Toll Collect – eine unendliche Geschichte

Es gibt Skandale, die noch nach über zehn Jahren nichts von ihrer Aktualität eingebüßt haben – auch wenn sie in den großen Medien kaum noch erwähnt werden und aus dem öffentlichen Bewusstsein weitgehend wieder verschwunden sind. Nur zur Erinnerung: Bei dem Skandal um das Firmenkonsortium Toll Collect handelt sich um eine Hinterlassenschaft aus der Regierungszeit von Kanzler Gerhard Schröder. In dieser wurde im Jahre 1999 die Entwicklung eines Systems zur Erfassung und Eintreibung einer streckenbezogenen LKW-Schwerlastabgabe, also eines Mautsystems, ausgeschrieben.

Grüne Idee und neoliberale Umsetzung  

Die Idee einer streckenbezogenen Maut ist eigentlich eine gute, stammt aus den „grünen“ 1980er Jahren, als noch ernsthaft über eine Reduktion der Verkehrsbelastung auf Straßen und Autobahnen diskutiert wurde.  
Seit Beginn der 1970er Jahre war der Güterverkehr auf den Straßen rasant gestiegen, während die vergleichsweise umweltfreundlichen Verkehrsbereiche Binnenschifffahrt und Eisenbahnverkehr sich auf dem absteigenden Ast befanden. Hinzu kamen zu Beginn der 1990er Jahre erstellte Studien, die belegten, dass der LKW-Verkehr auf Autobahnen die bundesdeutschen Kassen jährlich mit Milliardenbeträgen belastete.  
Der Hauptgrund für die Einführung einer auf LKW-Transporte erhobenen Maut war dann allerdings weniger eine angestrebte Verringerung der Umweltbelastung. Die Maut sollte vielmehr zusätzliche Mittel in die klammen Kassen der Bundesrepublik Deutschland spülen, die dann für die Erneuerung und den Ausbau des Autobahnnetzes verwendet werden könnten.  
Vorbild für die Einführung einer streckenbezogenen Maut war damals das Verkehrswegesystem der Schweiz. Wobei der Alpenstaat allerdings über ein ungewöhnlich gut ausgebautes Eisenbahnnetz verfügt, auf das Verkehrsteilnehmer, denen die Maut zu teuer war, bequem ausweichen konnten.  
Als erster Anlauf kam in der Bundesrepublik 1995 die sogenannte LKW-Vignette zur Anwendung. Von Spediteuren wurde eine pauschal erhobene Jahresgebühr für LKW-Transporte auf deutschen Autobahnen eingezogen. Die Gebühr war allerdings relativ niedrig, betrug pro Jahr für einen LKW 1.441,69 DM, also etwa 740 Euro.  
Die ursprüngliche Idee bei der Einführung des Mautsystems wurde in den Folgejahren Schritt für Schritt aufgeweicht. Im Unterschied zum System der Schweiz war das Mautsystem in Deutschland zunächst ausschließlich für Schwerlasttransporte auf Autobahnen angelegt. Die Schweizer hingegen baten schon Kleintransporter ab 3,5 Tonnen zur Kasse – nicht nur auf Autobahnen, sondern auf dem gesamten Straßennetz.  
Für die streckenbezogene Abgabe wurden von der 1999 ins Leben gerufenen „Kommission Verkehrsinfrastrukturfinanzierung“ Gebühren in Höhe von 25 Pfennig (12 Cent) pro gefahrenen Autobahnkilometer angesetzt; sie lagen also deutlich unter dem Gebührensatz der Schweiz.  
Die rot-grüne Schröder-Regierung entschied, die Eintreibung der streckenbezogenen Maut als Public Private Partnership-Vertrag (PPP) zu gestalten.  Eine private Firma sollte (gegen finanzielle Beteiligung an den Gebühren) ein von ihr entwickeltes System installieren, es über einen befristeten Zeitraum betreiben und die so eingenommenen Gelder an die Bundeskasse abführen. Ganz im Sinne der neoliberalen Ideologie wurde eine Aufgabe des öffentlichen Dienstes an die Privatwirtschaft übertragen.  
Es kann nun nicht Anliegen dieses Artikels sein, hier alle bisher geäußerten berechtigten oder auch weniger berechtigten Kritikpunkte an PPP-Verträgen  wiederzugeben. Nur so viel: Die Interessen der öffentlichen Hand und privatwirtschaftlich orientierter Unternehmen sind im Grunde unvereinbar.  
Während erstere dem Gemeinwohl verpflichtet ist (oder es zumindest sein sollte), unterliegen letztere dem Zwang zur Profitmaximierung und dem Spiel der Marktkräfte. Die Duldung einer profitträchtigen Expansion der Privatwirtschaft in Aufgabenbereiche, die bisher staatlichen und kommunalen Behörden oblagen, wurde von einer Kampagne gegen die fehlende Effizienz der schwerfälligen Apparate des Öffentlichen Dienstes begleitet.  
Die von den Neoliberalen stets behauptete Effizienzsteigerung durch Privatisierung erweist sich im Einzelfall oft als reine Ideologie. Das konkrete Ergebnis sieht häufig so aus, dass private Anbieter für die Realisierung der Aufgaben mit übergroßen Renditen belohnt werden, während das unternehmerische Risiko in wesentlichen Teilen auf die öffentliche Hand abgewälzt wird.  
PPP-Verträge tragen also nicht nur zur weiteren Demontage des gemeinnützig angelegten Sektors der Volkswirtschaft bei – es handelt sich auch um eine versteckte Subventionierung anlagehungriger Kapitalgruppen. Damit dies nicht zu offensichtlich ist und Verträge nicht als sittenwidrig angefochten werden können, enthalten sie meist eine Geheimhaltungsklausel.  
Außerdem wird bei solchen Verträgen standardmäßig vereinbart, dass für die Klärung von Unstimmigkeiten zwischen beiden Vertragsparteien nicht die staatliche Justiz, sondern private, von beiden Parteien einvernehmlich benannte Schiedsgerichte zuständig sind. PPP-Verträge tragen also auch zur zunehmenden Entmachtung der gewählten Parlamente und zu einer Erosion des öffentlichen Rechtssystems bei.  
In den meisten Fällen, in denen private Betreiber öffentlicher Hoheitsaufgaben den vertraglichen Verpflichtungen eindeutig nicht nachgekommen sind, gehen ihre Auftraggeber dann nicht selten nur höchst zögerlich daran, sie in Form von Schadenersatzklagen in Regresspflicht zu nehmen. Der Fall „Toll Collect“ ist für eine solche Herangehensweise geradezu ein Paradebeispiel.

