Kräfteverhältnisse in der Eurokrise

Konfliktdynamiken im bundesdeutschen ‘Block an der Macht’

 

1. Einleitung

 

Im Juni 2015 kam es zu einer bitteren Zuspitzung des Konflikts zwischen der Syriza-Regierung in Griechenland und einer Front bürgerlicher Kräfte, die sich in der kompromisslosen Haltung der Troika-Institutionen und der Regierungen der anderen Euro-Staaten verdichtete. Mitte Juli wurde ein sogenannter Grexit vorläufig abgewendet, als die Syriza-Regierung eine neue Runde drakonischer Austerität als Bedingung für ein drittes Hilfspaket akzeptierte. Doch das politische Drama zwischen linken und bürgerlichen Kräften im Europa des Sommers 2015 täuschte darüber hinweg, dassentscheidende Kämpfe dieser Eskalationsphase innerhalb des bürgerlichen Lagers geführt wurden. Die Einigung in letzter Sekunde war vorläufiger Höhepunkt einer Konfliktsequenz zwischen Kräften eines ‘Blocks an der Macht’ (Poulantzas 2002: 157ff.), der seit Krisenbeginn durch politisch-ideologische Zerfallsprozesse, Bündnis- und Strategiewechsel geprägt war. Beispielsweise zeigt ein Blick auf die Bundesrepublik Deutschland, dass die Erfolge der Alternative für Deutschland (AfD) und des mit ihr verbundenen Streits innerhalb des Machtblocks über die Zukunft der Eurozone, nicht einfach als ‘Kehrseite der Medaille’ einer im Krisenverlauf vertieften Integration verstanden werden können. Sowohl der Aufstieg der AfD als auch ihre selbstdestruktiven Tendenzen seit Anfang 2015 lassen sich als Resultat von Spaltungen innerhalb des neoliberalen Hegemonieprojekts und mit ihm alliierter Kräfte interpretieren.

 

Bereits im Sommer 2012 identifizierten wir in einer Analyse des „Staatsprojekts Europa in der Krise“ (Georgi/Kannankulam 2012; vgl. Buckel et al. 2012) die später in der AfD vereinigten Strömungen als Akteure eines national-konservativen Hegemonieprojekts und einer ordoliberalen Fraktion. Dieses ordo-konservative Bündnis sahen wir gemeinsam mit Akteuren einer autoritär-neoliberalen Fraktion die Krisenpolitik der deutschen Regierung dominieren. Der Verlauf der Krise hat gezeigt, so unsere im vorliegenden Artikel entwickelte Argumentation, dass sich die Spannungen zwischen diesen Kräften bis zum Herbst 2012 derart zuspitzten, dass es zu einem faktischen Bruch ihrer Allianz und einer modifizierten Krisenbearbeitung kam, die zu einer zeitweisen Beruhigung der Eurokrise 2013/2014 beitrug, die grundlegende Widersprüche aber nicht aufheben konnte. Vor diesem Hintergrund konzentriert sich unser Beitrag auf die Konflikte, die vor allem in Deutschland verankerte bürgerliche Kräfte im Krisenverlauf eingingen, und fragt, welche Effekte die sich daraus ergebenden Strategiewechsel auf den Verlauf der europäischen Krise und ihrer Bearbeitung hatten.1 Ein solches historisch-konjunkturelles Verständnis gesellschaftlicher Kräfteverhältnisse in der Krise kann, so unsere Hoffnung, die strategischen Reflexionen emanzipatorischer Akteure unterstützen.

 

 

2. Historisch-materialistische Politikanalysen

 

Unsere Interpretation der Eurokrise beruht auf einem analytischen Ansatz, den wir gemeinsam mit der Forschungsgruppe Staatsprojekt Europa (2014) entwickelt haben und als historisch-aterialistische Politikanalyse (HMPA) bezeichnen.² Das Ziel dieser HMPA ist es, Nicos Poulantzas’ Topos, wonach Staat und politische Institutionen als „materielle Verdichtung gesellschaftlicher Kräfteverhältnisse“ (Poulantzas 2002: 154) zu begreifen sind, für die empirische Analyse von gesellschaftlichen und politischen Konflikten produktiv zu machen. Wir verorten diese Herangehensweise in der älteren Tradition empirisch-historischer Analysen von Klassenkämpfen, für die Marx’ Arbeiten über die französische Revolution von 1848-51 im Achtzehnten Brumaire und über die Pariser Kommune in Bürgerkrieg in Frankreich Ausgangspunkte und Vorbilder sind (Marx 1852; 1871). Auch die Arbeiten von Poulantzas (1973) und David Abraham (1981) über den Aufstieg des Faschismus in Italien und Deutschland gehören in diese Traditionslinie. Im Mittelpunkt unseres Ansatzes steht der Vorschlag, die tendenziell unendliche Vielfalt von Strategien und Taktiken miteinander konfligierender Akteure, sprich: die gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse heuristisch entlang breiter gesellschaftlicher Projekte zu bündeln, die wir als Hegemonieprojekte bezeichnen. Hegemonieprojekte sind zu verstehen als zumeist indirekte Verknüpfungen einer Vielzahl unterschiedlicher Taktiken und Strategien, die sich auf Konflikte über konkrete politische Projekte oder breitere gesellschaftliche Problemlagen richten. Hegemonieprojekte sind somit begrifflich entwickelte Abstraktionen, die darauf zielen, die innerhalb des Kapitalismus durch grundlegende „soziale Formen“ (Hirsch 1994) strukturierte und durch die rekursive (also erfahrungsinduzierte) Handlungsmacht der Akteure hervorgebrachte Aggregation von sehr unterschiedlich motivierten und oft nebeneinander ablaufenden Taktiken und Strategien in einer analytischen Kategorie fassbar zu machen. Wir begreifen Hegemonieprojekte als politikfeldübergreifende Kräftekonstellationen, deren Strategien sich in unterschiedlichen Konflikten spezifisch ausprägen. Je nach Konflikt treten unterschiedliche Akteure und Spektren ihrer sozialen Basen in den Vordergrund. Es ist daher möglich, dass Hegemonieprojekte bei einzelnen Konflikten in Fraktionen gespalten sind. Entscheidend ist, sie und ihre Fraktionen nie homogen oder statisch zu konzeptionalisieren.³

 

Solche Analysen lassen sich mit Bezug auf die Europäische Union nicht länger ‘rein national’ ausarbeiten. Die EU ist heute keine Ansammlung eng vernetzter Einzelstaaten, sondern ein multiskalares europäisches Staatsapparate-Ensemble, das nationale Kräfteverhältnisse nachhaltig europäisiert und transnationalisiert hat (vgl. Buckel et al. 2014: 37ff.). Der europäische Integrationsprozess bleibt den Nationalstaaten nicht äußerlich, sondern wirkt als „interiorisierte Transformation“ (Poulantzas 2001: 67) auch in diesen (vgl. Georgi et al. 2014: 89f.). Wenn wir uns im Folgenden dennoch auf die Konflikte von primär in Deutschland verankerten Kräften konzentrieren und diese immer wieder im Kontext europäischer Konfliktdynamiken verorten, dann ist dies neben forschungspraktischen Gründen dadurch begründet, dass nationale Pfadstrukturen, Institutionen und Kulturen weiterhin das ‘Nadelöhr’ bzw. zentrale Knotenpunkte bilden, durch die der europäische Integrationsprozess hindurch muss. Dies gilt auch für die deutschen Kräfteverhältnisse, wobei hier verankerte Kapitalfraktionen zusammen mit der deutschen Regierung in Europa zwar keine hegemoniale, aber eine dominante Stellung innehaben (vgl. Sablowski 2015: 3).

