 

GWR: Der Karin Kramer Verlag war seit Anfang der 1970er Jahre im deutschsprachigen Raum einer der maßgeblichen Verlage in Sachen Anarchismus. Er ist hervorgegangen aus der 1968 in West-Berlin gegründeten Kommune und neoanarchistischen Zeitung „Linkeck“. Durch den Tod von Karin und kurz darauf von Bernd Kramer im Jahr 2014 ist der Verlag heute de facto nicht mehr wirklich existent, auch wenn die Sozialistische Verlagsauslieferung (SoVA) noch viele Kramer-Titel im Programm hat. Es gibt die Initiative „Freundeskreis Bernd und Karin Kramer [Verlag] e.V.“, an der Du beteiligt bist. Ihr wollt weiter machen und den Verlag wieder beleben?

 

Knobi: Der Freundeskreis versucht das Andenken an beide, Bernd und Karin, aufrecht zu erhalten, die ja nicht nur Verleger waren, sondern auch originelle Menschen. Wir treffen uns monatlich und wollen versuchen, das kulturelle und politische Erbe zu pflegen. Der Kreis ist gemischt, von Literaten bis Anarchos, eine bunte Mischung. Das Verlagsarchiv, das leider nicht komplett ist, wurde durch die Bibliothek der Freien gesichert. Hier muss noch einiges aufgearbeitet werden. Was anderes sind die Bücher des Karin Kramer Verlages. Hier gibt es unterschiedliche Konzepte zur Verlagsarbeit, aber trotzdem wird versucht einen Teil der Kramer-Bücher lieferbar zu halten. Eventuell wollen wir auch neue Bücher herausgeben. Das ist aber noch ein weiter Weg. Von den über 300 Kramer-Titeln sind noch etwa 150 lieferbar. Was das Verlagsprogramm ausgemacht hat, hauptsächlich Anarchismus, aber auch Literatur, das kann ich mir gut vorstellen, dass es ein Kollektiv gibt, das diese Idee weiterführt.

 

GWR: Das ist eine gute Nachricht. Wie schätzt Du derzeit die aktuelle Situation des Anarchismus ein, international, aber auch in Bezug auf die Bundesrepublik und konkret auf Deine Heimatstadt Berlin?

 

Knobi: Das ist schwierig. Also, international kenne ich mich nicht so gut aus, weil ich ein linguistisches Faultier bin und mein Englisch sehr schlecht ist. Dementsprechend bin ich schon auf Deutsch angewiesen. Berlin hat vielleicht immer ein bisschen schon den Vorteil gehabt, dass hier immer relativ viele Leute sind, die sich für das Thema interessieren und es von daher diverse Gruppen gibt.

Es ist manchmal schwierig, die Anarchistinnen und Anarchisten in Berlin alle unter einen Hut zu kriegen. Aber es gibt verschiedene Projekte, die das versuchen, wie zum Beispiel die Bibliothek der Freien (2). Das ist eine anarchistische Bibliothek, die auch Veranstaltungen macht. Oder Ralf Landmessers A-Laden, der regelmäßig Veranstaltungen in der anarchosyndikalistischen Kultur- und Schankwirtschaft BAIZ (3)  macht. Es ist relativ viel los und es sind auch jüngere Leute viel unterwegs zu dem Thema, aber ich bin da jetzt auch nicht mehr überall dabei.  Ich denke aber es geht voran, auch deutschlandweit.

 

GWR: Welche Perspektiven der Anarchie und des Anarchismus siehst Du?

 

Knobi: Das ist eine interessante Frage. Eine der schönsten Fragen fand ich ja immer: Gilt in der Anarchie die StVO, also die Straßenverkehrsordnung?

Das ist eine sehr schöne Frage. Da kann sich jeder einmal drüber Gedanken machen, ob das so funktioniert.

Die Perspektive sehe ich weniger darin, dass zehntausend schwarz Gekleidete mit schwarzen Fahnen durch die Straßen ziehen, als vielmehr die Sachen, die wir eigentlich schon seit den 1970er Jahren immer wieder versucht haben, in Bürgerinitiativen, in Widerstandsgruppen libertäre Werte einzubringen. Das ist zum Beispiel Basisdemokratie, einen respektvollen Umgang miteinander, dass man versucht, Herrschaftslosigkeit auch schon im Alltag unterzubringen. Auch Gewaltfreiheit natürlich, was mit manchen Menschen vielleicht ein bisschen schwierig ist, etwa bei Demos. Da müssen wir durch, da müssen wir noch dran arbeiten. Aber da sehe ich, dass viele anarchistische, libertäre Ansätze in der Gesellschaft durchaus schon erkennbar sind. Zum Beispiel auch bei der Occupy-Bewegung.

Da sind viele Sachen schon vorhanden, die libertär sind, die man gar nicht mit der schwarzen Fahne als anarchistisch deklarieren muss. Das ist ein Fortschritt. Ich hoffe, dass da noch mehr entsteht, dass sich die Gesellschaft von sich aus wandelt, dass Ungerechtigkeiten, die durch das System existieren, noch mehr aufgedeckt werden und sich immer mehr Leute ohne schwarze Fahne daran machen dieses System zu bekämpfen.

 

GWR: Möchtest Du noch etwas ergänzen, was Dir fehlt?

 

Knobi: Das ist schwierig. Es fehlt ja noch viel. Wir sollten von dem Schubladendenken wegkommen. Das wäre mir ein Anliegen. Und dass man mehr darauf achtet wie die Gesellschaft miteinander umgeht. Leute, die im Mietshaus wohnen, wenn die sich einfach mal überlegen, wie Horst Stowasser damals schon gesagt hat: „Anarchie ist machbar, Frau Nachbar“. Wie gehen wir also miteinander um, ohne sich gleich politisch einzuordnen? Wie gehe ich mit meinem Nachbarn um? Man muss nicht als der verschrieene Anarchist da stehen, sondern man kann sich ja durchaus mit dem Nachbarn unterhalten, auf ihn zugehen, bis der dann merkt: „Ach, guck an, dieser Anarcho-Typ, der ist ja doch nicht der Bombenleger, sondern ein ganz normaler Mensch.“

Das sind die kleinen Schritte, die für mich Fortschritte sind. Daran sollten wir arbeiten, auch im Alltag.

 

Interview: Bernd Drücke

 

Anmerkungen:

1) siehe Kasten auf dieser Seite.

2) www.bibliothekderfreien.de

3) www.baiz.info

 

Interview aus: Graswurzelrevolution Nr. 402, Oktober 2015, www.graswurzel.net