Den Knoten achten!

Ekkehart Krippendorff „Lebensfäden. Zehn autobiographische Versuche“

Lebensfäden. Zehn autobiographische Versuche
by
Ekkehart Krippendorff
Publisher:
Graswurzelrevolution
Published 2012 in
Heidelberg
476
pages
ISBN-13:
ISBN 978-3-939045-19-9
Price:
24,90 Euro

Buchbesprechung zu: Ekkehart Krippendorff: Lebensfäden. Zehn autobiographische Versuche, Verlag Graswurzelrevolution, Heidelberg 2012, 476 S., 24,90 Euro, ISBN 978-3-939045-19-9

 

„Allerdings hat das Tuch, das aus diesen Fäden gewebt wurde, eine dominierende Farbe: Es ist ein rotes, und das heißt ein politisches Tuch.“ (13)

 

„Greift nur hinein ins volle Menschenleben, wo ihr´s  anpackt, da ist´s interessant.“

Dieses Goethewort gilt für jedes Menschenleben. Auch und gerade, wenn es nie zu sich gekommen ist, weil Zeit und Ge­sellschaft die in jedem Leben gegebene Chance, sich zu entwickeln, zu lernen, Eigenes vorzustellen, verstellt und zunichte gemacht haben. Goethes von ihm in schier unfassbarer Fülle gelebtes Wort gilt für die autobiographischen Aufzeichnungen des Goethe-Enthusiasten Ekkehart Krippendorff (EK) in eigentümlichem Maße. Und das macht sie eigentümlich spannend, leselustig und mit zehn Mal sich erneuerndem Lesege­winn.

Von den zehn Lebensfäden, erkenntlich nicht in einem Schreibzug ausgelegt und gewiss mit Bedacht nicht zusam­mengezwirbelt, gar als fertiges Tuch endlich präsentiert, beginnt jeder für sich, verläuft nicht an festem zeitlichen oder thematischen Geländer entlang und strebt nicht krippendorff­teleologisch zu einem vorher­sehbaren Ziel. Mich, seit Ende der sechziger Jahre mit EK befreundet, von seinem Vorhaben nicht informiert, hat die anscheinend nicht verhakte Kette in jedem für sich geltenden Glied, in jedem Anfang, Verlauf und Ende überrascht und immer erneut hingezogen.

Außer ihrem Autor als Subjekt, als gespiegelten und neu schaffend spiegelndes ‚Objekt’, sprechen die eigenthematisch zentrierten biographischen Essays nur grob zeittümlich und aspek­tereich jeweils für sich selbst. Fäden mit Namen als da sind (Anführungszeichen bitte hinzudenken): Krieg, Theater, Universitäten, Nazismus, Amerika, Juden, Italien, DDR, Musik, Religion und als Anhang, - nun in meinen Worten – krip­pendorffsche Namenskunde. In freundschaftlicher Ironie gesprochen, erklärt sie, selbstredend durch historische und fa­miliengeschichtliche Hinweise angereichert, vor allem das doppelte den Namen wie mit Ausrufezeichen endende „ff“, das man als Narr ein nahes politisches Leben lang sorgsam zu gebrauchen lernt. Es handelt sich um den politisch am zartesten berührten Postkurs so­zusagen.

Man mag zusammenhangserpicht die wie disparaten Essays doch gruppieren. Dies kam mir, als ich jedes einzelne Stück mir in seiner thematisch – literarischen ‚Logik’ und seinen Auffälligkeiten notiert hatte.

Dann könnte man die ersten vier Kapitel als Ausdruck der konstituierenden Umstände der Zeit und Krippendorffs perso­nenzentrierter Methode ansehen: Krieg, Theater, Universität, Nazismus. Amerika, Juden, Italien und die DDR signalisierten EKs kosmopolisch ebenso weiten wie lokal, regional heimatlich pointierten wie weitge­spannten Horizont. Die beiden letzten Fäden, Musik und Religion erfüllten vom Ende her, den Beginn aufhebend, die ur­musikalische Symphonie, die EK gemäß - mit meiner demütigen Nachfolge - Menschen und ihre Politik, sprich ihren sich erfüllenden Umgang miteinan­der durchtönen sollte.