Vertragsabschluss mit Hindernissen  

Das Vergabeverfahren für die Einführung einer streckenbezogenen LKW-Maut begann im Jahre 2000. Bereits im Zusammenhang mit der Fertigung der Ausschreibungsunterlagen flossen Honorare in Höhe von 15,6 Millionen Euro an private Beraterfirmen.  
Aus der Ausschreibung ging dann als Sieger das Konsortium Toll Collect hervor, bestehend aus dem mehrheitlich staateigenen Unternehmen Deutsche Telekom (45 %), außerdem der Firma Daimler Financial Service (45 %) und einer Tochterfirma der französischen Vinci-Gruppe (10 %). Der Betreibervertrag war auf eine Dauer von 12 Jahren angelegt, gerechnet ab Inbetriebnahme des Systems.  
Die Ausschreibung über die Errichtung und den Betrieb des Mautsystems war von Beginn an auf fünf potentielle Bieter beschränkt gewesen – durchaus nicht ungewöhnlich für technisch schwer umsetzbare Vorhaben.  
Neben dem Angebot von Toll Collect wurde noch das Angebot der Bietergemeinschaft AGES, bestehend aus Vodafone und mehreren anderen Firmen, sowie das Angebot eines Konsortiums aus ThyssenKrupp und dem Schweizer Unternehmen Fela in die Wertung einbezogen (ThyssenKrupp stieg allerdings noch während der Ausschreibung aus dem Konsortium wieder aus); ein viertes Angebot der Firma TSR Verkehrsmanagement Systeme war wegen verspäteter Abgabe nicht berücksichtigt worden.  Zu den angeschriebenen Firmen, die erst gar kein Angebot eingereicht hatten, gehörten wohl auch die Siemens AG und eine Tochterfirma der Volkswagen AG.  Schon während des Vergabeverfahrens hatte es zahlreiche Unstimmigkeiten und Einsprüche gegeben, die Gerichte und Anwälte beschäftigten, Kosten verursachten und für wesentliche Terminverzögerungen sorgten.  
AGES und Fela wurden 2001 zunächst wegen zu geringer finanzieller Sicherheitsleistungen aus dem Vergabeverfahren ausgeschlossen; AGES legte dagegen erfolgreich Widerspruch ein. Nachdem der Zuschlag an Toll Collect ging, wurde das Ergebnis der Vergabe nach einem weiteren Einspruch der unterlegenen Bietergemeinschaft gerichtlich aufgehoben. Als Toll Collect dem Konkurrenten dann zusagte, ihn als Nachunternehmer am Geschäft zu beteiligen, zog dieser seinen Widerspruch zurück, womit die Vergabe gültig blieb.  Ein weiterer Widerspruch der Firma Fela war aus formaljuristischen Gründen (verspäteter Eingang) schon vorher abgelehnt worden.  
Schon damals nannten Kritiker das Vergabeverfahren eine Farce. Es wurde vermutet, die Bundesregierung wolle die fallenden Aktienkurse des Staatsunternehmens Telekom stabilisieren; daher habe das Konsortium Toll Collect von Beginn an als Sieger der Ausschreibung festgestanden.  
Weiter wurde als Hintergrund ein Konzept vermutet, das von Toll Collect entwickelte satellitengestützte System später zur Erhebung einer europaweiten EU-Maut nutzen zu können. Von letzterem war nach dem Desaster der Maut-Einführung allerdings nicht mehr die Rede; das System wurde bis heute nie außerhalb Deutschlands eingesetzt.  
