Karl Liebknechts Anfrage zum Armeniergenozid am 18. Dezember 1915

in (03.06.2016)

Der Genozid an den Armeniern hat eine lange Geschichte in Deutschland, und darüber hinaus ist er um einiges enger mit der deutschen Geschichte verbunden als allgemein angenommen. Während des Ersten Weltkrieges fand im Osmanischen Reich eine Jahre andauernde Gewaltaktion statt, die – ganz besonders aufgrund der in Deutschland verfügbaren Quellen – als Völkermord bezeichnet werden muss. Hundert Jahre später ist diese Gewaltaktion, in der wahrscheinlich über eine Million Armenier umkam, selbst immer noch ein umstrittenes Thema, auch das historische Verhältnis Deutschlands zum Armeniergenozid ist überbürdet mit Verwirrung und historischer Unsicherheit.

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Das Deutsche Reich war nicht nur ein Verbündeter des Osmanischen Reiches im Ersten Weltkrieg, sondern wusste auch von Anfang an – dank seines Netzwerkes an Konsulaten in Anatolien – bestens Bescheid, was mit den Armeniern passierte. Aber gleichzeitig dachte die Reichsregierung, sie könnte den Krieg nicht ohne die Osmanen gewinnen. So kam dann auch des Kanzler Bethmann Hollwegs quasi-berühmter Satz im Dezember 1915 zustande: „Unser einziges Ziel ist, die Türkei bis zum Ende des Krieges an unserer Seite zu halten, gleichgültig, ob darüber Armenier zu Grunde gehen oder nicht.“

 

Was sollte man von diesem Kanzler noch weiter erwarten? Des Kanzlers Satz hatte eine turbulente Vorgeschichte: Vom Frühsommer 1915 an hatten die deutschen Konsuln im Osmanischen Reich die deutsche Botschaft in Konstantinopel mit Berichten zum stattfindenden Genozid bombardiert und zum Eingreifen bekniet. Der damalige Botschafter jedoch hielt es mehr mit der osmanischen Propaganda als mit den Berichten seiner Konsuln. Er verbreitete, auch gen Berlin, die Mähr von einem großen armenischen Aufstand im Rücken der osmanischen Armee; ein anatolischer Dolchstoß (ausgeführt von den Armeniern). Erst nachdem Talât Pascha, einer der jungtürkischen Führer, Innenminister und später auch Grosswesir, einem Botschaftsmitarbeiter unumwunden klar machte, dass es ihm ausdrücklich um die Ausrottung der Armenier ging, schwenkte auch der Botschafter um. Doch in Berlin war man nicht besonders offen für die Warnungen aus Konstantinopel. Im Spätsommer 1915 reiste dann auch Johannes Lepsius, der bekannteste deutsche pro-armenische Aktivist, ein protestantischer Pastor, der seit den 1890ern für die Armenier in der deutschen Öffentlichkeit intervenierte, in die osmanische Hauptstadt. Er traf dort Kriegsminister Enver Pascha und versuchte ihn zum Umdenken in der armenischen Frage zu bewegen; Lepsius versuchte, den Genozid zu stoppen. Die Audienz mit Enver war nicht erfolgreich. Man kann eine fiktive Version dieses Treffens im Kapitel „Zwischenspiel der Götter“ in Franz Werfels Die Vierzig Tage des Musa Dagh nachlesen. Lepsius sammelte dann in der osmanischen Hauptstadt Materialien zum stattfindenden Genozid und wurde hierbei von der deutschen und der amerikanischen Botschaft unterstützt. Nach seiner Rückkehr hielt er am 5. Oktober 1915 im Reichstag eine Rede vor Vertretern der deutschen Presse und anderen Vertretern des politischen Deutschlands.

 

Dem Vortrag von Lepsius folgte eine Anfrage der Kirchen in Deutschland an den Reichskanzler. Sie forderten von ihm eine Intervention für die Armenier. Er gab eine Antwort, die zwar auf den ersten Blick wie eine Zusage schien, aber jedem Kenner des Themas war sofort klar, dass es eine offene Absage war: Der Kern der Antwort, die am 27 November in den deutschen Zeitungen veröffentlicht wurde, lautete: „Die Kaiserliche Regierung wird, wie bisher, so auch in Zukunft es stets als eine ihrer vornehmsten Pflichten ansehen, ihren Einfluss dahin geltend zu machen, dass christliche Völker nicht ihres Glaubens wegen verfolgt werden.“ Dies war paradoxerweise, obwohl sie wie eine positive Antwort aussah, eine zynische Absage (wenn nicht sogar eine implizite Rechtfertigung). Gewalt gegen die Armenier wurde schon seit den hamidischen Massakern in den 1890ern in Deutschland diskutiert. Und schon seit dieser Zeit wurde die Armenische Frage fast nie als religiöse, sondern primär als nationale oder gar als rassische diskutiert. Der Fokus auf religiöse Verfolgung in des Kanzlers Antwort sollte sie nur entkräften, denn als religiöse Gruppe wurden sie nicht verfolgt und so gab es nach des Kanzlers Logik nichts weiter zu tun.

