„Der Anarchismus ist eine Inspirationsquelle“

Anett Keller im Gespräch mit Ronny Agustinus vom indonesischen Verlag Marjin Kiri

Vom 14. bis 18. Oktober 2015 ist Indonesien Ehrengastland der Frankfurter Buchmesse. Aus diesem Anlass hat Anett Keller für die Graswurzelrevolution ein Interview mit Ronny Agustinus geführt. Er ist Verleger des linken, indonesischen Verlags „Marjin Kiri“, in dem auch anarchistische Literatur erscheint. (GWR-Red.)

 

GWR: In diesem Jahr feiert „Marjin Kiri“ seinen 10. Geburtstag. Wie ist der Verlag entstanden?

 

Ronny Agustinus: Marjin Kiri wurde als Verlagsunternehmen von sechs Personen gegründet – einer davon war ich. Zu unseren Gründern gehörten Wissenschaftler und Aktivisten. Die letzten zehn Jahre waren nicht leicht, zwischen 2007 und 2008 mussten wir unsere Verlagstätigkeit sogar vorübergehend einstellen. Nach einer Umstrukturierung sind wir seit 2009 wieder aktiv und haben uns bis heute über Wasser halten können. Doch von den sechs Gründern sind heute nur noch zwei dabei.

 

GWR: Welche Art Bücher gibt Marjin Kiri heraus?

 

Ronny Agustinus: Wir veröffentlichen kritische Publikationen im Bereich politische Ökonomie, Philosophie, Kultur und Kunst, Geschichte sowie Indonesien-Studien. Neben Sachbüchern geben wir auch literarische Werke heraus.

 

GWR: Gab es bei der Gründung von Marjin Kiri Vorbilder, also andere Verlage in Indonesien oder im Ausland inspiriert?

 

Ronny Agustinus: Bevor ich selbst Verleger wurde, habe ich für die Verlage Insist Press und Resist Book Übersetzungen gemacht. Das sind zwei indonesische Verlage, die Bücher mit kritischen Analysen herausgeben. Das hat mich beeinflusst. Unsere großen Vorbilder sind die linken Verlage Verso Books und Zed Books.

 

GWR: Im Verlagsprogramm von Marjin Kiri finden sich auch Werke ausländischer AutorInnen. Gab es auch schon mal Übersetzungen deutschsprachiger AutorInnen?

 

Ronny Agustinus: Vor zehn Jahren hatten wir die Rechte an Ernst Gombrichs wunderbarem Buch „Eine kurze Weltgeschichte für junge Leser“ gekauft und hatten auch schon Gelder für die Übersetzung beim Goethe-Institut beantragt. Aber wegen unserer internen Probleme 2007/2008 kam es damals leider nicht zur Publikation. Glücklicherweise traf ich im vergangenen Jahr auf der Buchmesse in Frankfurt die Übersetzerin Elisabeth Soeprapto-Hastrich wieder und auch Vertreter des Dumont-Verlages, die die Rechte am Buch haben. Inzwischen sind alle Probleme gelöst und Gombrichs Buch wird noch in diesem Jahr auf Indonesisch bei uns erscheinen. Wir würden gerne die Werke weiterer deutschsprachiger Dichter und Denker heraus geben, aber diese zu übersetzen, das ist nicht so leicht.

 

GWR: Marjin Kiri ist als linker Verlag bekannt. Gibt es einen Markt für linke Sachbücher in Indonesien, der groß genug ist, dass man davon leben kann?

 

Ronny Agustinus: Der Buchmarkt in Indonesien ist nicht groß, zumindest nicht für ernstzunehmende Bücher, die über Ratgeber zu Motivation, Management, Erziehung oder religiöse Bücher hinausgehen. Wenn wir Bücher ganz gut verkaufen, können wir die nächsten Titel finanzieren. Wir reden da von Auflagen von 1.000 bis 1.500 Stück, wenn es hoch kommt, mal 3.000 Exemplare. Unser bislang meistverkaufter Titel hatte eine Auflage von 8.000 Stück. Diese Umstände sind internationalen Verlagen bei Verhandlungen um Buchrechte meist schwer zu vermitteln, die fragen immer: „Indonesien hat doch 250 Millionen Einwohner, wie kann es sein, dass ihr nur 1.000 Stück drucken wollt?“ Aber so ist die Realität in Indonesien.