 

 

3. Konflikte und Kräfteverhältnisse in der Eurokrise

 

Phase 1: Von der Struktur- zur Staatsschuldenkrise (September 2008 – Februar 2010)

 

Der Beginn der gegenwärtigen Krisenepoche lässt sich auf den Spätsommer 2008 datieren. Der Zusammenbruch der Investmentbank Lehman Brothers am 15. September war Schlüsselmoment einer historischen Sequenz, in der sich die Erscheinungsweisen der Krise in Europa mehrfach wandelten, von Börsencrashs und geborstenen Immobilienblasen, über Bankenkrisen und Kreditklemmen zur schwersten Weltrezession seit den 1930er Jahren. Ausgehend von einer seit den 1970er Jahren nicht gelösten Überakkumulationskrise transformierten kreditfinanzierte Konjunkturprogramme und Bankenrettungen die Finanz- und Wirtschaftskrise der Jahre 2007 bis 2009 ab Anfang 2010 in eine europäische Staatsschuldenkrise (vgl. Demirović/Sablowski 2012).

 

‘Die Krise heißt Kapitalismus’ – in diesem Motto linker Krisenproteste seit 2008 scheint ein Verständnis des systemischen Charakters der Krise auf und auch bürgerliche Kräfte zeigten sich zu Beginn tief verunsichert. Zuvor waren sich die europäischen Akteure des neoliberalen Hegemonieprojekts einig, dass die grundlegende Wachstumsstrategie im wettbewerbsstaatlichen Umbau nahezu aller gesellschaftlichen Bereiche und staatlichen Aufgaben bestehen müsse. Um die Krisenphase der 1970er Jahre zu überwinden, setzten die das Projekt tragenden Schlüsselsektoren des postfordistischen Akkumulationsregimes (transnationale Industriekonzerne, Finanzwirtschaft, privilegierte Lohnabhänge, Selbstständige und Teile der Staatsbürokratien) darauf, Arbeitsverhältnisse und Kapitalbewegungen zu deregulieren und Produktions- und Handelsbeziehungen zu internationalisieren (vgl. Gill 1998: 12f.; van Apeldoorn 2002; Buckel et al. 2014: 65ff.). In Europa waren die politischen Projekte des Binnenmarkts (1986), der Kapitalverkehrsfreiheit (1994), der Währungsunion (ab 1999) und der Lissabon-Strategie (2000) zentrale Vehikel dieser Strategie. In den Jahren 2008/2009 zeigten sich neoliberale Akteure jedoch zunehmend uneinig über Ursachen und Lösungsansätze der Krise (vgl. Schirrmacher/Strobl 2011; Bieling 2009; Heinrich 2012: 399).

 

Im Herbst 2009 zeichnete sich in Teilen Europas das Ende der Rezession ab. Tatsächlich geriet die EU vom Regen in die Traufe. Im Oktober 2009 musste der neue griechische Finanzminister den offiziellen griechischen Schuldenstand auf über 12 Prozent nach oben korrigieren, mehr als Doppelte des vorherigen Werts, woraufhin Ratingagenturen Griechenlands Bonitätsnote deutlich absenkten (FR, 28.10.2009). Am 9. Dezember 2009 sprach Premierminister Papandreou erstmals von einem drohenden Staatsbankrott (vgl. Illing 2013: 50). EU-Kommission und Bundesregierung wiesen Hilfen für Griechenland anfangs scharf zurück (vgl. tagesschau.de, 9.12.2009). Doch ab März 2010 rückte die ‘Griechenlandkrise’ in den Mittelpunkt der deutschen und europäischen Politik und offenbarte Spaltungslinien im Block an der Macht.

 

Phase 2: Die ›Griechenlandkrise‹ weitet sich aus (März 2010 – Mai 2011)

 

Der Beginn der Eurokrise im engeren Sinne lässt sich auf das Frühjahr 2010 datieren. Als sich das seit Ende 2009 abzeichnende Misstrauen der Finanzmärkte in die Tragfähigkeit der griechischen Staatsschulden zuspitzte und die Refinanzierung bestehender Schulden massiv gefährdet schien, beschlossen die Euro-Staaten auf ihrem Gipfel vom 25. März 2010 einen Fonds bilateraler Finanzhilfen, die Griechenland am 23. April beantragte. Der heftige politische Streit in Deutschland und den EU-Gremien über Bedingungen und Methoden der Rettungsprogramme für Griechenland (April 2010), Irland (November 2010) und Portugal (Mai 2011) legte die Bruchlinien zwischen Fraktionen des neoliberalen Hegemonieprojekts offen und weiteten sie aus. Einig waren sich in Deutschland verankerte neoliberale Kräfte, dass Hilfen, wenn überhaupt, nur unter striktesten Auflagen gezahlt werden konnten. Ende April deutete der deutsche Außenminister und FDP-Vorsitzende Guido Westerwelle an, dass das Zögern der Bundesregierung gegenüber Hilfszusagen den Zweck hatte, die Krisensituation zu verschärfen: Wer „zu früh irgendwelche Hilfszusagen macht, der wird nur erleben, dass das dann auch den Druck nimmt, in Griechenland die strukturellen Hausaufgaben zu erledigen.“ (Zit. n. Spiegel Online, 27.4.2010; vgl. FAZ 28.4.2010) Vor dem Hintergrund solcher Einigkeit zeichnete sich die Krisenbearbeitung durch eine Strategie aus, die eine Kettenreaktion aus Staatsbankrotten, Investorenverlusten, Bankpleiten und einer Destabilisierung des gesamten Euroraumes um fast jeden Preis verhindern wollte und dafür bereit war, die privaten Gläubiger Griechenlands, Irlands und Portugals mit öffentlichen Geldern des IWF, der EU und der Euro-Länder vor Verlusten zu schützen. Die zu diesem Zweck an die Schuldnerstaaten vergebenen Kredite wurden nur unter der Auflage schockartiger Austeritätsprogramme gewährt, die eine strikte Sparpolitik mit neoliberalen ‘Strukturanpassungen’ des Arbeitsmarkts, des Steuersystems, mit Sozialabbau und Privatisierungen verbanden.

 

Zugleich trieben deutsche Regierung und EU-Kommission ab März 2010 das politische Projekt eines autoritär verschärften Stabilitätspakts voran, um die fiskalische und wirtschaftspolitische Handlungsfähigkeit nationaler Parlamente und Regierungen einzuschränken. Bereits am 10. März 2010 erklärte die Europäische Kommission, wichtiger noch als ein Rettungsfonds sei eine „engere Überwachung der nationalen Wirtschaftspolitiken“ (taz, 10.3.2010). Anfang Mai forderte Bundeskanzlerin Merkel, der Stabilitätspakt müsse „so umgestaltet werden, dass er nicht mehr unterlaufen werden könne“ (FAZ, 3.5.2010), und am 13. Mai legte die Europäische Kommission Pläne für das Europäische Semester vor, wonach die Staaten ihre Budgetplanungen der Kommission im Frühjahr zur Prüfung vorlegen müssen (FAZ, 13.5.2010). Der deutsche Finanzminister Wolfgang Schäuble forderte die europaweite Einführung einer Schuldenbremse nach deutschem Vorbild (taz, 17.5.2010).

 

Am umstrittensten war in Deutschland die Frage eines griechischen Schuldenschnitts. Unterstützt wurde diese Forderung nicht nur von linkseuropäischen Kräften und den auf neoliberaler Grundlage agierenden Mehrheitsströmungen von SPD und Grünen. Auch zahlreiche ExpertInnen, darunter der Direktor des Münchner ifo-Instituts Hans-Werner Sinn, verlangten aus ordnungspolitischen Gründen einen Schuldenschnitt (vgl. Spiegel Online, 3.3.2010). Dass es zu Beginn der Krise 2010 dennoch nicht zu einer Gläubigerbeteiligung kam, lag offenbar an der Stärke von Akteuren des transnationalen Finanz- und Bankenkapitals, die warnten, eine Gläubigerbeteiligung würde eine neue Bankenkrise und Spekulationswellen gegen andere Eurostaaten auslösen. Ein Vertreter der Commerzbank erklärte etwa: „Anleger würden sich fragen: Wenn in Griechenland Schulden aus den Büchern gestrichen werden, warum sollte das nicht morgen in Portugal oder Spanien passieren?“ (Zit. n. Spiegel Online, 27.4.2010)

 