„Zumindest der europäischen Musiksprache der Klassik und Romantik scheint es zu gelingen, einen unmittelbaren Zugang zu Menschen in allen Kontinenten, Kulturen und Religionen zu finden – wenn ihr Gelegenheit dazu gegeben wird. Und dann wirkt sie, und sei es auch nur für einen kurzen historischen Augenblick, frie­densstiftend, weil sie eine Sprache spricht, die sich in den Diskursen der Macht und ethnischen Exklusivität entzieht. … Diese, das Politische transzendierende und zugleich einbeziehende Dimension der Musik habe ich erst in den letzten Jahren entdeckt und erkannt… (377ff.; vgl. besonders das auf Seite 380 zitierte Interview von Isaak Stern).

Darum auch das EK und allen Menschen zu gönnende, lebenslange Substanz gewährende Glück: „In den vielen Jahren des musikalischen Dilettierens …hat es vielleicht zwei, höchs­tens drei kurze Augenblicke ge­geben, wo die Musik plötzlich durch mich hindurch spielte , wo ´es´ durch mich musizierte und ich gewissermaßen neben mir stand, staunend über das, was wir da Wunderbares im Zusammenspiel scheinbar ohne eigenes Zutun hervorbrachten.“ EK spielt Bratsche.

 

Zurück zu Zeit und Leben konstituierenden, freilich alles andere als mechanisch bedingenden Umständen und dem, was ich als EKs Methode, dargelegt am „Theater“-Kapitel, bezeichnet habe.

Wer im Frühjahr 1934 ´arisch´ deutsch geboren wurde – wie der Rezensent drei Jahre später -, wuchs im vorschattenden na­zistischen Krieg in einer mit kaum gekannten Ausnahmen versehenen gesamtgesell­schaftlich totalen Institution auf. Das heißt mitsamt der knäb­lichen Marinebegeisterung „war selbstverständlich (alles) vom Krieg besetzt“ (27).

Der Krieg war nazistisch getränkt bis hin zum Endsieg samt der selbstverständlichen Füh­rerprämisse mit „Jungvolk“ und „Fähnlein“ – Übung. Die Fäden „Krieg“ und „Nazismus“ sind darum schier gleichsinnig.

Kindliche „Unschuld“ wirkte im Elterhaus mit sympathisch mitgehenden Eltern doppelt. Zum einen inhalierte der Knabe noch ohne eigene Hemmungen Kriegerisches, Nazistisches im Doppelpack. Und was aus ihm ohne die „Bedingungslose Niederlage“ (8.5.1945) geworden wäre?

Der passivische Ausdruck trifft den Kern unserer meist nicht nur kindlich primären „Außenleitung“ (David Riesman). Zum anderen war es möglich nach dem spannend, ja sympathisch erfahrenen Einmarsch der GIs aus den USA - bald folgten den Vereinbarungen der vier Alliierten entsprechend in der Nähe Halberstadts russische Soldaten -, dass Ekkehart, der Kleine, sich auf die neue Situation schwerelos einstellte. Allenfalls so etwas wie vor-traumatische, später aufsteigende und nachhaltige Reste blieben zurück. So konnte es im Kontext gewandelter und sich wandelnder Um­stände geschehen, dass sich die Überzeugung formte.

Zuerst: „Nie wieder Krieg auf deutschem Boden!“. Ihr analog war die Einsicht, in einem Brief an die Eltern 1962 aus den USA formuliert. „Ich bin sehr bitter geworden in allem, was meine ´Nationalität´ angeht. Und ich weiß, dass ich Grund dazu ha­be.“ (225 f.)

Der noch eher vordergründigen Überzeugung folgte auf den lernenden Wegen des Heranwachsenden, des Studierenden und dann des selbst wissenschaftlich Forschenden und politisch Agierenden ohne künstliche und pseudoneutrale Trennung, die radikale Ablehnung von Krieg und Militär als angeblichen „Mitteln der Politik“, wahrhaft jedoch Anti-Politik schlechthin. Als allgemeines Lernergebnis formuliert: „Woraus sich eine kompromisslose Militärgegnerschaft speist? Ich kann für mich drei Wurzeln angeben: Die erste ist die frühe Kriegserfahrung und die mich ständig begleitende, unablässige Beschäftigung mit der NS-Vergangenheit mit politisch radikalisierender Konsequenz – von da an war der Schritt zur Militärkritik nicht weit. Die zweite ist eine wissenschaftlich geleitete Erkenntnis: Aus der intensiven Beschäftigung mit Staats-Kriegsge­schichte hatte ich die ‚historische Logik politischer Unvernunft’ herausdestilliert und gelernt, dass deren Verdingli­chung, Militär und Krieg, nur zu entkommen ist, indem man versucht, beiden wenigstens wissenschaftlich die Legitimation zu entziehen – mit der Perspektive künftig möglicher ‚Mi­litärfreiheit’(meine späte Beschäftigung mit der großen Figur Mahatma Gandhis und seiner Lehre von der Gewaltfreiheit hat dem zusätzliches Gewicht und Substanz gegeben). Die dritte Wurzel unbedingter Militärgegnerschaft erwuchs aus der negativen Erfahrung mit den durch Befreiungs- und Revolutionskriege zur Macht gekommenen neuen politischen Klassen in der Dritten Welt: Kuba, Angola, Mosambik und nicht zuletzt Vietnam. …Die Erfahrung … hat mich eines Besseren belehrt,…: Kein guter Zweck wird durch die schlechten Mittel (Gewalt, Krieg) geheiligt, er wird vielmehr deren erstes Opfer.“ [S.65 f.]