Fachleute bezeichneten den für den Sommer 2003 anvisierten Termin einer Einführung des Mautsystems schon während des Vergabeverfahrens als wegen technischer Probleme nicht realisierbar. Was sowohl Verkehrsministerium als auch das Management von Toll Collect nicht daran hinderte, weiter an dem Termin festzuhalten und ihn auch vertraglich festzuklopfen.   
Die offizielle Vertragsunterzeichnung erfolgte am 20. September 2002, also genau zwei Tage vor der Bundestagswahl. Eine parlamentarische Kontrolle über den Vertragsabschluss war auf Grundlage dieser Terminsetzung schlicht nicht möglich.  
Etwa zeitgleich wurden sämtliche Unterlagen über Nacht und Nebel in die Schweiz geschafft, wo (diesmal nach Schweizer Recht) eine zweite Vertragsunterzeichnung erfolgte. Sowohl Ausschreibungsunterlagen als auch der Vertrag unterlagen der Geheimhaltung, wurden unter Verschluss gehalten und waren demzufolge nicht einmal für Bundestagsabgeordnete einsehbar.  
Teile des Vertragswerkes sind vor Jahren „geleakt“ worden. Die auf der Homepage von Wikileaks einsehbaren Abschnitte sind allerdings lückenhaft und umfassen außerdem nur einen Bruchteil des Vertragswerkes, das einschließlich Anlagen insgesamt 17.000 Seiten umfassen soll.  Im November 2002 kam es – ebenfalls in der Schweiz – zur Unterzeichnung einer Vertragsergänzung, die unter anderem eine Modifizierung der ursprünglich vereinbarten Fertigstellungstermine beinhaltete. Die Ursache lag vermutlich bei den mehrmaligen Verzögerungen im Vergabeverfahren.  
Gemäß der ursprünglichen Vertragsversion sollte das Mautsystem am 1. Juli 2003 in Betrieb gehen. In der auf der Homepage von Wikileaks dokumentierten Version heißt es im Punkt E 2.5 der am 14. November 2002 geschlossenen Ergänzungsvereinbarung: „Die Projektgesellschaft wird das Mautsystem spätestens am 31. August 2003 in Betrieb nehmen und bis zur Erteilung der Endgültigen Betriebserlaubnis (…) betreiben. Die vereinbarte Inbetriebnahme im Sinne dieses Vertrages ist der 1. September 2003.“ Keiner der vertraglich vereinbarten Termine wurde von Toll Collect eingehalten.  
Im Punkt E 3.4 des ursprünglichen Vertrages heißt es außerdem: „Die Projektgesellschaft garantiert die Einhaltung der im Technischen Konzept niedergelegten technischen Leistungsfähigkeit des Mautsystems.“  
Schon sehr früh wurde von Kritikern allerdings auf gravierende Mängel des von Toll Collect entwickelten Systems hingewiesen, unter anderem auf eine hohe Fehlerquote bei der Erkennung von Fahrzeugkennzeichen, der Möglichkeit von Sabotage durch Störsender und des Ausweichens von LKWs auf Landstraßen (Mautflüchtlinge).  
Im Mai 2004 gab Toll Collect im Rahmen einer Pressemitteilung bekannt, dass ein Systemtest eine Zuverlässigkeit von 99,6 Prozent erbracht habe. Vom Konsortium konnte jedoch nicht präzisiert werden, wie diese Zahl konkret zustande kam und welche Gutachterfirma diesen Systemtest durchgeführt hatte.  
Die genaue Höhe der Toll Collect für das Betreiben ihres Systems zustehenden Einnahmen ist nicht bekannt. Das Konsortium selbst gibt „etwa 10 Prozent“ der erhobenen Mautgebühren zu, andere Quellen vermuten jedoch einen Anteil von bis zu 25 Prozent. Ursprünglich veranschlagt waren jährliche Zahlungen von etwa 650 Millionen Euro.  

