Zwischen Faschismus und 20 Cent

Den Futurismus steckt heute jeder in die Tasche. Auf der italienischen 20-cent-Münze ist die berühmteste futuristische Plastik abgebildet: Umberto Boccionis „Einzigartige Formen der Kontinuität im Raum“. Die „Zukunftskunst“, die sich 1909 mit ihrem ersten „Manifest“ konstituierte, war die künstlerische Avantgarde schlechthin – und gleichzeitig in Teilen eine Wegbereiterin des Faschismus.

Die Bremer KPD blieb sitzen. Als 1928 in der Bremischen Bürgerschaft der Atlantikflug der Junkers W33 „Bremen“ gefeiert wurde, weigerten sich die Bremer Kommunisten als einzige, sich von den Plätzen zu erheben. Man stelle nicht die fliegerische Leistung der drei Männer Hünefeld, Köhl und Fitzmaurice in Frage, erklärten die kommunistischen Abgeordneten, wolle aber der „künstlich erzeugten Begeisterungswelle für den erstarkenden neudeutschen Imperialismus, dem Geist des Chauvinismus entgegentreten.“

Das war nicht aus der Luft gegriffen. 1934 ging die Ausstellung „Aeropittura“ von Rom aus auf Tour. Die „Aeropittura“ war ein eigener Stil innerhalb des italienischen Futurismus, bei der aus der Perspektive eines Piloten heraus gemalt wurde. Eines der dramatischsten Werke war Tullio Cralis „Sich in das Wohngebiet einschneisen“. Die Aeropittura ästhetisierte den Luftangriff wie in Cralis „Städtische Bombardierung“. Sie wurde massiv unterstützt von der faschistischen Regierung, die auch die Wanderausstellung „Aeropittura“ förderte.

Die Fliegerei war eine Chiffre, in der sich neue Perspektiven, Technikbegeisterung, Geschwindigkeit, Aggression und heroischer Individualismus kreuzten – Bestandteile, die für den Futurismus ebenso grundlegend waren wie für den Faschismus. Der Atlantikflug der „Bremen“ wird verewigt auf einer deutschen Gedenkmünze mit der Inschrift „Ein Wille – Eine Tat – Ein Sieg“. Benito Mussolini lässt sich gern am Steuer eines Flugzeugs abbilden, und Hitler folgt ihm nach: In der Wahlkampagne „Hitler über Deutschland“ setzt die NSDAP 1932 erstmals das Flugzeug ein, um die Zahl von Hitlers Wahlauftritten zu steigern. Die NSDAP inszeniert sich damit als die modernere, effizientere Alternative zu den Weimarer Parteien, über deren Muff sie sich förmlich in die Luft erhebt. Sie knüpft am antibürgerlichen Impetus der Futuristen gegen das Establishment an, wie Hitler das auch in „Mein Kampf“ tut, als er über den Besuch „bürgerlicher Versammlungen“ schreibt: „Sie übten auf mich immer denselben Eindruck aus wie in meiner Jugend der befohlene Löffel Lebertran.“ Die rebellische Geste und der angebliche Geist der neuen Zeit werden vom Faschismus ebenso beschworen wie vom Futurismus. Mussolini besiegelt den Pakt 1924, als er Filippo Tommaso Marinetti, den Gründervater des Futurismus, zum Kultusminister des faschistischen Italien macht.

 

„Wir wollen den Krieg verherrlichen“

Begonnen hatte die Entwicklung des Futurismus 1909 mit dem „Ersten futuristischen Manifest“ Marinettis. Es feiert die „Schönheit der Geschwindigkeit“, die „angriffslustige Bewegung, die fiebrige Schlaflosigkeit, den Laufschritt (…) und den Faustschlag“. Es ruft zum Kampf gegen „die Museen, die Bibliotheken und die Akademien jeder Art“ auf. Das Manifest lässt wenig Zweifel an der politischen Ausrichtung der neuen Bewegung, namentlich ihrem Militarismus und ihrem Antifeminismus: „Wir wollen den Krieg verherrlichen – diese einzige Hygiene der Welt – den Militarismus, den Patriotismus (…) und die Verachtung des Weibes.“ Marinetti ist gut im Inszenieren. Er bringt das Manifest auf die Titelseite des „Figaro“ und führt den Futurismus in Paris mit Happenings in Theatern ein, den futuristischen Soireen, bei denen das Publikum derart beschimpft wird, dass es regelmäßig zu Prügeleien kommt. Er schart eine Gruppe von jungen Künstlern um sich, die er fördert und zu Botschaftern des Futurismus in der Malerei, der Literatur und am Theater macht. Darunter sind auch einige wenige Frauen wie die Schriftstellerin Valentine de Saint-Point und die Fotografin Wanda Wulz.