Nach unserer Analyse verdichtete sich in der Krisenpolitik aus Investorenrettung, ‘Strukturreformen’ und dem im September 2010 beschlossenen Europäischen Semester ein europäisches Kräfteverhältnis, das dominiert war durch eine meist implizite Allianz, deren eine Seite aus einem vor allem in Deutschland verankerten ordo-konservativen Bündnis bestand. Dieses Bündnis umfasste einerseits die national-konservativen Hegemonieprojekte in Deutschland und anderen Zentrumsstaaten, mithin jene gesellschaftlichen Kräfte, die einem stark vertieften europäischen Integrationsprozess skeptisch bis ablehnend gegenüberstanden und ein ‘Europa der souveränen Nationen’ befürworteten. Sozial verankert in rechten und konservativen Milieus und Teilen des Mittelstands und wirtschaftspolitisch fast immer auf neoliberaler Grundlage agierend, attackierten die gleichsam ‘national-neoliberalen’ Akteure dieses Hegemonieprojekts das Rettungspaket für Griechenland und den im Mai 2010 etablierten EFSF als Schuldenvergemeinschaftung und Ausverkauf deutscher Interessen. Einige Akteure, unter ihnen CSU-Landesgruppenchef Hans-Peter Friedrich, forderten, ein Euro-Austritt Griechenlands dürfe „nicht zum Tabu erklärt werden“ (zit. n. Spiegel Online, 27.4.2010). Solche chauvinistischen Positionen verbanden sich mit den Argumenten einer ordoliberalen Fraktion, die im Zuge der Krise aus dem neoliberalen Hegemonieprojekt herausbrach. Gestützt auf die extensive Verankerung von Diskursen der Geldwertstabilität und des ‘Sparens’ in der deutschen Bevölkerung und ihren Eliten, und gleichsam angeführt von Hans- Werner Sinn, argumentierten zahlreiche ExpertInnen, dass die Rettungspakete für Griechenland, Irland und Portugal eine steuerfinanzierte Sozialisierung der Fehlspekulationen von Investoren seien – und somit ordnungspolitisch verheerend und ökonomisch ohne Perspektive. Stattdessen setzten sie auf Austerität und neoliberale Strukturreformen, kombiniert mit einem Schuldenschnitt, und forderten, Griechenland aus dem Euro zu werfen (vgl. Spiegel Online 3.3.2010 und 26.4.2010; SZ, 20.5.2010). Die hier skizzierten Positionen eines ordo-konservativen Bündnisses wurden in Deutschland von CSU, Strömungen in CDU und FDP sowie großen Teilen der bürgerlichen Presse (FAZ, Die Welt, BILD u.a.) artikuliert und unterstützt. Diese sozialen Kräfte bildeten einen entscheidenden Teil der Machtbasis der schwarz-gelben Koalition und der von ihnen ausgeübte Druck kann das langwierige Zögern der Regierung Merkel gegenüber Hilfen für Griechenland, ihre kompromisslose Härte bei den Austeritätsbedingungen und ihre klare Ablehnung von Eurobonds erklären.

 

Dass die deutsche Regierung sich trotz des ordo-konservativen Widerstands mit Milliardensummen an der Rettung der Gläubiger Griechenlands, Irlands und Portugals beteiligte, lässt sich auf den Einfluss einer proeuropäischen und autoritären Fraktion des neoliberalen Hegemonieprojekts zurückführen. Diese speiste sich aus Strategien der transnationalen Finanzwirtschaft und des exportorientierten Industriekapitals der Zentrumsstaaten, aus mittelständischen Unternehmen und jenen Konzernen, die etwa im European Round Table of Industrialists organisiert sind (vgl. van Apeldoorn 2002). Als zugleich proeuropäisch und autoritär ist diese Fraktion zu bezeichnen, weil sie eine Vertiefung der europäischen Integration aktiv unterstützt, solange diese dazu dient, die haushalts-, wirtschafts- und sozialpolitischen Spielräume nationaler Parlamente und Regierungen einzuschränken und so Entscheidungen gegen die neoliberale Orthodoxie autoritär zu verhindern. Die autoritäre Verschärfung des Stabilitätspakts im Zuge der Krise entsprang dem Interesse dieser Fraktion. Aus ihrer Perspektive erschienen die Schuldenkrisen in Griechenland, Irland und Portugal als Bedrohung des Euro und Gefahr für eigene Interessen. So setzten Akteure der autoritär-neoliberalen Fraktion die Regierung Merkel im Laufe des Frühjahrs 2010 erfolgreich unter Druck, ihre Ablehnung eines ‘bail-outs’ von Investoren aufzugeben (vgl. Evans 2011: 108f.; FAZ, 28.4.2010). Allerdings musste aus ihrer Sicht eine steuerfinanzierte ‘Rettung’ der Gläubiger jener Länder, die durch extensive Konjunkturprogramme und Bankenrettungen zu ‘Schuldnerstaaten’ geworden waren, als Gelegenheit für eine neoliberale Schockstrategie genutzt werden, die die Verwertungsbedingungen zulasten von Bevölkerungsmehrheiten verbessern sollten. Die Bedingungen des griechischen Hilfspakets von Frühjahr 2010 entsprachen diesem Muster (vgl. FAZ, 3.5.2010).

 

Auf Basis der bisher entwickelten Argumentation lässt sich die Politik der deutschen Regierung in der Eurokrise von März 2010 bis Mai 2011, ihr zunächst langes Zögern und die letztendliche Zustimmung gegenüber bilateralen Hilfen und dem gemeinsamen Rettungsfonds EFSF, durch ein Changieren zwischen den beiden Stützen der eigenen Machtbasis erklären. Mit der Entscheidung für die Rettungsprogramme gab die Regierung Merkel den Forderungen der autoritär-neoliberalen Fraktion nach, sah sich aber zu Zugeständnissen gegenüber den Akteuren des ordo-konservativen Bündnisses gezwungen: Hilfen nur gegen harte Strukturreformen, eindeutige Ablehnung von Eurobonds und eine im Verlauf der Krise wachsende Offenheit gegenüber einem freiwilligen Schuldenschnitt für Griechenland.

 

Phase 3: Eskalation zur ‘Eurokrise’ (Juni 2011 – Juni 2012)

 

Im Juni 2011 begann in der Eurokrise eine Phase der Eskalation, die bis Sommer 2012 anhielt. Griechenland blieb von den Finanzmärkten abgeschnitten und benötigte ein zweites Hilfspaket, Ratingagenturen stuften Griechenlands Bonität weiter herab (vgl. FAZ, 11.5.2011 und 13.6.2011). Auch in anderen Ländern spitzte sich die Situation zu. Anfang Juli senkte die Ratingagentur Moody‘s die Bonität Portugals auf „Ramsch-Niveau“ (FAZ, 6.7.2011), wenige Tage später berief EU-Ratspräsident van Rompuy ein Krisentreffen ein – „wegen wachsender Zweifel an der finanziellen Solidität Italiens“ (FAZ, 10.7.2011). Im Frühsommer 2011 wurde deutlich, dass es der bisherigen Krisenpolitik zwar gelungen war, Staatsbankrotte abzuwenden, doch die harte Austeritätspolitik verschärfte die wirtschaftliche Krise. Dennoch wäre es verkürzt, die Austeritätspolitik als irrational oder ‘deutsche Obsession’ abzutun. Neoliberale Kräfte begriffen Austerität als Mittel zum Zweck der ‘internen Abwertung’, also der Strategie durch sinkende Lohnkosten, Sozialabbau und Deregulierung die ‘Wettbewerbsfähigkeit’ der Krisenstaaten zu erhöhen (vgl. Armingeon/Baccaro 2012). Selbst steigende Refinanzierungskosten und die Gefahr von Staatsbankrotten konnten aus dieser Perspektive als Kollateralschäden oder notwendige Bedingung für die Verbesserung der (eigenen) Verwertungsbedingungen erscheinen.