Geplatzte Inbetriebnahme  

Die Inbetriebnahme des Maut-System konnte zum vertraglich vereinbarten Termin, dem 31. August 2003 wegen gravierender Mängel nicht stattfinden. Der damalige Bundesverkehrsminister Manfred Stolpe (SPD) legte als neuen Termin den 2. November fest, der ebensowenig gehalten wurde. Das Bundesverkehrsministerium sprach damals von 86 bekannten Fehlern im System – die vollständige Liste dieser Fehler kam allerdings nie an die Öffentlichkeit. Die Inbetriebnahme wurde auf einen unbestimmten Zeitpunkt verschoben.  
Stolpe, der über hinreichend Rückendeckung durch den Haushaltsausschuss des Deutschen Bundestages verfügte, drohte dem Firmenkonsortium mehrmals mit Vertragskündigung. Die Bundesregierung ging damals von einem Einnahmenverlust in Höhe von monatlich 156 Millionen Euro aus.  

Das Maut-System konnte erst am 1. Januar 2005, also mit 16 Monaten Verspätung, stark eingeschränkt in Betrieb genommen werden. Die vollständige Inbetriebnahme erfolgte dann am 1. Januar 2006 – also mit weiteren 12 Monaten Verspätung.  

In diesem Zusammenhang sei erwähnt, dass Minister Stolpe damals die Mindereinnahmen infolge des Toll-Collect-Desasters zum Anlass nahm, dem deutschen Verkehrswesen ein radikales Sparprogramm aufzuerlegen. Zahlreiche geplante Baumaßnahmen zum Bau neuer und zur Sanierung bestehender Verkehrswege wurden auf Eis gelegt, Firmenverträge vorfristig gekündigt und Personal abgebaut.  

Besagte Maßnahmen betrafen jedoch nur zu einem sehr geringen Teil die Autobahnen, deren nicht funktionierendes LKW-Mautsystem für die Finanzlücke verantwortlich war. Leidtragender des Sparprogramms war damals im Wesentlichen die Deutsche Bahn, also genau das Verkehrsnetz, das nach dem ursprünglichen Konzept von der Einführung einer LKW-Maut profitieren sollte.  

Vertragskündigung und Schiedsverfahren  

Bereits im Dezember 2003, also kurz nach der verpatzten Inbetriebnahme des Systems, erwies sich das Management von Toll Collect bei Verhandlungen mit Vertretern des Bundesverkehrsministerium als völlig uneinsichtig, sprach sich selbst von sämtlicher Verantwortung für Terminverzögerungen und die dadurch verursachten Verluste an Einnahmen für die Bundeskasse frei.  

