Elterliche Selbstbestimmung als "schädliche Praxis"?

Ratifizierung der UN Behindertenrechtskonvention

Mit der Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention hat die Bundesrepublik die politischen Weichen in Richtung Inklusion gestellt. Vorgeburtliche Selektion steht diesem Gedanken diametral entgegen. Denn Inklusion kann nur funktionieren, wenn nicht nur behindernde physische und strukturelle Barrieren, sondern auch ableistische Grundhaltungen in der Gesellschaft abgebaut werden.

 

In westlichen Gesellschaften gilt Selbstbestimmung als uneingeschränkt positiver Wert. Sie ist unter anderem sowohl in der Diskussion um reproduktive Selbstbestimmung wie auch in der Behindertenpolitik ein zentraler Begriff.(1) Auch die vorgeburtliche Diagnostik, deren „positive“ Befunde in der Mehrzahl der Fälle zu Schwangerschaftsunterbrechungen führen, wird mit der Erweiterung der Selbstbestimmung der Schwangeren legitimiert.(2)

Die Verfeinerung des pränatalen diagnostischen Instrumentariums, die mit dem seit 2012 zugelassenen PraenaTest und seinen Nachfolgern einen vorläufigen Höhepunkt erreicht hat, erfolgt ebenso wie die zunehmende Selbstverständlichung des Schwangerschaftsabbruches im Fall eines Befundes parallel zu einer behindertenpolitischen Diskussion, die die Inklusion als Ziel hat. Mit Inklusion wird eigentlich eine wertschätzende Haltung gegenüber menschlicher Vielfalt sowie die gleichberechtigte Teilhabe aller Menschen bezeichnet; diskutiert wird sie jedoch vor allem im Hinblick auf behinderte Menschen.

Mit Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) hat die Bundesregierung die Inklusion behinderter Menschen zum politischen Ziel erhoben; seitdem wird vor allem das Für und Wider der schulischen Inklusion von Kindern und Jugendlichen mit Beeinträchtigungen diskutiert. Inklusion wird in diesem Kontext oftmals als der bis dato letzte Schritt einer Entwicklung gesellschaftlicher Teilhabe behinderter Menschen von der Exklusion über Separation und Integration hin zur Inklusion dargestellt.

 

Erkämpftes Modell

Tatsächlich ist die UN-BRK Beleg eines veränderten Verständnisses von Behinderung im politischen und juristischen Raum. An dieser Veränderung haben behinderte Menschen beziehungsweise ihre Organisationen großen Anteil. Bis weit in die 1980er Jahre wurde Behinderung gleichgesetzt mit tragischem individuellen Schicksal, eine Unterscheidung zwischen der diagnostizierbaren Beeinträchtigung und den Erfahrungen des Behindertwerdens wurde nicht gemacht. Behinderung erschien so als natürliche, zwangsläufige Folge einer Beeinträchtigung, mit der das Individuum „geschlagen“ war und individuell zurechtkommen musste. Deshalb wird diese Sicht auf Behinderung heute auch als individuelles (oder medizinisches) Modell bezeichnet.

Die Behindertenbewegungen verschiedenster Länder entstanden in den 1970er Jahren auf dem Hintergrund der Erkenntnis, dass nicht die Beeinträchtigung an sich, sondern der gesellschaftliche Umgang damit die Ursache für den gesellschaftlichen Ausschluss - die Behinderung - war. Behinderung wurde so als gesellschaftliche Konstruktion, die verändert werden konnte und musste, entlarvt. Auf dem Hintergrund dieser Sichtweise, des so genannten sozialen Modells von Behinderung, wurde es möglich, sich beeinträchtigungsübergreifend zu solidarisieren, Menschenrechtsverletzungen an behinderten Menschen anzuprangern und für eine Veränderung eben dieses gesellschaftlichen Umganges zu kämpfen.(3)

Seit dem ersten öffentlichen Anprangern der Menschenrechtsverletzungen 1981 sind viele Jahre vergangen. In der Behindertenpolitik hat seitdem ein Paradigmenwechsel von der Fürsorge zur selbstbestimmten Teilhabe stattgefunden; zahlreiche Gesetze zur Gleichstellung behinderter Menschen wurden verabschiedet.