 

GWR: In Indonesien sind die von der Suharto-Diktatur aufgebauten antikommunistischen Ressentiments in der Bevölkerung immer noch stark spürbar. Die kommunistische Partei ist seit 1966 verboten, ebenso das Verbreiten marxistischen Gedankenguts. Was bedeutet das für die Arbeit von Marjin Kiri?

 

Ronny Agustinus: Das ist ein Problem. Zwei unserer Bücher wurden von den zwei größten Buchhandelsketten in Indonesien nicht vertrieben, nur weil im Titel die Worte „Marx“ bzw. „Marxist“ vorkamen. Ein weiteres Buch wollten sie nicht verkaufen, weil es die Vergewaltigungen von Frauen während der gewaltsamen Verfolgung der Linken 1965 thematisiert. Die Zensur kam also nicht von der Regierung, sondern von den Buchhändlern, die Angst vor gewaltsamen Übergriffen von Antikommunisten/Anhängern der Suharto-Diktatur haben. Die Polizei tut im Allgemeinen nichts, wenn solche Angriffe passieren.

Wir sehen unsere Aufgabe als Verlag auch darin, mit dem Verbreiten von Informationen den Antikommunismus Stück für Stück abzubauen. Vor 100 Jahren, als Indonesien noch von den niederländischen Kolonialherren besetzt war, da waren junge Menschen stolz darauf, Kommunisten zu sein, sie verbanden damit Fortschritt und Entwicklung. Ein Jahrhundert später gilt der Kommunismus der indonesischen Mehrheitsbevölkerung als Satan. Wie die Suharto-Diktatur das dauerhaft in die Köpfe gepflanzt hat, ist verrückt. Aber wir glauben, dass sich das ändern kann. In akademischen Kreisen merkt man das bereits, da kommen Analysen aus marxistischer Perspektive inzwischen häufiger vor und sind nicht mehr so stark tabuisiert, wenn es auch immer noch konservative Rektoren und Dozenten gibt, die das verhindern wollen.

Und es müsste weiter Initiativen geben, die die Aufhebung des Kommunismus-Verbots zum Ziel haben. Diese werden jedoch als konfrontativ wahrgenommen und kontrovers diskutiert.

 

GWR: Im Programm von Marjin Kiri finden sich auch Publikationen über Anarchismus, z.B. von Sean M. Sheehan und John Moore. Wie wird Anarchismus in Indonesien gesehen?

 

Ronny Agustinus: Ja, wir haben eine Reihe mit dem Titel „Den Anarchismus studieren“ und neben den genannten Autoren bereiten wir gerade die Veröffentlichung der indonesischen Übersetzung von „Under Three Flags: Anarchism and the Anti-Colonial Imagination“ des bekannten Südostasien-Spezialisten Benedict Anderson vor, in der es darum geht, wie globale anarchistische Strömungen nationalistische Bewegungen in Südostasien am Ende des 19. Jahrhunderts beeinflusst haben.

Schaut man sich die Benutzung des Wortes Anarchie in unseren Massenmedien an, fällt auf, dass der Begriff vor allem mit Chaos und Zerstörung, also mit destruktiven Zuschreibungen belegt wird – obwohl das ja gar nicht der eigentlichen Bedeutung von Anarchie entspricht. Anarchismus bedeutet ja, auf kooperative Weise Strukturen aufbauen, in denen die Beteiligten gleichberechtigt sind und wo es kein Machtzentrum gibt. Während der Sozialismus, wie er zum Beispiel in der Sowjetunion praktiziert wurde, viel zu bürokratisch war, bildet der Anarchismus unserer Meinung nach eine stärkere Inspirationsquelle für heutige soziale Bewegungen. Und darüber zu diskutieren, das ist hochinteressant!