Der Einfluss des Futurismus um diese Zeit ist immens. Viele Künstler sind fasziniert von seinen formalen Innovationen und seinem Avantgarde-Gestus, der die Grenzen zwischen Kunst und Leben einebnen will. Alfred Döblin schreibt nach dem Besuch einer Ausstellung futuristischer Malerei: „Wenn wir nur in der Literatur auch so etwas hätten.“ Er entwickelt selbst Techniken der literarischen Montage, zeigt sich aber von den lärmenden Ergüssen Marinettis zunehmend genervt. Großen Einfluss hat der Futurismus auch in Russland und der jungen Sowjetunion. Majakowski, Tretjakow und Malewitsch prägten die russische „Zukunftskunst“, der sie allerdings einen nationalen Namen geben, „Budjetjane“, „Zukünftler“. Die politische Ausrichtung des italienischen Futurismus kritisieren sie teilweise scharf. Majakowski bezeichnet sich jedoch noch 1930 als Futuristen.

 

Links- und Rechtsschwenks

In der künstlerischen Avantgarde der Zwischenkriegszeit gab es nicht wenige persönliche Wechsel zwischen der radikalen Linken und der radikalen Rechten. Marinetti war seit 1914 mit Mussolini persönlich bekannt, begrüßte aber 1917 noch die Oktoberrevolution. 1918 gründete er seine eigene „Futuristische Partei“, die dann aber in der faschistischen Partei aufging. Curzio Malaparte (eigentlich Kurt Erich Suckert) begann bei der Republikanischen Partei, nahm 1922 bei Mussolinis „Marsch auf Rom“ teil und trat den Faschisten bei. Später überwarf er sich mit ihnen, wurde ausgeschlossen und unter Hausarrest gestellt. In seiner Villa Malaparte auf Capri, einem roten Ziegelquader auf einem Felsen im Meer, traf er sich später auch mit PCI-Chef Togliatti und vermachte die Villa nach seinem Tod der Volksrepublik China. Es gibt viele solche Beispiele. Der Bremer Carl Emil Uphoff, Teil der Worpsweder Künstlerkommune, brauchte nur 4 Jahre um vom bekennenden Kommunisten, der in der Räterepublik im Presskommissariat arbeitete, zum bekennenden Nationalsozialisten zu werden. Valentine de Saint-Point, die 1912 das „Manifest der futuristischen Frau“ verfasste, in dem sie das Gebären von Helden zur obersten Frauenpflicht erklärt, schickt 1913 ein „Manifest der Lust“ hinterher, in dem sie die freie Sexualität rühmt. 1918 konvertiert sie zum Islam, zieht 1924 nach Ägypten, unterstützt den arabischen Nationalismus und wird des Bolschewismus bezichtigt.

Es gibt offenbar Zeiten, in denen die multiplen politischen Identitäten, die in jeder einzelnen Person angelegt sind, flexibler sind und heftiger um die Dominanz streiten, als zu anderen Zeiten. Gerade der Futurismus lehrt jedenfalls: Die rebellische Geste gegen das Establishment, das antibürgerliche Pathos, ist nicht notwendig links. Aber ohne den antibürgerlichen Geist gibt es auch keine Linke.

 

Selektive Moderne

Was den Teil der Futuristen, die zügig auf die Parteinahme für den Faschismus hinsteuerten, von den „linken“ Futuristen wie den russischen unterschied, war ihr totales Desinteresse an der Zukunft des Sozialen. Hier hörte ihre Offenheit für das Experiment und die Möglichkeiten der neuen Zeit abrupt auf und füllte sich mit reaktionären Modellen von Vorgestern. Sie demonstrierten die ideologische Zwielichtigkeit einer selektiven Moderne, die an den technischen Umwälzungen starken Anteil nimmt, von den Umwälzungen der sozialen Beziehungen und der tatsächlichen gesellschaftlichen Möglichkeiten jedoch nichts wissen will. Auch ihr Interesse am Umwerfen der bisherigen Sichtweisen durch die neuen Wissenschaften war extrem selektiv. Die rechtsgerichtete Moderne der Zwischenkriegszeit feiert die Atomphysik und die Genetik, aber schließt die Augen vor Soziologie und Psychoanalyse. Selbstreflexion der eigenen Motive und der eigenen sozialen Position findet nicht statt.

Manches am Futurismus bleibt daher nicht ohne Komik in Erinnerung. Giacomo Balla, der seine beiden Töchter „Licht“ und „Propeller“ taufte (Luce und Elica). Oder eben Umberto Boccioni, der 1916 im Ersten Weltkrieg fiel. Nicht etwa im Kampf, wie die Futuristen es sich erträumten. Sondern weil er bei einer Übung vom Pferd fiel.

Literatur:

Ingo Bartsch, Maurizzio Scudiero (Hrsg.): „…auch wir Maschinen, auch wir maschinisiert“, Bielefeld 2002

Tullio Crali – Free Flights for Art Reasons, weimarart.blogspot.de

Filippo Salvatore: A century of Futurism. Its legacy and shortcomings, panoramaitalia.com

Sven Schultze, Rezension zu Fernando Esposito, Mythische Moderne, hsozkult.geschichte.hu-berlin.de

Regina Strobel-Koop, Geschichte und Theorie des italienischen Futurismus, Saarbrücken 2008