Das war dann der Grund für eine tatsächlich ausgesprochene Vertragskündigung. Der Haushaltsausschuss des Bundestages hatte kurz zuvor mit den Stimmen aller Fraktionen beschlossen, den Vertrag zu beenden, wenn Toll Collect nicht umgehend einen neuen Termin für die Inbetriebnahme des System nennen und außerdem die entstandenen Finanzausfälle begleichen würde. Ersteres erfolgte, das zweite nicht.  

Toll Collect hatte sich damals lediglich zu einer Haftung in Höhe von maximal 500 Millionen Euro bereit erklärt, was das Bundesverkehrsministerium als völlig unzureichend ablehnte. Der der Bundesrepublik Deutschland infolge der verzögerten Inbetriebnahme entstandene Verlust soll insgesamt sieben Milliarden Euro betragen. Der reine Schadenersatz wurde vor Gericht mit 3,6 Milliarden Euro beziffert, zuzüglich einer Konventionalstrafe von 1,6 Milliarden Euro sowie einer nicht unerheblichen Verzinsung.  

Die am 19. Februar 2004 ausgesprochene Vertragskündigung wurde nach erneuten Verhandlungen von Bundeskanzler Gerhard Schröder persönlich wieder aufgehoben. Offensichtlich hatte man den Kanzler davon überzeugt, dass ein der Kündigung folgender und vermutlich Jahre andauernder Rechtsstreit ungünstig ausgehen könne und in jedem Fall die Inbetriebnahme des Maut-Systems in unendliche Ferne rücken würde.  Eine Vermutung, die angesichts des kürzlich erfolgten Desasters einer erneut verpatzten Inbetriebnahme des Flughafens BER gar nicht so abwegig ist. Die Ursachen für das Einknicken Gerhard Schröders dürften irgendwo ganz versteckt in den 17.000 Seiten Vertragstext zu finden sein, die von Juristen und Beratern formuliert wurden und die bis heute kein Parlamentarier vollständig zu Gesicht bekommen durfte.  

Für die verzögerte Inbetriebnahme erfolgten von Seiten des Betreibers jedenfalls nur im Vergleich zu den entgangenen Gebühren lächerlich niedrige Ausgleichzahlungen. Im Sommer 2004 verkündete das Bundesverkehrsministerium daher, dass es wegen nicht beglichener Schadenersatzforderungen in Schiedsgerichtsverhandlungen mit Toll Collect gehen würde.  

Die Klage vor dem Schiedsgericht wurde dann im Juli 2005 eingereicht. In der Klagebegründung hieß es, dass Toll Collect die Bundesregierung bewusst im Unklaren über technische Probleme bei der Entwicklung des Systems gelassen habe, woraus dann die 16-monatige Verzögerung bei der Inbetriebnahme resultierte.  

Wie von dem bekannten Korruptionsexperten Werner Rügemer dokumentiert, hatte Toll Collect zur Vertragsunterzeichnung per Presseerklärung versichert: „Die dafür notwendige Technik existiert bereits und wurde in dieser Kombination eigens für Toll Collect in einem mehrjährigen Probelauf erfolgreich eingesetzt und getestet. Das System ist jederzeit und überall einsatzbereit.“ (Rügemer, 2004) Eine glatte Unwahrheit, wie sich wenig später erwies. Rügemer bezeichnete diese Mitteilung wohl zutreffend als „Vorspiegelung falscher Tatsachen“ und „arglistige Täuschung“ (ebenda).  

Das Management von Toll Collect verweist im Zusammenhang mit der Schadenersatzforderung der Bundesregierung von sieben Milliarden Euro gern auf Gegenforderungen. Diese belaufen sich auf etwa eine Milliarde Euro Einbehalte auf Rechnungslegungen von Toll Collect einschließlich Verzinsung.  Die Rechnungskürzungen des Verkehrsministeriums sollen eine Folge nicht nachvollziehbarer Abrechnungen von Maut-Einnahmen durch Toll Collect sein.