Als wir mit der Serie begannen, geschah dies mit dem Ziel, die Grundlagen anarchistischer Gedanken auch Mainstream-Lesern nahe zu bringen und ihnen zu zeigen, dass Anarchismus in Theorie und Praxis eine feste Überzeugung und keine Spielerei ist. Bis dahin hatten sich anarchistische Schriften vor allem über zines verbreitet, die unter der Hand verteilt wurden und keinen Eingang in Buchläden fanden. Wir glauben jedoch, dass die Diskussion in eine breitere Öffentlichkeit getragen werden sollte. So dass Menschen, die noch nichts darüber wissen, etwas lernen können. Denn so wie der Blick auf den Kommunismus in Indonesien korrigiert werden muss, muss auch der Blick auf den Anarchismus korrigiert werden. Deswegen gibt es bei uns diese Serie. Vor kurzem haben indonesische AnarchistInnen nun auch eine eigene Internet-Seite (anarkis.org), auf der anarchistische Schriften in indonesischer Sprache einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich sind. Das ist eine bemerkenswerte Entwicklung.

 

GWR: Du giltst als Fachmann für lateinamerikanische Geschichte und Literatur und übersetzt auch Bücher aus dem Spanischen ins Indonesische. Wie kam es zu diesem Interesse?

 

Ronny Agustinus: Das begann vor  mehr als 20 Jahren. Der Auslöser war nicht das Buch eines lateinamerikanischen Autors, sondern eines niederländischen. Ich las den Roman „Christus in Guadalajara“ von Jan Jacob Slauerhoff. Darin geht es um einen Aufstand der mexikanischen Ureinwohner und die Illusion und Desillusionierung eines Christus-gleichen Agitators (das Thema der messianischen Gestalt fand ich später bei Vargas Llosa wieder). Mein Interesse an Lateinamerika war geweckt und bei meiner Suche nach Lesestoff stieß ich auf die Übersetzung von García Márquez´ „Der Herbst des Patriarchen“. So etwas hatte ich nie zuvor gelesen! Bis heute haben die Worte und Sätze aus diesem Buch in mir dauerhafte Spuren hinterlassen. Die indonesische Übersetzung war mit einem Vorwort des bekannten Intellektuellen Y.B. Mangunwijaya versehen. Der schrieb darin, dass es viel interessante Literatur aus Lateinamerika gäbe, von der wir leider nichts wüssten, weil es kaum Übersetzungen gäbe. Damals reifte mein Entschluss, mich mit dieser Literatur eingehender zu beschäftigen.

 

GWR: Welche Parallelen gibt es zwischen der Geschichte Lateinamerikas und der indonesischen?

 

Ronny Agustinus: Das ist je nach Land in Lateinamerika verschieden. Auch die Kolonialgeschichte verlief – verglichen mit Indonesien – anders. Aber in Bezug auf die Errichtung von Diktaturen und Verletzungen der Menschenrechte gibt es auch viele Parallelen. So hat sich Pinochet zwar bei seinem Putsch 1973 in Chile von der Machtergreifung durch Suharto in Indonesien 1965 inspirieren lassen, das Ganze wurde sogar „Operation Jakarta“ genannt. Aber umgekehrt haben wir uns leider bislang nicht von Ländern wie Chile oder Argentinien dabei inspirieren lassen, wenn es darum geht, die Diktaturvergangenheit aufzuarbeiten.

 

GWR: Indonesien ist in diesem Jahr Ehrengast auf der Frankfurter Buchmesse. Es gab im Vorfeld viele Diskussionen darüber, ob die in Frankfurt vorgestellten Werke, Autorinnen und Autoren die ganze Bandbreite zeitgenössischer indonesischer Literatur spiegeln. Wie siehst Du das?