 

Inklusion und Ableism

Zum Menschenrechtsthema wurde die Situation behinderter Menschen jedoch erst mit der Erstellung und Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention 2006 beziehungsweise 2009. Schon in der Definition des Personenkreises wird deutlich, dass hier ein verändertes Denken über Behinderung Einzug gehalten hat. Während noch 2002 das Behindertengleichstellungsgesetz des Bundes Behinderung als Abweichung vom alterstypischen Zustand definiert, aufgrund dessen die Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft beeinträchtigt sei, definiert die UN-BRK 2006 den Personenkreis als „Menschen, die langfristige körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, welche sie in Wechselwirkung mit verschiedenen Barrieren an der vollen, wirksamen und gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft hindern können“.(4)

Mit der Ratifizierung dieses Übereinkommens verpflichten sich die Staaten zum Abbau aller von Politik zu beeinflussenden Barrieren, um so das Ziel umfassender Teilhabe - faktischer „Ent-Hinderung“ - umzusetzen. Es kann also festgestellt werden, dass die Rechtsstellung behinderter Menschen in Deutschland so gut ist wie nie zuvor. In der Alltagswahrnehmung wird Behinderung aber nach wie vor nicht als gesellschaftliche Konstruktion, sondern als beklagenswerter, unter allen Umständen zu vermeidender Zustand angesehen.

Für die dahinter stehende Denkweise setzt sich zunehmend auch im deutschen Diskurs der Begriff Ableism durch. Gebildet in Analogie zu anderen „Ismen“ wie Sexismus und Rassismus, die die Benachteiligung aufgrund bestimmter Merkmale bezeichnen, geht es hier um „die einseitige Fokussierung auf körperliche und geistige Fähigkeiten einer Person und ihre essentialisierende Be- und Verurteilung, je nach Ausprägung der Fähigkeiten“.(5) Bestimmte Weisen von Selbst und Körper werden als „arttypisch“ und damit als natürlich gegeben und für das Menschsein zentral gesetzt - abweichende Erscheinungsformen von Selbst und Körper stellen dann ein weniger wertes Menschsein dar.(6)

Diese Sichtweise ist kulturell tief verankert und beeinflusst Einstellungen, Haltungen und Handlungsweisen, die wiederum das individuelle Modell von Behinderung stützen.(7) Die ableistischen Sichtweisen auf behinderte Menschen sind gesellschaftlich akzeptiert und werden nur selten in Frage gestellt: „Wer die Normalität auf seiner Seite weiß, hinterfragt sie nicht.“(8)

Andererseits weiß aber jede_r, dass Nichtbehinderung ein fragiler Zustand ist, der sich schnell ändern kann; um dies zu verdeutlichen, wird im angelsächsischen Sprachraum der Begriff „temporarily able-bodied (TAB)“ verwendet.(9) Er verdeutlicht, dass die eigene Normalität eine „prekäre“ ist.(10) Und er verdeutlicht die Universalität des Phänomens, von dem jede_r betroffen werden kann - am eigenen Leib, wenn der Mensch lange genug lebt oder auch durch ein beeinträchtigtes Kind.(11)

 

Das Bewertungssystem der Pränataldiagnostik

Im Kontext von Pränataldiagnostik sind ableistische Haltungen und Einstellungen allgegenwärtig. Ein „behindertes Kind“ erscheint als größtes vorstellbares Unglück, vor dem man sich individuell durch die Inanspruchnahme immer besserer Tests schützen möchte.