 

Vor dem Hintergrund der sich zuspitzenden wirtschaftlichen Krise flammte der politische Streit in Deutschland über einen griechischen Schuldenschnitt im Frühsommer 2011 erneut auf. Anlass war die anstehende Auszahlung von 12 Milliarden Euro aus dem ersten Hilfspaket (Handelsblatt, 17.6.2011). Anders als noch im Frühjahr 2010 stand die Bundesregierung einer Gläubigerbeteiligung offen gegenüber (Berliner Morgenpost, 7.6.2011; FAZ, 13.6.2011). Bundesbankpräsident Jens Weidmann stellte sich jedoch gegen einen Schuldenschnitt. Zwar sei am „Grundgedanken nichts falsch“ (zit. n. FAZ, 13.6.2011), doch gebe es „Ansteckungsgefahren“ (ebd.). Der designierte EZB-Chef Mario Draghi wurde noch deutlicher: Alle Konzepte, „die nicht völlig freiwillig sind oder irgendein Element von Zwang beinhalten“ (zit. n. FAZ 14.6.11), müssten ausgeschlossen werden. Deutlich wird hierin eine wachsende Spannung zwischen einer autoritär-neoliberalen Krisenpolitik, artikuliert von etwa Weidmann und Draghi, die Investorenrettung um jeden Preis verfolgte, und einer ordo-konservativen Linie, auf die die Bundesregierung auch aufgrund zunehmenden öffentlichen Drucks eingeschwenkt war und die Gläubigerbeteiligungen aus ordnungspolitischen Gründen einforderte.

 

In dieser angespannten Situation intervenierten etwa 70 Konzern-ManagerInnen (u.a. von Siemens, Daimler, BMW, Telekom und EADS), die „in großen Zeitungsanzeigen ein flammendes Plädoyer für den Euro“ (Handelsblatt, 17.6.2011) hielten. Eine autoritär-neoliberale Position formulierend, forderten diese SprecherInnen des transnationalen Industriekapitals die Bundesregierung auf, den Euro als „Jobmotor und Wohlstandsgarant“ (ebd.) zu verteidigen und zu diesem Zweck die Gläubiger der Schuldenstaaten zu retten: „Die Rückkehr zu stabilen finanziellen Verhältnissen wird viele Milliarden kosten, aber die Europäische Union und unsere gemeinsame Währung sind diesen Einsatz allemal wert“ (ebd.). Obwohl also ordo-konservative Akteure, linksorientierte Kräfte und 62 Prozent der deutschen Bevölkerung eine Gläubigerbeteiligung unterstützten (Handelsblatt, 17.6.2011), wurde ein Schuldenschnitt zunächst verschoben, was als „Niederlage der deutschen Regierung“ (ebd.) gewertet wurde. Der Handlungsspielraum der Bundesregierung schien zwischen den gegensätzlichen Forderungen der ordo-konservativen und autoritär-neoliberalen Forderungen zunehmend eingeengt.

 

Diese Spannungen vertieften sich in den folgenden Monaten, insbesondere ordo-konservative Kräfte erhöhten den Druck. Im Vorlauf zum Euro-Krisengipfel vom 21. Juli 2011, auf dem das zweite Hilfspaket für Griechenland zur Debatte stand, warnte Wirtschaftsminister und FDP-Vorsitzender Philipp Rösler davor, dem EFSF zu gestatten, griechische Anleihen am Sekundärmarkt zu kaufen, und forderte: „Vor allem brauchen wir den Einstieg in eine private Gläubigerbeteiligung.“ (FAZ, 18.7.2011) Die Gipfel-Ergebnisse, ein zweites Rettungspaket über 109 Milliarden Euro und ein ‘freiwilliger Schuldenschnitt’, lösten in der FPD wenig Begeisterung aus. Ihr Finanzexperte Frank Schäffler erklärte, dass er dem Rettungspaket nicht zustimmen werde: „Ohne eine Austrittsmöglichkeit aus dem Euro bringt der Schuldenschnitt nichts“ (zit n. Taz, 23.7.2011). Ein Vertreter der Linken-Bundestagsfraktionen kommentierte, Deutsche Bank-Chef Josef Ackermann habe „ganze Arbeit“ (zit. n. ebd.) geleistet, indem er, so die implizite Analyse, eine substantielle Gläubigerbeteiligung des transnationalen Finanzkapitals erneut verhindert habe.

 

Der hier aufscheinende Konflikt fand seinen nächsten Anlass im September 2011, als im Bundestag die Abstimmung über die Aufstockung des Rettungsfonds EFSF näherrückte. Bei einer Probeabstimmung verfehlte Angela Merkel die ‘Kanzler-Mehrheit’ (FAZ, 7.9.11) und Mitte September spekulierte FDP-Wirtschaftsminister Rösler, unterstützt von CSU-Chef Horst Seehofer, laut über eine Insolvenz Griechenlands (vgl. taz, 14.9.2011). Zwar wurde die EFSF-Erweiterung am 29. September, mit Kanzler-Mehrheit, im Bundestag beschlossen, aber Anfang Oktober setzten die ‘Euro-Rebellen’ um Frank Schäffler einen Mitgliederentscheid über die FDP-Position zum ständigen Rettungsschirm ESM durch. Beim ESM, so ihre Kritik, handele es sich um „unbefristete Rettungsmaßnahmen, bei denen Deutschland für Schulden anderer europäischer Staaten haftet“ (Der Standard, 5.10.2011). In einem offenen Brief unterstützten zahlreiche Volkswirte die Initiative, darunter der spätere AfD-Vorsitzende Bernd Lucke (Friedrich 2015: 24). Auch wenn die Schäffler-Fraktion knapp unterlag, signalisierte die Abstimmung eine wachsende Distanz zwischen ordo-konservativen Akteuren und der Bundesregierung, die mit ihrer Strategie, Investoren und Gläubiger mit ‘deutschen Steuergeldern’ zu retten und den Stabilitätspakt autoritär zu reformieren, immer eindeutiger auf die Linie der autoritär-neoliberalen Fraktion eingeschwenkt war. Nach der Niederlage, so Sebastian Friedrich (2015: 24) über die national-neoliberalen ExpertInnen um Bernd Lucke, „wurde der Ton gegen Schwarz-Gelb schärfer“. Dass die Bundesregierung im November 2011 einen erneuten Versuch der EU-Kommission, Eurobonds als Krisenlösung zu diskutieren, brüsk abwehrte (vgl. taz, 24.11.2011) hing auch mit dem wachsenden Druck ordo-konservativer Kräften zusammen, für die Eurobonds wohl Anlass zu breiter Revolte gewesen wären.

 

Der Winter 2011/2012 brachte eine weitere Zuspitzung. Um das ‘Vertrauen der Märkte’ wiederzugewinnen, hielten es Akteure der autoritär-neoliberalen Fraktion für unabdingbar, den fiskal- und wirtschaftspolitischen Handlungsspielraum nationaler Parlamente und Regierungen weiter einzuschränken. Vor diesem Hintergrund verabschiedete der EU-Gipfel vom 8./9. Dezember 2011 nicht nur die Six-Pack-Richtlinien zur Verschärfung des Stabilitätspakts, sondern vereinbarte den sogenannten Fiskalpakt, der die beteiligten Staaten zwang, Schuldenbremsen verfassungsrechtlich zu verankern. Ursprünglich hatte Bundeskanzlerin Merkel gefordert, dass nur durch eine Reform der EU-Verträge nationalstaatlicher Handlungsspielraum ausreichend eingeschränkt und somit ‘Spardisziplin’ gewährleistet werden könne (vgl. taz, 9.12.2011). Dass es trotz solcher Forderungen bislang zu keiner EU-Vertragsreform kam und dass der Fiskalpakt Anfang März 2012 außerhalb des EU-Rechts, als zwischenstaatlicher Vertrag geschlossen wurde, lag an der Stärke der gegen diese Vorhaben stehenden Akteure im europäischen Kräfteverhältnis.

