Völkermord an den Armeniern: Verschleppungstaktik statt eines klaren Bekenntnisses

 

 

Unsere Befürchtung, das Auswärtige Amt werde in Sachen Bundestagsresolution zum Völkermord an den Armeniern weiterhin danach trachten, die Wahrheit aus Rücksicht auf die von Erdogan repräsentierte Türkei unter der Decke zu halten, hat sich leider bewahrheitet. Denn inzwischen haben sich – wie dem Spiegel und der Süddeutschen Zeitung zu entnehmen war – die Regierungsfraktionen „in aller Stille“ darauf geeinigt, die zweite und dritte Lesung der Resolution von April 2015 so lange wie möglich auf Eis zu legen. Eine offizielle Äußerung von Außenpolitikern der SPD und CDU dazu liegt nicht vor. Offenbar plagt sie das schlechte Gewissen, und sie sind zu feige zu bekennen, dass sie als deutsche Politiker erneut aus selbst verordneten Opportunitätsgründen bereit sind, die Wahrheit im Interesse nationaler Belange zum Spielball ihrer sogenannten „Realpolitik“ zu machen – und sie in dieser Frage keinen Deut besser sind als die Vertreter des kaiserlich-militaristischen Deutschlands. Damit ist die politische Kultur in diesem Lande, soweit sie von den Abgeordneten der CDU und SPD in dieser Frage vertreten wird, auf einen Tiefstand gesunken.
Erinnern wir uns: Aus Rücksicht auf den türkischen Bündnispartner schwiegen die kaiserliche Regierung und das ihr unterstellte Auswärtige Amt den Völkermord 1915/16 und danach nicht nur tot, sie verfolgten Deutsche, die wie der Schriftsteller Armin T. Wegner darüber aufklären wollten. Mehr noch. Sie spielten eine führende Rolle dabei, jeden, der wie der Journalist Harry Stürmer die Wahrheit sagen wollte, als Feind der deutschen Sache in Misskredit zu bringen. Und heute? Erneut will man den türkischen Bündnispartner nicht provozieren, könnte er doch seine Hilfsbereitschaft bei der Lösung der Flüchtlingskrise versagen. Man darf das mit Fug und Recht als einen Kniefall der beiden großen deutschen Volksparteien und des Auswärtigen Amtes vor Erdogan bezeichnen – getreu dem Motto: Hilf uns beim Flüchtlingsproblem, und wir sagen nichts über den von Dir geleugneten Völkermord an den Armeniern. Erdogan benutzt seinerseits die Flüchtlingskrise zur Erpressung Europas und Deutschlands und fordert eine baldige und beschleunigte EU-Aufnahme der von ihm mit anrüchigen Mitteln beherrschten Türkei. Und Deutschland, ohnehin schon immer im Boot der Türkei, wenn es um den Völkermord an den Armeniern geht, kuscht, verhält sich opportunistisch und setzt – nach hundert Jahren – weiter auf Zeit! Mit anderen Worten: Nichts dazu gelernt.
Wenn sich die Abgeordneten des Deutschen Bundestages das bieten lassen, haben sie ihr Recht und ihren Anspruch verwirkt, weiterhin im Namen für Gerechtigkeit, Wahrheit und Menschlichkeit zu sprechen. Und die Opposition? Sie tut das, was sie in Fällen, die ihr machtpolitisch als marginal erscheinen, oft tut: Sie schweigt. Proteste gibt es bislang nicht. Offenbar erst auf Befragen der Süddeutschen Zeitung verlautbarte Cem Özdemir, Chef der Grünen-Fraktion, lediglich, er habe die Hoffnung „noch nicht ganz aufgegeben, einen dem historischen Anlass angemessenen Beschluss im Deutschen Bundestag zu fassen“. Kein aufklärendes Wort von ihm darüber, wer im Hintergrund aus welchen Gründen die Strippen zieht. Vor allem interessiere ihn, wie sich die „Parteien mit dem hohen C im Namen dazu verhalten werden, dass hier versucht wurde, ganze christliche Völker auszurotten“. Ein merkwürdiges, ein windiges Interesse, offenbar darauf bedacht, den politischen Gegnern eins auszuwischen beziehungsweise sich selbst moralisch über sie zu überhöhen. Dabei dürfte Cem Özdemir seit langem bekannt sein, dass Menschen, Parteien, Vereine, Institutionen wie Kirchen et cetera, die sich auf das Christentum oder den Islam berufen, deshalb noch längst nicht in deren Namen handeln. Auch das Hohenzollernreich, das sich auf das Bündnis von Thron und Altar stützte, rechtfertigte seine Verbrechen im Ersten Weltkrieg mit dem Slogan „Gott mit uns!