Diesem Lernergebnis analog ist im „Nazismus“-Faden nicht nur das, was EK nach einem Besuch im KZ sein „Dachau-Gelübde“ nennt (231, möge es jede und jeder für sich konsequent ablegen können). Ihr entspricht vielmehr eine vom sophokle­ischen Ödipus inspirierte Einsicht: „Vielleicht kommt man der Eigendynamik meiner ganz unschuldig naiv-neugierigen persönlichen Suche nach Wahrheit über das Dritte Reich am Nächsten mit Hilfe der großen Erkenntnis-Parabel von ‚König Ödipus’: Ödipus will die Ursachen der Krankheit herausfinden, von der die thebanische Gesellschaft befallen ist – und muss am Ende entdecken, dass er selbst unwissend das Unheil über die Stadt gebracht hat; die zunächst leidenschaftlich-pflichtgemäß angeordnete und vom König auch selbst betriebene Ursachenforschung bringt die Wahrheit ans Licht, die rational-instrumentell, in traditionellen Kategorien von ‚Verbrechen’ und ‚Strafe’ nicht zu fassen ist. Im Falle des Nazismus war das der Holocaust, der im Diskurs der Fünfziger Jahre verdrängt worden war mittels der routinemäßigen Erwähnung der ‚sechs Millionen Juden’“ [S.222] (und, verschärft der Rezensent, durch später aufgesetzte Gesichtsmasken aufwändiger symbolisch ohne Konsequenzen verleugnet wird).

 

Angesichts der doppelt nazis­tisch und kriegsgeschlossenen Situation, in der der Junge Ek­kehart bis 1945 aufwuchs, können die letzten Jahre des Jugendlichen, dann die des Stu­denten nur als solche des fast traumhaften Aufbruchs ins Freie und Selbstständige bezeichnet werden. - Die Krippen­dorffs waren zwischenzeitlich nach Düsseldorf umgezogen. - Und das trotz der bedrückend miefigen Adenauerzeit voll des aus allen Ritzen muffelnden Verdachts: „Ich rieche, rieche Kommunistenfleich“, dem negativen, gegen DDR und Sowjet-Union stabilisierten aggressiven Selbstbewusstsein der BRD. Zurecht unterstreicht EK eine der Hauptfunktionen des ideologischen, also blinden Antikommunismus. „Die Universitäten taten im Kleinen das, was im Großen in der Tat eine reflektierte Strategie der sich formierenden politischen Klasse der Bundesrepublik war.

Durch Antikommunismus ideologisch den ‚inneren Frieden’ herzustellen und mit der Restauration des Kapitalismus die ‚brauchbaren’ Teile der deutschen ökonomischen Eliten – und nicht zuletzt der Minis­terialbürokratie und die höheren Offiziere der Wehrmacht für den Aufbau der Bundeswehr – zu rehabilitieren, die  re-edu­cation abzuschließen und den alten Kampf gegen die Linke wieder aufzunehmen.“(135)

Trotz des restaurativen Geists der Epoche also (Walter Dirks) boten die Universitäten der 50ger, der 60ger Jahre den privilegierten Bürgersöhnen und sich mehrenden Töchtern eine Freiheit des Studierens ohne knospende Vernunft erfrierenden Prüfungsdruck, selbstbe­stimmte Lernchancen mitten in der ihrerseits restaurierten Or­dinarienuniversität und der anschließenden Karriere zu­hauf. Angesichts des NS-Kriegshin­tergrunds und angesichts des heute geltenden Vordergrunds, der nur als ökonomisch bürokratisches Verbrechen an Kindern und Jugendlichen qualifiziert werden kann, „Exzellenz“ invers, war dies ein Privilegium der Situation und der sozialen Herkunft, das für diejenigen, die es genießen konnten, kaum hoch genug zu werten ist.