 

Auf der rechten Seite des politischen Spektrums mobilisierten ordo-konservative Kräfte in Deutschland gegen jede weitere Abgabe von Souveränität ‘nach Brüssel’, selbst wenn diese mit stärkerer Disziplinierung auch anderer EU-Länder verbunden waren. Die Verfassungsklagen des CSU-Abgeordneten Peter Gauweiler und von Ökonomen und Juristen aus dem späteren AfD-Umfeld (darunter Joachim Starbatty und Karl Albrecht Schachtschneider) gegen den Fiskalpakt im Juni 2012 machen dies deutlich. Die Ablehnung des Fiskalpakts durch die Akteure des ordo-konservativen Bündnisses war jedoch nicht durch ordoliberale Grundsätze begründet; Hans-Werner Sinn beklagte sich vor allem, dass der Pakt ein „Placebo“ sei und „nur in Deutschland ernst genommen“ werde (zit. n. Handelsblatt Online, 1.7.2012). Stattdessen richtete sich die Kritik aus nationaler Perspektive gegen eine Einschränkung der deutschen Souveränität und der Haushaltsrechte des Bundestags. Andere EU-Regierungen standen 2011/2012 unter noch stärkerem Druck euroskeptischer Kräfte. So blockierten die britische und die tschechische Regierung im Dezember 2011 den Abschluss des Fiskalpakts als EU-Vertrag wohl maßgeblich in Reaktion auf die Stärke euroskeptischer Kräfte in ihren Ländern.

 

Zugleich muss das Ausbleiben eines Versuchs, die EU-Verträge autoritär zu reformieren, auch als Reaktion auf das Mobilisierungspotenzial von Akteuren eines linkseuropäischen Hegemonieprojekts gewertet werden.4 Gestützt auf soziale Basen unter den Lohnabhängigen (öffentliche Angestellte, Teile der FacharbeiterInnen, prekarisierte Schichten, linksbürgerliche Milieus) und eine große Zahl organischer Intellektueller in Wissenschaft, Medien, Kultur- und

Bildungsreich waren es die oft auch gegeneinander handelnden Akteure dieses Projekts (Gewerkschaften, NGOs, soziale Bewegungen, linke Parteien), die zumindest in Griechenland und Spanien einen massiven Kampfzyklus gegen die autoritär-neoliberale Krisenbearbeitung in Gang setzten und auch in anderen Ländern Mobilisierungserfolge erzielten (vgl. Candeias/Völpel 2014). In Deutschland stellte sich der DGB offen gegen den Fiskalpakt (vgl. DGB 2012) und im französischen Präsidentschaftswahlkampf profilierte sich der sozialistische Kandidat François Hollande mit Forderungen nach einer Neuverhandlung des Pakts (Südwest Presse, 28.4.2012). Angesichts dieser Konstellation erschien vielen Akteuren eine neoliberale EU-Vertragsrevision als aussichtsloses Unterfangen. Der französische Präsident Sarkozy verwies im Oktober 2011 darauf, dass Vertragsreformen in Frankreich ein Politikum ersten Grades seien, nachdem die Bürger 2005 den EU-Verfassungsvertrag per Referendum abgelehnt hatten. Deshalb wolle er an den Verträgen nicht rütteln (Der Standard, 16.10.2011). Der schwedische Ministerpräsident Reinfeld bezeichnete eine Vertragsänderung als „gewagtes Unternehmen“ (zit. n. Taz, 9.12.2011).

 

Vor dem Hintergrund dieser politischen Verwerfungen spitzte sich die Eurokrise im ersten Halbjahr 2012 weiter zu. Im Januar senkten die großen Ratingagenturen ihre Bonitätsnoten für neun Euro-Staaten ab, darunter Frankreich, Italien, Österreich und Zypern (tagesschau.de, 14.1.2012). Die Zahl der Arbeitslosen in Europa erreichte mit 45 Millionen einen historischen Höchststand (taz, 24.1.2012). Ende Februar diagnostizierte die Kommission eine Rezession der Eurozone (KOM 2012) und in den folgenden Monaten verbreitete sich die Sorge, dass Hilfsanträge aus Spanien und Italien das Volumen der europäischen Rettungsschirme sprengen könnten (vgl. Handelsblatt, 14.6.2012; Illing 2013: 81, 85). Am 23. April 2012 senkte die Ratingagentur S&P die Bonität Spaniens und am 9. Juni beantragte Spanien ein ‘kleines’ Hilfspaket (100 Milliarden Euro) zur Bankenrettung beim EFSF. Als Syriza bei den griechischen Parlamentswahlen am 17. Juni vor einem Sieg zu stehen schien, gerieten Finanzmarktakteure in Unruhe (vgl. Berliner Morgenpost Online, 15.6.2012). Am 25. Juni beantragte auch Zypern Hilfen aus dem EFSF. Trotz all der beschlossenen Maßnahmen trieb die Eurokrise im Frühsommer 2012 ihrem Höhepunkt entgegen.

 

Phase 4: ‘Whatever it takes’ – Krisenhöhepunkt und Entspannung (Juli 2012 – März 2013)

 

Auch in Deutschland erfuhr die Krise im Sommer 2012 eine politische Zuspitzung. Am 29. Juni sollten Bundestag und Bundesrat über Fiskalpakt und ESM abstimmen. Während linkseuropäische Kräfte mit Aufrufen wie „Demokratie statt Fiskalpakt“ (taz, 15.3.2012) und „Europa neu begründen“ (2012) sowie den Blockupy-Aktionstagen Mitte Mai 2012 ihre Ablehnung demonstrierten, gab das ‘Mitte-Links-Spektrum’ seine Zustimmung. Auf einem Grünen-Parteitag warnte Fraktionschef Trittin seine Partei vor einem Scheitern des Fiskalpakts: „Was glaubt ihr, rief Jürgen Trittin, was dann an den internationalen Finanzmärkten los ist?“ (taz, 24.6.2012) Bitteren Widerstand erfuhren ESM und Fiskalpakt dagegen von den national-neoliberal argumentierenden Akteuren des ordokonservativen Bündnisses, u.a. vom Schäffler-Flügel der FDP, Teilen der CSU und den Netzwerken um Joachim Starbatty und Bernd Lucke (vgl. Friedrich 2015: 26f.). Für dieses Spektrum war der 29. Juni 2012 ein Fanal. Nicht nur wurden ESM und Fiskalpakt verabschiedet, direkt zuvor hatte Bundeskanzlerin Merkel auf einem EU-Gipfel ‘Zugeständnisse’ an Italien und Spanien gemacht. Im Gegenzug zur Einrichtung einer EU-Bankenaufsicht akzeptierte die deutsche Regierung, dass EFSF/ESM-Gelder künftig direkt an Banken vergeben werden und dass die Fonds Staatsanleihen von Eurostaaten kaufen konnten, ohne dass diese Länder umfassende Reformprogramme umsetzen mussten. Entrüstung und Wut im ordoliberal-konservativen Lager spitzten sich zu. Der CDU-Innen- politiker Wolfgang Bosbach kritisierte, die Gipfelbeschlüsse seien ein „großer Schritt in Richtung der Vergemeinschaftung von Schulden“ (taz, 29.6.2012). Der CSU-Abgeordnete Peter Gauweiler sowie eine Gruppe um Joachim Starbatty reichten noch am selben Abend Verfassungsklagen gegen ESM und Fiskalpakt ein. Die zunehmende Spaltung des neoliberalen Lagers wurde am 5. Juli 2012 offenkundig, als 172 ÖkonomInnen, angeführt von Hans-Werner Sinn, der Bundesregierung in einem offenen Brief vorwarfen, mit ihrer Zustimmung zu einer Bankenunion die Schulden ausländischer Privatbanken zu sozialisieren: „Die Steuerzahler, Rentner und Sparer der bislang noch soliden Länder Europas dürfen für die Absicherung dieser Schulden nicht in Haftung genommen werden, [...] Banken müssen scheitern dürfen.“ (Offener Brief der Ökonomen 2012). FPD-Wirtschaftsminister Rösler provozierte erneut mit Spekulationen über einen Euro-Austritt Griechenlands (vgl. tagesschau.de, 22.7.2012). Parallel zu dieser politischen Zuspitzung eskalierte die ökonomische Krisendynamik. Im Laufe des Juli senkte die Ratingagentur Moody‘s die Bonitätsnoten für Italien, Luxemburg, die Niederlande und Deutschland, schließlich sogar für den EFSF (vgl. tagesschau.de, 13.7.2012, 17.7.2012, 24.7.2012, 25.7.2012). Spanien war gezwungen, Rekordzinsen für neue Anleihen zu zahlen (tagesschau.de, 23.7.2012). Die britische Regierung wies die Kreditinstitute des Landes an, sich auf den Zerfall der Eurozone vorzubereiten (vgl. tagesschau.de, 31.7.2013).