“ Doch statt zu betonen, in welchem Maße die deutsche Politik von heute der von 1915 ähnelt und inwieweit sie sich in deren Fußstapfen bewegt, belässt Özdemir es bei Allgemeinplätzen und verkündet Binsenweisheiten. Dazu gehört sein Appell, man sei es den Nachfahren der überlebenden Christen, aber auch den demokratischen Kräften in der Türkei schuldig, einen Völkermord als solchen zu benennen. „Noch“, so orakelt Özdemir, „ist das Gedenkjahr nicht verstrichen.“ Ein Protest, bei dem es darum geht, der Wahrheit zum Durchbruch zu verhelfen, sieht anders aus.
Cem Özdemir hatte vor zehn Jahren, als es 2005 im Deutschen Bundestag schon einmal um die Frage ging, den Völkermord an den Armeniern beim Namen zu nennen, vehement dafür plädiert, dass solches Verlangen nicht in den Zuständigkeitsbereich des Parlamentes falle, sondern Sache von Historikern sei. Damit setzte er die verhängnisvolle Spaltung von Moral und Politik fort, die seit Bismarck in Deutschland immer stärker um sich gegriffen hat und auch heute nicht überwunden ist. Der Grünen-Politiker wäre in den Augen der Armenier, der kritischen Türken und Deutschen glaubwürdiger, wenn er sich nicht weiter in Floskeln erginge und stattdessen erklärte, was zu seinem Wandlungsprozess geführt hat. Mag sein, dass wir ihn nicht richtig verstehen, aber dass gerade er, der es inzwischen als unerlässlich betrachtet, auch die deutsche Mitverantwortung am Völkermord an den Armeniern zu benennen, sich mit keiner Silbe zu der Kontinuität des Schweigens und Verschweigens äußert, zumal er daran vor einem Jahrzehnt selbst noch einen Anteil gehabt hat, stimmt mehr als nachdenklich.
Es trifft übrigens nicht zu, wie oben ausgeführt, dass, wie es im Spiegel heißt, der Begriff „Völkermord“ in den Text der Resolution von April 2015 am Ende Eingang gefunden habe. Wäre das der Fall gewesen, hätte die Türkei längst lebhaft dagegen protestiert. Nichts ist davon geschehen. Hat das Auswärtige Amt der Türkei etwa insgeheim bedeutet, es würde sich der Sache in ihrem Sinne annehmen? Wohl kaum vorstellbar. Oder hat sich in den Ausschüssen des Bundestages, die über die endgültige Fassung der Resolution beraten haben, vielleicht doch noch das Wort „Völkermord“ durchgesetzt? Auch das ist kaum vorstellbar. Sollte es dennoch der Fall sein und auch nur wenige Spuren in diese Richtung weisen, dann hätte das Auswärtige Amt unter Walter Steinmeier nichts mehr und nichts weniger getan, als die Flüchtlingskrise benutzt, um die von deutschnationaler Seite über einhundert Jahre eingenommene Haltung zu einem Völkermord, dem das Auswärtige Amt zumindest durch Verschweigen und dem nie gemachten Versuch einzugreifen oder über die Massaker aufzuklären, die Hand gereicht hat. Dass einer solchen Politik nicht zu trauen ist, dürfte für jeden klardenkenden Deutschen und Nichtdeutschen auf der Hand liegen – von den Armeniern einmal ganz zu schweigen.
Nochmals: Zu viele deutsche Regierungen haben geschwiegen, sich herausgeredet oder in die Büsche geschlagen, wenn es darum ging, den Opfern Gerechtigkeit widerfahren zu lassen und die Täter beim Namen zu nennen. Von deutschen Politikern und der deutschen Regierung ist zu erwarten, dass sie den Völkermord an den Armeniern ohne Verklausulierungen als frühen Genozid des 20. Jahrhunderts anerkennen, sich zur deutschen Mitverantwortung daran bekennen und die Türkei zu einer Erklärung auffordern, die den Schutz der armenischen wie anderer Minderheiten garantiert. Und das unabhängig von Flüchtlingskrise oder Bündnispartnerschaft. Wie will man die Zivilgesellschaft in der Türkei stärken, wenn man Befürwortern von Gewaltpolitik und Leugnern des Völkermordes willfährig entgegenkommt?