 

Nach dieser gescheiterten Intervention der Kirchen, intervenierte Karl Liebknecht, damals noch SPD-Mitglied, im Reichstag. Seine „ Anfrage Nr. 9“, die er im Reichstag offiziell am 18. Dezember 1915 einreichte, lautete:

„Ist dem Herrn Reichskanzler bekannt, dass vor mehreren Monaten im verbündeten türkischen Reiche die armenische Bevölkerung zu Hunderttausenden aus ihren Wohnsitzen vertrieben und niedergemacht worden ist?

Welche Schritte hat der Herr Reichskanzler bei der verbündeten türkischen Regierung unternommen, um die gebotene Sühne herbeizuführen, die Lage des Restes der armenischen Bevölkerung in der Türkei menschenwürdig zu gestalten und die Wiederholung ähnlicher Gräuel zu verhindern?“

 

Es dauerte bis zum 11 Januar 1916, dass Liebknecht eine Antwort erhielt. Diese wurde im Parlament von Dr. von Stumm, Dirigent der politischen Abteilung im Auswärtigen Amt,- vorgetragen:

„Dem Herrn Reichskanzler ist bekannt, dass die Pforte vor einiger Zeit, durch aufrührerische Umtriebe unserer Gegner veranlaßt, die armenische Bevölkerung bestimmter Gebietsteile des türkischen Reiches ausgesiedelt und ihr neue Wohnstätten angewiesen hat. Wegen gewisser Rückwirkungen dieser Maßnahme findet zwischen der deutschen und der türkischen Regierung ein Gedankenaustausch statt. Nähere Einzelheiten können nicht mitgeteilt werden.“

 

Liebknecht verstand sofort, dass die Regierung wiederum keine klare Stellung bezogen hatte. Unverzüglich erwiderte er: „Ich bitte ums Wort zur Ergänzung der Anfrage.“ Darauf das Protokoll der Reichstagssitzung: „Heiterkeit“.

 

Liebknecht fuhr fort: „Ist dem Herrn Reichskanzler bekannt, dass Professor Lepsius geradezu von einer Ausrottung der türkischen Armenier gesprochen ...“ Das Protokoll vermerkte: „Glocke des Präsidenten – Redner versucht weiter zu sprechen – Rufe: Ruhe! Ruhe!“

 

Daraufhin mahnte der Reichstagspräsident Liebknecht: „Herr Abgeordneter, das ist eine neue Anfrage, die ich nicht zulassen kann.“ Liebknecht hakte sofort ein: „Ehe der Herr Präsident noch die Anfrage zu Ende gehört hat, wird er nicht in der Lage sein, zu beurteilen, ob es sich um eine neue Anfrage handelt oder nicht. Im übrigen hebe ich hervor, dass ihm aus dem Hause erst zugerufen wurde.“ Wiederum wurde Liebknecht, laut Protokoll, mit „Heiterkeit“ im Parlament unterbrochen. Der Präsident verbot sich Kritik an seiner Geschäftsführung, was im Saal mit „Bravo“ beantwortet wurde. Er ging zum nächsten Sitzungspunkt über (auch eine Anfrage Liebknechts, zu einem anderen Thema). Und das war es, was Liebknecht und der Genozid 1916 im Reichstag bekamen: Gelächter und das Gefühl, bestenfalls Pausenclown im Parlament zu sein.

 

Es war der Verweis auf Lepsius, der die Anfrage Liebknechts klar in die Sphäre des Genozids beförderte: Es ging um systematische Ausrottung eines Volkes, eben nicht „nur“ um Pogrome, Massaker und kriegsbedingte Verluste. Das war aber den meisten Verantwortlichen in Deutschland bereits klar. Die „Heiterkeit“ und das Gelächter im Reichstag hatten nur wenig mit Ignoranz zu tun. Denn der Genozid an den Armeniern war keineswegs tabu, sondern war ein Thema in Deutschland, zumindest ein Thema der deutschen (und osmanischen) Propaganda. Was die deutsche Kriegspresse dieser Jahre betrifft, so hält sich der Mythos – vor allem von deutschen Zeitungsmachern nach Kriegsende verbreitet – dass die deutschen Zeitungen die Armenier aufgrund der Zensur nicht hätten diskutieren können. Während es stimmt, dass das volle Ausmaß des Genozids nicht in den deutschen Zeitungen besprochen werden konnte, so ist es grundsätzlich falsch anzunehmen, dass die deutsche Presse geknebelt war, wenn es um die Armenier ging. Tatsächlich übertrafen sich die großen deutschen Zeitungen mit Beschuldigungen, rassisch-fundierten Charakterisierungen und Rechtfertigungen der Gewalt gegen die Armenier. Dies trifft besonders für die heiße Phase des Genozids , 1915 und 1916, zu. Später dann wurde es etwas ruhiger – man vermutet ein Abkommen zwischen Regierung und pro-armenischen Aktivisten dahinter: die Presse sollte die Angriffe auf die Armenier drastisch vermindern, und die proarmenischen Aktivisten, oft aus kirchlichen Kreisen, würden Teil des deutschen Burgfriedens werden, also alle Kritik auf die Zeit nach dem Krieg vertagen.