 

In dieser Situation intervenierte EZB-Präsident Mario Draghi am 26. Juli 2012 mit einer Rede, in der er andeutete, die EZB werde notfalls unbegrenzt Staatsanleihen kaufen und so als ‘lender of last resort’ fungieren: „Within our mandate, the ECB is ready to do whatever it takes to preserve the euro. And believe me, it will be enough.“ (Draghi 2012). Diese Ankündigung kann als ein Wendepunkt der Eurokrise gelten. „Spekulationen gingen drastisch zurück, Zinssenkungen spülten viel Geld in die Märkte, Aktienkurse stiegen.“ (tagesschau.de, 31.7.2013). Am 2. August kündigte Draghi ein neues Programm zum Kauf von Staatsanleihen und andere ‘unkonventionelle’ Schritte der EZB an und am 6. September fällte der EZB-Rat einen entsprechenden Beschluss, dem Bundesbank-Präsident Weidmann, unterstützt von FDP-Wirtschaftsminister Rösler, scharf widersprach (tagesschau.de, 2.8.2012, 3.9.2012, 6.9.2012).5 Als das deutsche Bundesverfassungsgericht wenige Tage später, am 12. September, ESM und Fiskalpakt mit geringen Auflagen für verfassungsgemäß erklärte und damit die Klagen der Linkspartei sowie national-konservativer und ordoliberaler Kräfte aus dem Weg räumte, entspannte sich die Krisendynamik weiter (vgl. Die Welt, 13.9.2012).

 

Nach unserer Analyse kam es in der Krisendynamik des Sommers 2012 zu einem impliziten Allianzwechsel der autoritär-neoliberalen Fraktion. Deren Akteure reagierten auf den zunehmenden Druck gegenüber einer Krisenpolitik, die maßgeblich von in Deutschland verankerten ordo-konservativen Kräften beeinflusst gewesen war. Diese hatten alternative Strategien wie Schuldenvergemeinschaftung und expansive Geldpolitik erbittert bekämpft. Vor diesem Hintergrund kann die nun im Sommer 2012 modifizierte Krisenpolitik als Annäherung der autoritär-neoliberalen Fraktion an Positionen verstanden werden, die von einer weiteren Strömung des neoliberalen Hegemonieprojekts vertreten wurden, die wir als „Reregulierungsfraktion“ bezeichnen. Diese Fraktion umfasst die Mehrheitsströmungen von SPD und Grünen in Deutschland, die Regierung Hollande in Frankreich und andere Mitte-Links-Parteien in den Zentrumsstaaten sowie ihr politisches, wissenschaftliches und publizistisches Umfeld. Ihre Strategien sind als neoliberal zu bezeichnen, weil sie u.a. Troika-Memoranden, Six-Pack-Richtlinien und Fiskalpakt unterstützten. Zugleich waren sie zu einer begrenzten wirtschafts- und sozialpolitischen Kurskorrektur bereit und wollten die Krisenpolitik um keynesianische Elemente ergänzen, darunter Schuldenschnitt, Steuern auf Finanztransaktionen und Vermögen, Eurobonds oder Altschuldentilgungsfonds, Konjunkturpolitik durch staatliche Investitionen und höhere Löhne sowie eine expansive Geldpolitik (vgl. tagesschau.de, 11.8.2012; IfG 2011: 14; SPD 2013). Tatsächlich wurde die europäische Krisenpolitik ab Ende 2011 um genau solche Politiken angereichert. Bereits kurz nach dem Amtsantritt von Mario Draghi als EZB-Präsident weitete die Zentralbank ihre bereits ab 2008 zunehmend expansive Geldpolitik (u.a. Leitzinssenkungen, Anleihenkäufe) aus und senkte den Leitzins auf ein Rekordtief von 0,75 Prozent (tagesschau.de, 8.12.2011). Diese lockere Geldpolitik wurde im Frühjahr 2012 durch Lohnsteigerungen in Deutschland ergänzt: plus 6,3 Prozent in zwei Jahren im öffentlichen Dienst (SZ, 31.3.2012) und plus 4,3 Prozent in der Metallindustrie, der stärkste Abschluss seit 20 Jahren (Spiegel Online, 19.5.2012). Finanzminister Schäuble argumentierte, es sei „in Ordnung, wenn bei uns die Löhne aktuell stärker steigen als in allen anderen EU-Ländern“ (zit. n. Focus Online, 5.5.2012), und stellte klar, dass Deutschland damit den Forderungen anderer EU-Staaten und der Reregulierungsfraktion entgegenkam: „Diese Lohnsteigerungen tragen auch zum Abbau von Ungleichgewichten innerhalb Europas bei“ (ebd.). Die Beschlüsse des EU-Gipfels vom 29. Juni 2012 zum EU-Wachstumspakt und einer erleichterten Kreditvergabe durch den ESM reihen sich in diese Linie ein und wurden als Niederlage für die bisherige harte Linie der deutschen Regierung interpretiert (vgl. taz, 29.6.2012). Zudem hatten sich SPD und Grüne ihre Zustimmung zum Fiskalpakt mit der Unterstützung der Bundesregierung zu einer Finanztransaktionssteuer abkaufen lassen (vgl. tagesschau.de, 21.6.2012). Nur äußerst unwillig stimmte die FDP diesem Kompromiss zu, der den schrittweisen Allianzwechsel der autoritär-neoliberalen Fraktion anschaulich symbolisiert. Und während der CSU-Abgeordnete Gauweiler beim Bundesverfassungsgericht einen Eilantrag gegen das Anfang September 2012 beschlossene EZB-Programm zum Anleihenkauf einreichte, wurde Draghis offensive Geldpolitik sowohl von Bundeskanzlerin Merkel als auch Finanzminister Schäuble unterstützt (Der Standard, 10.9.2012). Schäuble kritisierte sogar die öffentlichen Attacken von Bundesbank-Präsident Weidmann gegen den EZB-Kurs (Berliner Morgenpost, 16.9.2012). Was hier aufscheint, ist ein Allianzwechsel der autoritär-neoliberalen Fraktion, die ihre alten Alliierten aus dem ordo-konservativen Bündnis immer kräftiger vor den Kopf stieß.

 

Diese Spaltung im bürgerlichen Lager führte dazu, dass sich ordo-konservative Kräfte zunehmend radikalisierten und verselbstständigten. Am 15. September 2012, neun Tage nachdem die EZB den Kauf von Staatsanleihen beschloss und drei Tage nachdem das Bundesverfassungsgericht die Klagen von Peter Gauweiler und der Starbatty-Gruppe gegen ESM und Fiskalpakt zurückgewiesen hatte, gründeten ordo-konservative Akteure den Verein Wahlalternative 2013. Zu den Gründungsmitgliedern gehörten die Ökonomen Bernd Lucke und Joachim Starbatty, der konservative Publizist Konrad Adam und CDU-Politiker wie Alexander Gauland. Der Gründungsaufruf sah die Bundesrepublik „in der schwersten Krise ihrer Geschichte“ (Wahlalternative 2013), forderte eine Auflösung des Euro und beklagte: „Zahlmeister ist Deutschland. Deutschland garantiert für die Schulden fremder Staaten, rettet fremde Banken und [...] ein Ende ist nicht abzusehen.“ (ebd.; vgl. Friedrich 2015: 25ff.; Berliner Morgenpost, 4.10.2012). Nach Sebastian Friedrich (2015: 27) war die Gründung eine Reaktion auf das Scheitern dieses Spektrums, den Kurs der Bundesregierung zu beeinflussen: „Lucke & Co. dürften erkannt haben, dass ihre Strategie, durch öffentlichen Druck auf die Union und FDP einzuwirken, gescheitert war. Vor allem von der FDP, der die Wirtschaftswissenschaftler_innen am nächsten gestanden haben dürften, war kaum mehr etwas zu erwarten.“ Im Februar 2013 transformierte sich

die Wahlalternative 2013 zur neuen Partei Alternative für Deutschland (AfD). Gründung und Aufstieg der AfD, das wird hier deutlich, waren nicht einfach die ‘Kehrseite der Medaille’ einer im Zuge der Eurokrise vertieften Integration, sondern das Resultat eines Allianzwechsels innerhalb des bürgerlichen Machblocks.