Käme man auf die Universität mitten im erneuerten dreiteiligen Bildungssystem zu sprechen, wäre allerdings mehr Wasser als Wein angezeigt. EK erlebte jedenfalls nicht nur letzte Lichtungen einer zu Tode programmierten Lebensform rund um eine schon welk ge­wordene „Idee der Universität“. Er schlug sich trotz aller Hürden professoraler Machtarro­ganz, ja, er wurde in eins mit seinen dadurch mitbewirkten amerikanischen und italienischen Lehrjahren (durchgehend solchen des Lernens), zur geprägten Person, deren persönliche und wissenschaftliche Substanz gerade darum sich kosmopolitisch entwickelte.

 

Den an zweiter Stelle ein Stück weit ausgeworfenen Lebensfa­den, genannt „Theater“ habe ich nur deshalb nachgerückt, weil er in nicht eigens erwähnten Fäden überall mitspinnt und krippendorffisch Charakteristisches zum Ausdruck bringt.

Vom frühen Berufswunsch, Regisseur zu werden, übers Kennen- und Liebenlernen von Eve Slatner, seiner baldigen Frau, rund ums Brechttheater mit He­lene Weigel und anderen unvergessenen Schauspielern am Schiffbauerdamm bis hin zum Wunsch, im Alter als Theaterkritiker noch vorführen zu können, was – abwandelnd mit Kant zu reden – eine Kritik theatralischer Urteilskraft vorstellungskräftig mit Fundament ausmachte, reicht das, was EK am Theater fasziniert. Es zeigt, seine anhaltend jugendliche Bereitschaft, sich „betreffen“ zu lassen, mit jedem Stück nicht nur Brechts, worauf er es gemünzt hat, „ein Stück Welt, Welterfahrung, Welterkennt­nis, Weltanschauung“ (92) zu lernen. Also selbst an „Welt“ zuzunehmen. Und dass es gerade das Theater ist, dem solche „Sendung“ zugemutet wird, hat gewiss auslösend mit dem ersten mimetisch lernenden Feuer zu tun, das den jungen EK entzündet hat.

In ihm kommt aber EKs mehr und dauernde Zugewandtheit zu Menschen und zur Wirklichkeit in ihnen und durch sie zum Ausdruck.

Diese Empathie – das zeitweise inflationär gebrauchte Wort, das trifft, möge man nicht nachsehen, sondern original üben - mit künstlerisch Gestaltetem und Gestalten eingetaucht in möglichst textgenaues Theater und kompositionsgetreue Musik unbeschadet aller darum souveränen Kunst der Interpretation, hat mit dem Menschlichen fast Übermenschlichen der Kunst zu tun, wie es theatralisch musikalisch uns fassbar wird und gerade im Spiel, in der Mehrdimensionalität und ihrer Tiefenwirkung über uns, uns inne machend, hinausgeht (nur ein außerkrippendorffscher Hinweis auf Wassili Grossmans wundersamen Bericht über die Wirkung eines Malereiwunders am Beginn der Tauwetterzeit in Moskau mag angemessen sein: „Die Sixtinische Madonna“ in dessen Ausatzband „Tiergarten“). Mit EKs „theatralischer Sendung“ als Sendungsbe­wusstsein ungewöhnlicher Lern-, Bewusstwerdungs- und Nachahmungs-, ja Handlungsmöglichkeiten dürfte es zusammenhängen, dass er zuweilen in Gefahr gerät, Menschen vorbildhaft und handlungsfähig als Einzelpersonen zu hoch zu stellen, so auch die Wirkung von Theater- und Musikstüc­ken an und für sich. Zuweilen neigt er in gleicher Weise dazu, siehe seine Äußerungen zu Obama im Amerika-Kapitel, mögliche und nötige Analyse noch so ärgerlicher Sachzusam­menhänge an den Rand zu drängen. Als wäre es nicht ein Zeichen von „Arroganz der Macht“, griechisch: Hybris, wenn ein begabter, ungewöhnlicher Mann am Beginn des 21. Jahrhunderts in einem Herrschafts- und Machtdickicht sondergleichen wie in Washington D. C., Zentrale des Imperiums auf der Kippe USA, präsidiale Gestaltungskraft herbeiredet und schon auf dem Weg dazu - Yes we can - ,unvermeidlich in noch nicht persönlich verschuldeter politisch ökonomischer und folgerichtig menschlicher Korruption versumpft. Shakespeare, dessen Politik in seinen dramatisch pro­filierten, sprachlich ungeheuren Zuspitzungen EK trefflich plastisch ebenso geschildert hat, wie seine Komödien, als „Spiele aus dem Reich der Freiheit“, könnte so nicht enttäuscht werden.