 

Lepsius gab sich aber in den Monaten seit seiner Rückkehr aus Konstantinopel nicht mit den deutschen Reaktionen zufrieden. Wie bereits in den 1890ern verfasste Lepsius einen „Bericht über die Lage des armenischen Volkes.“ Um die Zensur zu umgehen bzw. nicht mit ihr in Konflikt zu kommen, versandte er den privat gedruckten Bericht selbst per Post an deutsche Parlamentarier, Journalisten und protestantische Pfarrhäuser. Lepsius druckte auch einen Verweis auf die Zensur auf die Titelseite und mahnte seine Leser, dass der Bericht streng geheim sei und nicht zur öffentlichen Diskussion kommen solle.

 

Erst anlässlich des Vertrags von Brest-Litowsk, der den Frieden mit der neugeschaffenen Sowjetunion herstellen sollte und Osteuropa nach deutschem Geschmack verwandeln sollte, kam es im deutschen Parlament zu einer richtigen Diskussion zum armenischen Thema. Bis dahin war das Thema aber auch nicht per se tabu. Die von Liebknecht war nicht die einzige „Kleine Anfrage“ während des Krieges, die auf das, was den Armeniern geschah, verwies. Der Abgeordnete Oskar Cohn (USPD) stellte im Mai 1917 eine zur Situation in Palästina und zur drohenden Deportation von Juden dort aus militärischen Gründen. Er fragte den Reichskanzler, ober er eine Wiederholung dessen, was den Armeniern geschehen war, verhindern werde.

 

Was die „Kleine Anfrage“ Liebknechts im Reichstag charakterisierte, war die Diskrepanz zwischen dem hinter verschlossenen Türen tatsächlich vorhandenen Wissen über was den Armeniern passierte und dem was Deutschland in der Öffentlichkeit zu zugeben bereit war (und was man tatsächlich für die Armenier tat). Der Reichstag muss hier als Teil der deutschen Öffentlichkeit gesehen werden. Hinter den Türen sah es zu diesem Zeitpunkt bereits ganz anders aus: Das Auswärtige Amt war äußerst besorgt über den Genozid, vor allem was zukünftige Anschuldigungen an die Adresse Deutschlands anging. Ein langes Memorandum, verfasst von Konstantin von Neurath für den internen Verkehr, vom November 1915 fasst dies eindringlich zusammen und versucht, die Einzelaktionen der Konsuln für Armenier – gegen den Willen des Botschafters – nun als generelle, deutsche Politik zu verkaufen. Als dann später, 1918, der Vertrag von Brest-Litowsk im Reichstag diskutiert wurde, war diese Diskrepanz wieder spürbar. Wieder waren es Sozialisten, die sich dagegen sträubten, wie im Vertrag vorgesehen, Armenier den Türken preiszugeben – in den Provinzen, die dem Osmanischen Reich abgetreten werden sollten. Nun wurde zum ersten Mal richtig diskutiert, was in den Jahren zuvor passiert war. Wiederum wurden proarmenische Sentiments von Regierungsvertretern abgeschmettert. Doch in Konstantinopel stimmte der deutsche Botschafter mit den Bedenken der Sozialisten vollstens überein; auch er forderte einen Kordon von deutschen Soldaten zwischen den Armeniern und den einrückenden osmanischen Soldaten.

 

Nach dem Krieg waren es dann eben Lepsius zusammen mit dem Auswärtigen Amt, die Bewusstsein für das Geschehene schufen und gar eine große Genoziddebatte angefacht haben. Da man Angst hatte, in den Pariser Verhandlungen mit Behauptungen deutscher Mitschuld (oder gar Initiativschuld) belastet zu werden, ließ das Auswärtige Amt einen Band seiner Korrespondenz zu den Armeniern von Lepsius herausgeben. Das Ausland war nicht überzeugt, aber im Inland fing man an, über den Armeniergenozid (in der Sprache der Zeit) zu diskutieren.

 

© inamo Nr. 86, Sommer 2016, Jahrgang 22 (erscheint Anfang Juli)