Dahinter stehende Ängste - davor, dass das Leben mit einem beeinträchtigten oder kranken Kind dazu führen kann, eigene Lebensentwürfe aufgeben oder finanzielle Nachteile hinnehmen zu müssen oder der Partner_in oder weiteren Kindern nicht gerecht werden zu können - sind nicht unbegründet. Allerdings wird dabei nicht thematisiert, dass diese Behinderungen Folgen des gesellschaftlichen Arrangements sind, in dem Kinder bei uns großgezogen werden, und dass das verändert werden kann und muss. Ausgeblendet wird auch, dass nur ein geringer Anteil von Beeinträchtigungen vorgeburtlich besteht - der weitaus größere Teil wird während der Geburt oder im Lauf des Lebens erworben. Eine wirkliche Versicherung gegen das Eintreten von Beeinträchtigungen ist Pränataldiagnostik also nicht. Die Angebote der Pränataldiagnostik mit ihrer scheinbaren Sicherheit bündeln die Ängste, ohne eine wirkliche Antwort zu geben. Bei positivem Befund bleiben die Betroffenen damit alleine und müssen - scheinbar selbstbestimmt - individuell ausführen, was gesellschaftlicher Konsens ist: Die Geburt von Kindern mit Beeinträchtigungen zu verhindern.(12)

Auf diesem Hintergrund ist inzwischen eine zunehmende Selbstverständlichkeit der Inanspruchnahme vorgeburtlicher Tests mit Beendigung von Schwangerschaften mit „positivem“ Befund festzustellen - ein Verhalten, das in hohem Maße gesellschaftlich akzeptiert ist. Ein beeinträchtigtes Kind auszutragen wird hingegen zunehmend erklärungsbedürftig; Eltern sehen sich mit Vorwürfen der Verantwortungslosigkeit konfrontiert, denn die Inanspruchnahme vorgeburtlicher Tests ist inzwischen ein wichtiger Bestandteil verantwortungsbewusster Elternschaft geworden. Im Gegenzug ist der Eindruck entstanden, dass Pränataldiagnostik eine Garantie auf ein „normales“ Kind geben kann, auf das inzwischen scheinbar ein Recht besteht.(13)

 

Selektion darf nicht selbstverständlich sein

Der Inklusionsbeirat stellt in Deutschland einen Trend zur „flächendeckenden Selektion“ fest: Auf der einen Seite gibt es den Anspruch auf Inklusion, auf der anderen die Selbstverständlichkeit vorgeburtlicher Selektion und eine verfestigte Alltagseugenik.(14) Eine Situation, die Udo Sierck so kommentiert: „Stell Dir vor, es ist Inklusion und niemand ist mehr da!“(15)

Festzuhalten ist, dass weder die zunehmende rechtliche Gleichstellung noch die Diskussion um Inklusion bisher wahrnehmbare Veränderungen des Umgangs mit Pränataldiagnostik zur Folge haben. Die Art, wie Pränataldiagnostik heute aber eingesetzt und genutzt wird, befördert die Fortschreibung und Verfestigung eines individuellen, medizinischen Modells von Behinderung, das Beeinträchtigungen mit Leiden, Belastung und fehlender Lebensqualität gleichsetzt. Zudem unterstützt die aktuelle Entwicklung Kosten-Nutzen-Rechnungen, wie sie zur Begründung fragwürdiger Vorhaben wie beispielsweise dem Projekt zur Erforschung der genetischen Gründe kognitiver Beeinträchtigungen herangezogen werden.(16)

Es fällt schwer, angesichts der hier nachgezeichneten Entwicklung nicht in Pessimismus zu verfallen - ein Hoffnungsschimmer am Horizont ist Artikel 8 der UN-BRK. Enthält die Konvention insgesamt die Verpflichtung, behindernde Barrieren abzubauen, geht es in diesem Artikel unter der Überschrift „Bewusstseinsbildung“ vor allem um die Barrieren in den Köpfen, ausdrücklich auch um „Klischees, Vorurteile und schädliche Praktiken gegenüber Menschen mit Behinderungen“.(17) Die Bundesregierung hat die Konvention ratifiziert - nun muss sie darauf hinwirken, der alltäglich gewordenen Selektion entgegenzuwirken und ihr ihre Selbstverständlichkeit zu nehmen. Dies könnte zum Beispiel durch Kampagnen für eine veränderte Darstellung behinderter Menschen und ihrer Familien geschehen; vor allem aber müssen die Unterstützungs- und Entlastungsmöglichkeiten für diejenigen Eltern und Familien, die mit behinderten und/oder chronisch kranken Angehörigen leben, verbessert werden.