Das Konsortium hatte sich im Vertrag zu „einer transparenten Kosten- und Leistungsrechnung“ verpflichtet, diese jedoch nicht vollständig umgesetzt. Ob die von Toll Collect eingereichte Gegenforderung tatsächlich berechtigt ist, scheint aus diesem Grunde fraglich. Es dürfte eher wahrscheinlich sein, dass es dabei lediglich um die Schaffung einer „Verhandlungsmasse“ sowie um eine Verzögerung des Verfahrens ging.

Seit Eröffnung des Schiedsverfahrens spielt das Konsortium Toll Collect auf Zeit; unter anderem war im Vertrag festgelegt worden, dass die streitenden Parteien sich einvernehmlich auf einen Schiedsrichter einigen müssten. Die Verhandlungen vor dem Schiedsgericht konnten dadurch überhaupt erst nach mehreren Jahren Verzögerung beginnen. Seitdem geben sich Gutachter, Gegen-Gutachter und Gegen-gegen-Gutachter gegenseitig die Klinke in die Hand.  

Bis heute gibt es weder eine Urteilsverkündung noch einen Vergleich, lediglich immer weiter in die Höhe gehende Gerichtskosten sowie weitere Kosten für Gutachter, Sachverständige und Rechtsanwälte. Bis 2012 hat die Bundesregierung im Zusammenhang mit dieser Klage 97 Millionen Euro Honorare an Beraterfirmen gezahlt, insgesamt soll der Prozess den deutschen Steuerzahler bisher 136 Millionen Euro gekostet haben.  
Auf eine kürzlich erfolgte Anfrage des Haushaltsausschusses des Bundestages zum Stand des Schiedsverfahrens erfolgte eine eher ernüchternde Antwort. Eine neu beauftragte Gutachterfirma müsse zehntausende Toll-Collect Buchungen überprüfen, dieses Verfahren könne sich noch zwei bis drei Jahre hinziehen.   

Der Vorgang ist umso absurder, als sich fast die Hälfte des Konsortiums Toll Collect noch immer im Besitz des mehrheitlich staatseigenen Unternehmens Deutsche Telekom befindet, die Bundesregierung also über Jahre hinweg immense Gelder dafür ausgibt, sich selbst zu verklagen.  

Und kein Ende absehbar?  

Seit Jahren ist es ein Lieblingsprojekt der CSU, auswärtige EU-Bürger für die Nutzung deutscher Autobahnen mit einer PKW-Maut zu belasten. Dies gilt zwar zu Recht als Unfug und als juristisch nicht durchsetzbar, ist aber in Bayern populär.  

In Gestalt von Alexander Dobrindt gelang es der CSU sogar, einen der entschlossensten Verfechter dieses Projektes auf den Posten des Bundesverkehrsministers zu hieven. Dessen Kompetenz wird zwar fast durchweg in Zweifel gezogen; Schlagzeilen machte er bisher fast ausschließlich durch Pöbeleien gegen linke und bündnisgrüne Politiker. Aber im Vergleich zur richtigen Parteizugehörigkeit sind Fachkenntnisse bei Ministern bekanntlich sekundär.  

Der Betreibervertrag mit Toll Collect hätte jedenfalls im August 2015 regulär auslaufen können. Es wäre von Seiten des Bundesverkehrsministeriums problemlos möglich gewesen, das Mautsystem dann entweder in die eigene Hände zu nehmen, also weder Toll Collect noch anderen Konzernen künftig weitere Milliardenbeträgen in den Rachen zu werfen.  

Die zweitbeste Möglichkeit wäre gewesen, das Betreiben des Systems neu auszuschreiben und es an einen günstigen Bieter zu vergeben, der über genügend Fachkompetenz verfügt und sich mit einer geringeren Profitspanne begnügt – 90 Millionen Euro jährlich soll Toll Collect bei dem Geschäft zur Zeit an Gewinn einfahren. Verschiedene in Frage kommende Firmen hatten wohl bereits Interesse signalisiert.  
Bundesverkehrsminister Dobrindt zog es allerdings vor, von keiner dieser beiden Möglichkeiten Gebrauch zu machen. Stattdessen verlängerte er den Betreibervertrag mit Toll Collect ohne Ausschreibung um weitere drei Jahre, also bis zum 31. August 2018. Die ursprünglich vereinbarte Höhe der jährlichen Vergütung blieb nach offiziellen Angaben unverändert; tatsächlich soll die Vertragsverlängerung einige für das Konsortium sehr günstige neue Klauseln enthalten.  