 

Ronny Agustinus: Ja, das ist ein Problem, das heiße Debatten auslöst. Eine der Ursachen ist meiner Meinung nach, dass es kein Literaturkritiker im letzten Jahrzehnt wirklich vermocht hat, überzeugend zu beschreiben, was zeitgenössische Literatur ist. Viele junge literaturbegeisterte Menschen haben in indonesischen Städten Gruppen gegründet, sie veröffentlichen Bücher, aber es gibt keinen systematischen Ansatz, der ihre Werke als Teil der zeitgenössischen Literatur begreift. Da es also an Daten zu diesen Werken fehlt, empfehlen Menschen in den Auswahlgremien lediglich das, was sie kennen.

Ich war zweimal selbst Mitglied einer Jury für einen Literaturpreis auf nationaler Ebene. Die Veranstalter hatten weder die Zeit noch das Geld, um alle Neuerscheinungen zu dokumentieren, die im Jahr der Preisvergabe erschienen waren. Sie bezogen sich also lediglich auf die Verlage, die sie kannten – und die zumeist auf Java beheimatet sind – und ließen sich deren Neuerscheinungen schicken. Keiner weiß, wie viele gute Bücher bei einem solchen Auswahlsystem durchs Raster fallen.

Unter solchen Umständen ist die Präsentation der „17.000 Inseln der Imagination“ [das Motto des indonesischen Messeauftritts, d. Red] nicht zu realisieren. Die Vielfalt, die mit diesem Titel suggeriert wird, ist kaum vertreten,  auch wenn die Frankfurter Buchmesse viel dafür getan hat, ein vielfältiges Programm zu fördern. Man kann diesen Umstand nicht nur dem Nationalen Buchmesse-Komitee vorwerfen, aber man muss schon sagen, dass das Komitee zu wenig dafür getan hat, unter diesen Umständen eine größtmögliche Vielfalt herzustellen und es hat nichts dagegen getan, dass bestimmte Kreise bei der Frage nach Autorinnen und Autoren lediglich ihre „üblichen Verdächtigen“ nach vorne gebracht haben.

Die Auswahl der Bücher, die in Frankfurt vorgestellt werden, hat viele Diskussionen ausgelöst, weil sich da die Meinung des Komitees ständig änderte. Wenn die geltende Ansicht ist, dass es vor allem um die Werke gehen soll, nicht um die Autoren und dass Bücher bevorzugt werden, von denen es schon Übersetzungen gibt, dann fragt man sich, warum Autorinnen und Autoren nach Frankfurt geschickt werden, bei denen es noch nicht klar ist, ob ihre Bücher übersetzt werden. Und warum andere, von denen bereits Übersetzungen vorliegen, nicht in Frankfurt präsent sind.

 

Interview: Anett Keller

 

Marjin Kiri ist auf der Frankfurter Buchmesse vertreten, in Halle 4.0 C73/80.

 

Anett Keller ist freie Journalistin mit Schwerpunkt Indonesien, wo sie während der letzten Jahre gelebt hat. Gerade hat sie ein Buch zum Massenmord an (vermeintlichen) Kommunistinnen und Kommunisten und zur Zerschlagung der linken Bewegung durch die Suharto-Diktatur  herausgegeben: „Indonesien 1965ff. Die Gegenwart eines Massenmordes“ (regiospectra Verlag, Berlin, Mai 2015, 214 S., ISBN 978-3-940132-68-0,www.regiospectra.de/buecher/indonesien-1965ff-detail). Am 15. September wird sie das Buch in Münster (19 Uhr, Die Brücke, Wilmergasse 2) und am 6. Oktober in Bremen (19 Uhr, Villa Ichon, Goetheplatz 4) vorstellen.

 

Interview aus: Graswurzelrevolution Nr. 401, September 2015, www.graswurzel.net