 

Die im Spätsommer 2012 einsetzende Entspannung der Eurokrise wurde bis zum Frühjahr 2013 immer wieder unterbrochen, etwa als die griechische Regierung nur mit äußerster Mühe am 7. November 2012 ein weiteres Sparpaket gegen heftigen gesellschaftlichen Widerstand durchsetzen konnte oder als Zypern Anfang 2013 wegen steigender Zinsaufschläge an den Rand einer Insolvenz rutschte. Am 25. März 2013, nach dramatischen Wochen mit Straßenprotesten und Kapitalverkehrskontrollen und auf den Tag drei Jahre nach dem Beschluss des ersten Hilfspakets für Griechenland kam die zypriotische Regierung mit der Troika zu einer Einigung.

 

Phase 5: Latenzphase und euroskeptischer Backlash (April 2013 – Dezember 2014)

 

Das EFSF-Hilfspaket für Zypern und der damit verbundene Schuldenschnitt leiteten auf ökonomischer Ebene eine fast zwei Jahre anhaltende Latenzphase der Eurokrise ein. Auch wenn es immer wieder zu Zuspitzungen kam, entwickelten sich Refinanzierungs-Zinssätze, Börsenkurse und Wachstumsraten im Vergleich zur Krisenphase von 2010 bis 2012 relativ stabil. Die zentralen Dynamiken im deutschen Machtblock bestanden in der fortgesetzten Distanzierung zwischen der autoritär-neoliberalen Fraktion und ihren einstigen ordo-konservativen Alliierten und der Annäherung der Ersteren an die Mitte-Links-Reregulierungsfraktion, symbolisiert und verdichtet in der Großen Koalition ab Dezember 2013, die allerdings, vom 2015 eingeführten Mindestlohn abgesehen, die deutsche Krisenpolitik nur wenig zu modifizieren schien.

 

Die Verselbstständigung nationalkonservativer und ordoliberaler Kräfte drückte sich u.a. in den Wahlerfolgen der AfD aus, die bei der Bundestagswahl im September 2013 nur knapp an der Fünfprozenthürde scheiterte, dafür aber in das Europaparlament (Mai 2014) und die Parlamente Sachsens (August 2014) Brandenburgs und Thüringens (September 2014), Hamburgs (Februar 2015) und Bremens (Mai 2015) einzog. Dass sich umgekehrt Akteure der autoritär-neoliberalen Fraktion von ihren ordo-konservativen KritikerInnen abgrenzten, demonstrierte eine Resolution von sieben Wirtschaftsverbänden (darunter BDI und BDA) aus sechs Euroländern kurz vor der Bundestagswahl im September 2013 (vgl. FR, 17.9.2013). Mit ihrem Vorstoß, so die Frankfurter Rundschau, machten „die Spitzenverbände deutlich, dass der Erhalt der gemeinsamen Währung im Interesse der deutschen Wirtschaft liegt, auch wenn deutsche Steuerzahler Opfer bringen müssen. Die Kosten, die durch die Rettung entstehen können, seien allemal geringer als die Belastungen durch einen Zerfall der Währungsunion.“ (ebd.) Die Resolution richtete sich gegen KritikerInnen in den eigenen Reihen. So hatten die Stiftung Familienunternehmen und der Verband der Familienunternehmen die Krisenpolitik der Regierung Merkel heftig angegriffen und den Eindruck erweckt, Teile des deutschen Mittelstandes könnten mit dem Zerfall der Eurozone leben und würden deshalb die AfD im Bundestagswahlkampf unterstützen (vgl. ebd.; Friedrich 2015: 89ff.). Dass die AfD letztlich an der Fünfprozenthürde scheiterte, nicht in den Bundestag einzog und es stattdessen zu einer schwarz-roten Koalition kam, die die neue Allianz aus Reregulierungs- und autoritär-neoliberaler Fraktion gleichsam abbildete, muss als politische Niederlage des ordo-konservativen Bündnisses gewertet werden. Zugleich bedeuten das Ausscheiden der FDP aus dem Bundestag und die Etablierung der Großen Koalition, dass diese Kräfte des Machtblocks auf der politischen Bühne nicht mehr hinreichend eingebunden und repräsentiert waren, was die darauffolgenden Erfolge der AfD sicher begünstigte.

 

So artikulierte die Europawahl im Mai 2014 mit dem Erfolg der AfD und weiterer rechtspopulistischer und euroskeptischer Kräfte u.a. aus Großbritannien, Frankreich und Ungarn, dass die Folgen der Eurokrise auch zu einer Erosion der Unterstützung für die neoliberale Integrationsweise und das Staatsprojekt Europa insgesamt geführt hatten. Die Wahlerfolge von Podemos in Spanien und Syriza in Griechenland zeigten zugleich, dass die autoritär-neoliberale Krisenlösung auch von links herausgefordert wurde. Tatsächlich war es der Wahlsieg Syrizas Ende Januar 2015, der eine neue politische und ökonomische Dynamik einläutete.

 

 

4. Machtkämpfe nach dem Syriza-Wahlsieg 2015

 

Im Dezember 2014 scheiterte die konservative griechische Regierung von Antonis Samaras daran, eine Mehrheit für die Wahl eines neuen Staatspräsidenten zustande zu bekommen. Die darauf folgenden Neuwahlen am 25. Januar 2015 gewann das linksradikale Wahlbündnis Syriza mit über 36 Prozent der Stimmen. Die neue Regierung aus Syriza und der rechtsnationalen ANEL-Partei trat mit dem Versprechen an, die bisherige Austeritätspolitik zu beenden. Doch bereits die Vereinbarung zwischen Griechenland und den anderen Eurostaaten vom 20. Februar 2015, die das zweite Hilfspaket um vier Monate bis Ende Juni 2015 verlängerte, machte deutlich, dass Syriza sich gezwungen sah, eine ‘Austeritätspolitik light’ zu betreiben. In den folgenden Monaten entfaltete sich eine komplexe Auseinandersetzung zwischen der Syriza-Regierung, den Troika-Institutionen und den anderen EU-Staaten. Doch anstatt deren politische Differenzen offen zu legen, hatte die Berichterstattung eines Großteils der deutschen Presse den Effekt, „den Inhalt der Auseinandersetzung zu vernebeln“ (Kritidis 2015). Die FAZ titelte in Athen seien „Halbstarke“ (FAZ, 31.1.2015) an der Regierung; Finanzminister Yannis Varoufakis habe ein „riesengroßes Ego“ (Handelsblatt, 17.3.2015) und verwechsle den Verhandlungssaal mit dem Hörsaal (Zeit Online, 12.5.2015). Erst im Laufe der dramatischen Konfrontation ab Ende Mai 2015 wurden die politischen Konturen des Konflikts sichtbar. Als das Auslaufen des zweiten Hilfspakets und eine IWF-Deadline für die Rückzahlung von 1,6 Milliarden Euro Ende Juni näherrückte, forderte die Euro-Gruppe die Syriza- Regierung am 27. Juni ultimativ auf, ein derart hartes Austeritätsprogramm zu akzeptieren, dass sich Syriza gezwungen sah, die Verhandlungen abzubrechen und am 5. Juli ein Referendum über die Forderungen abzuhalten (SZ.de, 27.6.2015, Neues Deutschland, 26.6.2015). Der Versuch von Kanzlerin Merkel und anderen, per politischer Propaganda Alexis Tsipras die Schuld für die Ablehnung eines ‘überaus generösen’ Angebots zuzuweisen, missglückte, als klar wurde, dass dieses Angebot – entgegen Merkels Behauptungen – weder ein substanzielles Bekenntnis zu Umschuldungen noch zu zusätzlichen, im EU-Haushalt nicht sowieso vorhandenen „Wirtschaftsinvestitionen von 35 Milliarden“ enthalten hatte (SZ.de, 28.6.2015; vgl. SZ 30.6.2015). Der griechische Finanzminister Varoufakis verwies nach Ankündigung des Referendums darauf, dass Troika und Eurogruppe von den Inhalten des ursprünglichen Memorandums of Understanding (MoU) des zweiten Hilfspakets faktisch nicht abgerückt seien: „It is as if we were told, to paraphrase Henry Ford, that we could have any reform list, any agreement, as long as it was the MoU.“ (Varoufakis 2015) Doch obwohl die zentralen Inhalte des MoU im Referendum mit 61 Prozent abgelehnt wurden, sah sich die Regierung Tsipras durch die rücksichtslose, einen Grexit offen in Kauf nehmende Machtpolitik der deutschen Bundesregierung gezwungen, am 13. Juli noch härterer Austerität und einem demütigenden Souveränitätsverlust zuzustimmen, um ein drittes Hilfspaket zu erhalten (vgl. SZ, 14.7.2015).