 

Ich kann die anderen Lebensfäden und sei es nur punktuell mit den einen oder anderen Schlüsselzitat nicht mehr, auf EKs Hände schauend, nachdröseln. Nur zwei Aspekte will ich noch berühren. Zum einen überlegen, soweit das ein Mitsiebziger vermag, warum EKs Lebensfäden sich gerade auch für Jüngere zu lesen lohnten. Zum anderen, will ich nach dem „Knoten“ Ausschau halten, der in der Überschrift als Ausgang, noch nicht in Fäden ausgelegt, genannt wird.

 

Zur Leseattraktion

Für Krippendorffsche Zeitge­nossinnen und Zeitgenossen versteht sie sich auch in den Kapiteln nahezu von selbst, die in andere, ihnen nicht ihm ähnlich gut gekannte Länder führen oder nicht gleicher Weise besessene Fähigkeiten betreffen. Und mag es auch produktiver Ärger sein.

Trefflich, ohne andere als politische oder im Urteil abweichende Stolperstellen geschrieben, zeichnet sich EKs Schreibe aus durch ihre aufklärende Durchsichtigkeit. Fast je­der Satz stimuliert Assoziationen und weckt ähnliche oder quer liegende Erinnerungen samt den dazu gehörenden Reflexionen. Man schaut in Krip­pendorffs Spiegel und sieht sich und seine Zeit als eigene Zeit in Distanz und Nähe.

Allenfalls bedauert man, dass nicht noch andere Lebensfäden dazu geschlagen wurden. Etwa der durch Seitenblicke einsichtige bundesrepublikanische.

 

anarchische Stimulanzien

Wie verhält es sich aber mit Jüngeren, nach „der Zeiten ungeheurem Bruch“ (C.F. Meyer)?

Gewiss, an jedem deutschen und vielen europäischen Orten zeugen Vernichtungsstätten und Mahnmale. Selbst pfleglich erhalten sind sie jedoch von dichtem Moos bewachsen. Und das, was den jungen Krip­pendorff begeistete und begeisterte und also dem älteren und alten lebendige Substanz und Freude bereitet, was soll da für die Jüngeren und Jungen ‚abfallen’. Flexibel und mobil getrimmt, auch um jederzeit standschaftslos Kurzzeitjobs annehmen zu müssen – unserer Generation große Schuld in den „fetten Jahren“ nicht besser vorgesorgt und gegen des allfressenden Kapitalismus gekämpft zu haben –, kann man die so Aus- und Eingesetzten schwer enthusiastisch von Mund zu Mund beatmen. Nein, als ein anderes Lebens-Reisebuch kann man EK nicht lesen (mit Peter Kammerer hat er einst ein ungewöhnlich angelegtes, mehrfach erschienenes über Teile Italiens geschrieben).

Und doch sprechen wenig­stens zwei Argumente dafür, vom hof­fentlich immer bleibenden Lesespaß welcher Buchform auch immer zu schweigen. Mehrfach zitiert EK eine Einsicht, die er zuerst vom Leipziger Historiker Walter Markov in den fünfziger Jahren gehört hat. „Historisch ist, was möglich war.“

Sie bedeutet, lese ich sie recht, dass man, aller „Induktionsese­lei“ (F. Engels) entsagend, sich die Kategorie realer Möglichkeit kritisch und konstruktiv nicht aus Kopf und Hand rauben lassen darf. Das gilt historisch, gegenwärtig und künftig. Damit sich niemand der herrschenden Wirklichkeit und der Wirklichkeit der Herrschaft unterwerfe und im Widerstehen, im eigenen Stehen und Gehen, ein Leben lang trotz allem eigen bestimmt bleibe, das nicht zu­letzt kann man in EKs Lebensschule nicht durch Paukerei, sondern habituell lernen.