War Dobrindts Entscheidung von einer schnellstmöglichen Umsetzung seines Lieblingsprojektes diktiert? Nach einem Abmahnungsschreiben der EU-Kommission vom Juni dieses Jahres gilt das Projekt Ausländermaut als gescheitert und wurde auf Eis gelegt. Die Einführung einer allgemeinen PKW-Maut allerdings nicht; ab 2017 sollen deutsche PKW-Halter zur Kasse gebeten und außerdem die auf Autobahnen erhobene LKW-Maut auch auf das Befahren von Landstraßen ausgeweitet werden.  

Es ist an sich keineswegs einsehbar, wieso der Verkehrsminister nach dem Desaster des Jahres 2003 dieses Geschäft nun ausgerechnet dem Konsortium Toll Collect in den Rachen stopft und nicht einmal versucht, im Interesse der öffentliche Hand günstigere Bedingungen auszuhandeln.

Gar nicht davon zu reden, dass es nach den bisherigen Erfahrungen mit den Geschäftsgebaren von Toll Collect höchst fragwürdig ist, ob es dem Konsortium überhaupt gelingt, die erforderliche Erweiterung des Systems zum gewünschten Termin auch technisch umzusetzen.  

Das ist aber natürlich noch nicht alles zum Thema LKW-Maut: Mittlerweile haben zahlreiche Fuhrunternehmen gegen die Höhe der bisher erhobenen Maut-Gebühren Widerspruch eingelegt. Insgesamt 6000 Anträge auf Rückerstattung sollen beim Bundesamt für Güterverkehr mittlerweile vorliegen.  

Mehrere Transportunternehmen haben geklagt. In einem ersten verhandelten Fall hat das Oberverwaltungsgericht Münster kürzlich der Klage eines Fuhrunternehmers stattgegeben und die Berechnung der LKW-Maut für unwirksam erklärt. Auf die Bundesrepublik Deutschland dürften nun wohl Rückforderungen in Höhe von geschätzt bis zu 1,75 Milliarden Euro zukommen.  
Im laufenden Schiedsverfahren soll in diesem Zusammenhang ganz schnell eine Reaktion der Anwälte des Systembetreibers Toll Collect erfolgt sein: Mit dem Münsteraner Richterspruch sei nun die Grundlage für die Schadenersatzklage des Verkehrsministerium vor dem Schiedsgericht entfallen. Auch eine Logik: Je höher der Schaden, desto weniger Grund für einen finanziellen Ausgleich. Oder auch: Je untauglicher ein System ist, desto weniger sollte man es kritisieren.  

Einer Reaktion des Verkehrsministers darf man gespannt entgegensehen. Experten vermuten schon seit geraumer Zeit, dass die Bundesregierung nur nach einem halbwegs glaubhaften Vorwand sucht, das Schiedsverfahren sang- und klanglos zu beerdigen und den geforderten Schadenersatz unter Verlust zu verbuchen. Aktionäre und Management des Konsortiums Toll Collect würden es Herrn Dobrindt gewiss danken.  

Immerhin hat dieser kürzlich unter Beweis gestellt, dass er nicht bereit ist, irgendwelche Konsequenzen aus dem Toll-Collect-Desaster zu ziehen. Im Gegenteil: Es sollen weitere gemeinsame Bauvorhaben zwischen dem öffentlichen Dienst und der Privatwirtschaft angeschoben werden und dabei private Schiedsverfahren als „gute Streitschlichtungsmechanismen“ zur Anwendung kommen.

Verwendete Literatur:  

Zum Autor:
Gerd Bedszent lebt und arbeitet als freier Autor in Berlin. Er schreibt u. a. in „Ossietzky“ und „junge Welt“.

Dieser Beitrag erschien zuerst in unserer Zeitschrift BIG Business Crime Nr. 4/2015

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