Parallel dazu müssen Barrieren jeglicher Art ab- und inklusive Strukturen und Kulturen aufgebaut werden. Ziel muss sein, berechtigten Ängsten werdender Eltern in einer Weise zu begegnen, die einer inklusiven Ausrichtung entspricht und damit inklusive Haltungen fördert.

 

 

Swantje Köbsell ist langjährige Aktivistin der Behindertenbewegung und veröffentlicht seit vielen Jahren zu den Themen Behinderung und Eugenik/Bioethik, Behinderung und Geschlecht und den Disability Studies. Seit April 2014 ist sie Professorin für Disability Studies an der Alice-Salomon-Hochschule in Berlin.

 

 

 

 

Fußnoten:

(1)  Vgl. dazu auch den Schwerpunkt „Selbstbestimmung“ im GID 222, Februar 2014, S. 6-23 oder Waldschmidt, Anne: Selbstbestimmung als behindertenpolitisches Paradigma - Perspektiven der Disability Studies, 2003, im Netz unter www.kurzlink.de/gid224_f.

(2)  Vgl. Waldschmidt, Anne: Pränataldiagnostik im gesellschaftlichen Kontext, 2006, im Netz unter www.kurzlink.de/gid224_i.

(3)  Vgl. Degener, Theresia: „Der Wucht der Stigmatisierungen widerstehen“, Rede auf der „Disability & Mad Pride Parade 2013”, in: GID 219, August 2013, S. 41-43, im Netz unter www.pride-parade.de/rede beitraege.html.

(4)  Vgl. Behindertengleichstellungsgesetz des Bundes, Paragraf 3, S.2, im Netz unter www.gesetze-im-internet.de/bundesrecht/bgg/gesamt.pdf und UN-BRK, Art. 1 Abs. 2, im Netz unter: www.un.org oder www. kurzlink.de/gid224_d.

(5)  Hervorhebung durch die Redaktion, zit. nach Maskos, Rebecca: Was heißt Ableism? Überlegungen zu Behinderung und bürgerlicher Gesellschaft, in: Arranca, Dezember 2010, im Netz unter www.kurzlink. de/gid224_a.

(6)  Campbell, Fiona Kumari: Contours of Ableism: The Production of Disability and Abledness, Hampshire 2009, S. 44.

(7)  Valle, Jan D.; Connor, David, J.: Rethinking Disability. A Disability Studies Approach to Inclusive Practices, New York 2011, S. 18.

(8)  Sierck, Udo: Budenzauber Inklusion, Neu-Ulm 2013, S. 11.

(9)  Übertragen etwa:„Vorübergehend nicht behindert”, vgl. Goodley, Dan: Disability Studies. An interdisciplinary introduction,

London, Sage Publications 2011, S. 1.

(10)  Vgl. Maskos, a.a.O.

(11)  Davis, Lennard J.: Bending over Backwards. Disability, Dismodernism & Other Difficult Positions, New York/London 2002, S. 36.

(12)  Vgl. Degener, Theresia; Köbsell, Swantje (1992): „Hauptsache, es ist gesund“? Weibliche Selbstbestimmung unter humangenetischer Kontrolle, konkret-Verlag: Hamburg.

(13)  Vgl. Bloechle, Matthias: Vom Recht auf ein gesundes Kind. Ein Plädoyer für die PID - Präimplantationsdiagnostik, München 2011.

(14)  Vgl. Inklusionsbeirat (2013): Pränatale Untersuchungen einschränken, in: GID 217, April 2013, S. 34-35, im Netz unter www.kurzlink.de/ gid224_e.

(15) Sierck, a.a.O., S.5 .

(16)  Bahnsen, Ulrich: Anna und die Denkfehler, in: DIE ZEIT Nr. 39, 2011, S. 39.

(17)  Vgl. UN-BRK, a.a.O., Art. 8.