 

Analysiert man die (bundesdeutsche) Kräftekonstellation im Sommer 2015, erscheint es wenig überraschend, dass die „Position der Gläubiger ... im Wesentlichen seit dem ersten Tag der Verhandlungen mit der neuen griechischen Regierung unverändert“ ist (Sablowski 2015: 1). Das ordo-konservative Bündnis, das weiterhin einen Austritt Griechenlands und einen Schuldenschnitt beförderte (vgl. FAZ, 6.1.2015; Berliner Morgenpost, 28.4.2015), war durch das Ausscheiden der FDP aus dem Bundestag und durch die Flügelkämpfe einer paralysierten AfD zwar geschwächt, doch eine mediale Hetzkampagne u.a. durch die BILD-Zeitung gegen Griechenland trug dazu bei, dass in Umfragen deutliche Mehrheiten der deutschen Bevölkerung einen Grexit unterstützten (vgl. Die Welt, 11.7.2015; SZ.de, 8.7.2015). Entscheidend war, dass die Ablehnung nicht länger auf rechtskonservative Strömungen beschränkt blieb, sondern sich auch ein Strategiewechsel der autoritär-neoliberalen Fraktion vollzog, deren Akteure zunehmend davon ausgingen, die Folgen eines Grexits seien beherrschbar und die Eurozone würde durch den Ausschluss eines Landes mit anti-neoliberaler Regierung gestärkt. So erklärte BDI-Präsident Ulrich Grillo, zentraler Akteur der autoritär-neoliberalen Fraktion, es könne „kein Halten eines Mitglieds um jeden Preis geben. Denn dadurch entsteht eine gefährliche Aufweichung der geltenden Regeln und des Gemeinschaftsrechts. Dieser Preis ist zu hoch“ (zit. n. FAZ, 13.6.2015). Auch Angela Merkel machte vor Beginn des Euro-Gipfels am 12. Juli 2015 deutlich, dass es „keine Einigung um jeden Preis geben“ werde (zit. n. Focus Online, 13.7.2015). Nach außen noch entschiedener agierte Finanzminister Schäuble, zumeist ein Sprecher der autoritär-neoliberale Linie, der spätestens ab dem Frühsommer den Grexit zu seinem strategischen Ziel gemacht zu haben schien – so jedenfalls die Einschätzung des ehemaligen griechischen Finanzministers Varoufakis: „Based on months of negotiation, my conviction is that the German finance minister wants Greece to be pushed out of the single currency to put the fear of God into the French and have them accept his model of a disciplinarian eurozone.“ (zit. n. The Guardian, 10.7.2015)

 

Eine ähnliche Verhärtung der Positionen zeichnet sich bei den deutschen Akteuren der neoliberalen Reregulierungsfraktion ab, die durch die Mehrheitsströmungen von SPD und Grünen repräsentiert werden. Während sich die Grünen über die Ablehnung der Troika-Bedingungen im griechischen Referendum „enttäuscht und vor allem in großer Sorge“ (Bündnis90/Die Grünen 2015) zeigten und das Oxi („Nein“) der griechischen Bevölkerung als „Bürde für die weiteren Verhandlungen“ (ebd.) denunzierten, wiesen sie einen Grexit zurück. Kompromissloser äußerte sich die SPD, deren Vorsitzender Sigmar Gabriel nach Ankündigung des Referendums die Bedeutung der anti-neoliberalen Herausforderung durch Syriza offen aussprach. Die Syriza-Regierung habe die Troika-Forderungen abgelehnt, „weil sie politisch und ... ideologisch eine andere Eurozone will. Ich bin der festen Überzeugung, dass die Eurozone insgesamt in Gefahr geriete, wenn wir diesem Druck gefolgt wären.“ (zit. n. ARD Brennpunkt, 29.6.2015)

 

Die skizzierte Kräftekonstellation und insbesondere der Strategiewechsel von Teilen der autoritär-neoliberalen und der Reregulierungsfraktion, die zunehmend bereit schienen, eher einen Grexit zu riskieren als die neoliberale Verfassung der Eurozone durch Zugeständnisse an Syriza zu lockern, erklärt wohl zu einem Gutteil die Kompromisslosigkeit der deutschen Regierung. Deutlich wird somit, dass die an sich über Kreuz liegenden Fraktionen des Machtblocks in ihrer Gegnerschaft zur Infragestellung der bisherigen Austeritätspolitik durch Syriza – trotz aller Differenzen untereinander – zusammenstehen. Die Aufrechterhaltung der disziplinär-austeritätspolischen Agenda, scheint der kleinste gemeinsame Nenner zu sein. Die Frage, die angesichts des offenkundigen Scheiterns von Syriza im Raum steht, ist, ob und wie lange diese vordergründige Einheit Bestand haben wird.

 

 

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- - -

 

Fußnoten

 

(1) Die Untersuchung stützt sich neben Sekundärliteratur auf eine Medienanalyse von

Artikeln der deutschsprachigen Presse, die mit Stichwortsuchen in den Datenbanken

LexisNexis und WISOnet sowie den Webseiten einzelner Zeitungen und Online-Quellen

erhoben wurden. Für die Unterstützung hierbei und hilfreiche Kritiken bedanken wir

uns sehr bei Matthias Müller. Darüber hinaus danken wir Mathis Heinrich und der

PROKLA-Redaktion für wertvolle Hinweise.

 

(2) Für eine ausführliche Darstellung des theoretischen Hintergrunds der HMPA und ihrer

Begriffe sowie ihrer Nutzung in der Forschungspraxis siehe Buckel et al. (2014) und

Kannankulam/Georgi (2012).

 

(3) Die folgende narrative Darstellung stellt unsere Ergebnisse aus den drei HMPA-Analyse-

schritten (Kontext, Akteure, Konfliktprozess) bewusst nicht separat und nacheinander

dar, sondern versucht, diese zu verweben, indem sie zwischen chronologischer Rekonstruk-

tion, Akteursanalyse und Kontextualisierung changiert.

 

(4) Generell lassen sich die europapolitischen Strategien linksorientierter Kräfte, so unsere an

anderer Stelle entwickelte Argumentation, begrifflich in ein proeuropäisch-soziales, ein

national-soziales und ein linksliberal-alternatives Hegemonieprojekt fassen (vgl. Buckel

et al. 2014: 71ff.).

 

(5) Tatsächlich wurden bislang (Mitte Juli 2015) im Rahmen dieses Outright Monetary

Transactions-Programs (OMTP) durch die EZB keine neuen Anleihen gekauft. Allein

die Ankündigung eines möglichen Kaufs hatte Finanzmarktakteure beruhigt.

 

 

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als PDF erhältlich unter: http://www.prokla.de/wp/wp-content/uploads/2015/georgi-kannankulam.pdf

 

zuerst veröffentlicht in: PROKLA. Verlag Westfälisches Dampfboot, Heft 180, 45. Jg. 2015, Nr. 3, 349 – 369.