Die Poren von Chancen sind auch heute nicht geschlossen. Man muss sie scharfäugig erkennen und wahrzunehmen trauen. Ein zweites, eng verschlungenes Lernen kommt hinzu. Auch hierzu mag man EKs hilfreiche Hand ergreifen. Überall dort, wo herrschaftliches Bestimmen in uns einzudringen in Gefahr ist und uns zum Herrschaftsinstrument machen mag, listig unser eigenes Interesse an ihr lispelnd, gilt es zu widerstehen. Krippendorffs beste Bücher sind deswegen voll der anarchischen Argumente und Stimulanzien.

Seine Lebensfäden, nicht lehrpenetrant gezogen, können an seiner Art, sich zu wehren und kurvenreich krippendorffauf­recht zu gehen, den uraufklä­rerischen Mut, sich seinen eigenen Verstand nicht wegnehmen zu lassen, sich gleichsam ein autobiographisches Thea­tererlebnis zueigen machen.

 

Knoten

EK hat ihn aus seinen Lebensfäden nicht geknüpft. Dazu bedürfte es einer Fülle weiterer, von den uns allen weitgehend unbekannten knetmasseartigen habituellen Formen zu schweigen, die uns allen selbst weitgehend verborgen in den frühkindlichen Jahren angelegt werden und sich erst später kon­textgemäß ausprägen. Wie kä­me ich dazu, anmaßend das zu verknüpfen, was EK lose hin­tereinander gelegt hat, auch wenn er sein „Ich“ nie versteckt, in einer schon erkenntnistheoretisch unmöglichen Figur, „sein Selbst gleichsam auszulöschen“. Weil wir indes, das demonstriert EK überzeugend, eben keine irgend geschlossene, simpel wie den neuen Pass ausweisbare „Identität“ besitzen – die Nazis waren zuerst dran, ihn  pflichtgemäß einzuführen -, uns vielmehr eine teils widersprüchlich ambivalente Pluralität von Lebensfäden eigen ist, besitzen wir erwerbend das – oder beraubt -, was wir griechisch einen Charakter nennen, etwas, was eine Person ausmacht (im Griechischen übri­gens unter anderem Zerklüftetsein meint).

Diese habituellen Berge, Täler und Klüfte der Person EK, ihrem Zusammenhang und Zu­sam­menhalt würde man nur gerecht werden und hätte auch ich mehr entsprechen können, wenn ich die krippendorffsche Heimatkunde ausführlicher hätte darlegen können: aus Eisenach-thüringerischen Elementen, Dresdenbeigabe, Ostsee, Halberstadt, Düsseldorf, West- und Ostberlin, aus langen Jahren in den USA, New York vor­nehmlich und Italien nicht zum geringsten, Bolognaprägungen und das fast einem anderen Olivenbaum knorrig gleichende sichtweite Haus in der Nähe des prächtigen Lucca. An dieser alles andere als auch nur nominell vollständigen Heimatkunde fehlte das Entscheidende, unterstriche ich nicht wenig­stens in einem kahlen Wort die in jeden Lebensfaden und sei es erst hinterher eingewebte Bedeutung Eve Slatners, einer aus der Tschechoslowakei nach schließlich in nach New York emigrierten Jüdin. Schau­spielerin und Sängerin wurde sie, im Schiffbauerdamm kennen gelernt, EKs Frau, die Mutter, Großmutter seiner beiden Söhne Philip und David, ihrerseits in Italien groß geworden und den Enkeln Luca und Roc­co. Den Vier zuletzt genannten sind die Lebensfäden gewidmet.

Bevor ich mich jedoch tief- oder flachsinnig vertue, suche ich rasch wieder Zuflucht bei dem fast immer zuständigen Goethe. „Kennst Du schon das große Wort“, so schrieb er dem Schweizer Physiognomiker: „individuum est ineffabile.“ Frei übersetzt: das, was eine Person ausmacht, ist nicht auf einen Begriff zu bringen (und darum nicht, nicht einmal verfas­sungsschützerisch zu kontrollieren, ein herrschaftliches Ärgernis).

Das heißt in diesem Falle auch: EKs vielfältig bunte und doch in seiner Person, sie ausmachend verzwirrte Lebensfäden, lässt jede und jeder am besten, mein dringender Rat, durch ihre und seine Hand lesegeruhsam und intensiv gleiten. Es macht, trotz und wegen allem: Freude.

 

Wolf-Dieter Narr

 

Rezension aus: Graswurzelrevolution Nr. 370, Monatszeitung für eine gewaltfreie, herrschaftslose Gesellschaft, 41. Jahrgang, Sommer 2012, www.graswurzel.net