Die Entstehung der derzeit bekanntesten und wohl auch teuersten Investruine Mitteleuropas – des Flughafens Berlin Brandenburg „Willy Brandt“, Kurzbezeichnung BER – ist wohl hauptsächlich dem gemeinschaftlichen Versagen von Geschäftsführung und Aufsichtsrat der Flughafengesellschaft Berlin Brandenburg GmbH zuzuschreiben. Zu diesem Schluss kommt jedenfalls die Fraktion der Piratenpartei im Berliner Abgeordnetenhaus in ihrem seit Ende Juni 2015 vorliegenden zweiten Zwischenbericht des Untersuchungsausschusses zum BER-Skandal.
Aber zunächst zur Erinnerung: Die Flughafengesellschaft Berlin Brandenburg GmbH ist zu 26 Prozent Eigentum der Bundesrepublik Deutschland, jeweils weitere 37 Prozent besitzen die Bundesländer Berlin und Brandenburg. Der Aufsichtsrat der Gesellschaft war und ist demzufolge mit hochkarätigen Politikern bestückt. Die Inbetriebnahme des südlich von Berlin gelegenen Großflughafens sollte ursprünglich 2007 erfolgen, wurde später auf 2011 und dann noch einmal auf den 3. Juni 2012 verschoben. Unmittelbar vor diesem letzten Termin platzte dann die Bombe: Die Brandschutzanlage des Gebäudekomplexes konnte nicht zur Nutzung freigegeben werden. Damit war die Inbetriebnahme bis auf weiteres gestorben. Und die Verantwortlichen schieben sich die Schuld am Debakel seitdem gegenseitig in die Schuhe.
Die Autoren Martin Delius und Benedict Ugarte Chacón sehen die Ursachen für das Desaster hauptsächlich in strukturellen Defiziten im Management des gemischten Staatsunternehmens. Von höheren Entscheidungsträgern der Flughafengesellschaft wurden „frühe Warnungen vor dem Kollaps des Projekts ignoriert, strukturelle Fehlentscheidungen nicht revidiert, Entscheidungen getroffen, die Risiken noch verschärften“. Außerdem habe man eine „Informationspolitik und ein Unternehmensklima gepflegt, die (…) eine aktive Steuerung sowie eine Unterrichtung der Öffentlichkeit unmöglich“ machten. Einem in Bauherrenfunktion tätigen Büro hatte man beispielsweise nach Warnungen über eine mögliche Nichteinhaltung des vorgesehenen Inbetriebnahmetermines kurzerhand den Vertrag nicht verlängert. Schreiben von Bauüberwachungsbüros, die Handlungsbedarf der Verantwortlichen anmahnten, wurden ganz einfach ignoriert. Die Geschäftsführer der Flughafengesellschaft frisierten Berichte, unterdrückten ganz gezielt kritische Stimmen und ließen den Aufsichtsrat über den tatsächlichen Realisierungsstand des Projektes über einen langen Zeitraum hinweg im Unklaren.
Aus dem Zwischenbericht geht hervor, dass die verweigerte Abnahme der Brandschutzanlage das Baustellendesaster zwar offenkundig machte. Es habe jedoch noch eine Vielzahl weiterer Probleme gegeben. Mit hoher Wahrscheinlichkeit hätte die geplante Inbetriebnahme auch bei einer intakten Brandschutzanlage nicht stattgefunden. Die Behauptung der Geschäftsführer, über den desaströsen Zustand des Projektes nicht umfänglich informiert gewesen zu sein, wurde von den Autoren als „nicht glaubhaft“ eingestuft.
Der Bericht der Piratenfraktion geht außerdem mit der im Aufsichtsrat des Unternehmens vertretenen Berliner Politprominenz hart ins Gericht. Der Vorsitzende Klaus Wowereit, damals Regierender Bürgermeister von Berlin, und die übrigen Mitglieder hätten ihre Aufgabe wohl von allem darin gesehen, „Berichte der Geschäftsführung ungeprüft zur Kenntnis zu nehmen“. Zahlreiche nachträglich vorgenommene Änderungen am Flughafenkonzept, die den Bauablauf massiv störten, seien vom Aufsichtsrat unhinterfragt gebilligt worden. Bis zum Scheitern des letzten Inbetriebnahmetermines im Juni 2012 habe das Gremium „es versäumt, sich über die Berichterstattung der Geschäftsführung hinaus eigenständig über das Projekt zu informieren“ und daher keine Kenntnis über den tatsächlichen Zustand des Projektes gehabt.
Briefe der im Auftrag des Münchener Flughafens tätigen Unternehmensberatung McKinsey, die Anfang 2012 vor einem drohenden Scheitern der Inbetriebnahme warnte, wurde beispielsweise von Geschäftsführung und Aufsichtsratsvorsitzendem souverän ignoriert, den übrigen Mitgliedern des Aufsichtsrates erst gar nicht zur Kenntnis gegeben.
Auf eine Wiedergabe der insgesamt in dem Bericht aufgelisteten Serie von Pleiten, Pech und Pannen sowie dem notorischen Gedächtnisverlust der Verantwortlichen wird hier verzichtet. Nur noch so viel: Nach derzeitigem Stand ist es wohl unmöglich, die durch das Flughafendebakel entstandene Mehrbelastung für die öffentlichen Haushalte auch nur zu schätzen. Forderungen von Firmen in Milliardenhöhe seien „noch nicht nachverhandelt“. Die Flughafengesellschaft habe „keinen Überblick über die tatsächlichen voraussichtlichen Projektkosten“. Außerdem sei die Kapazität des geplanten Flughafens schon vor seiner Inbetriebnahme viel zu knapp bemessen; seine Wirtschaftlichkeit wurde „schon von mehreren Seiten infrage gestellt“.
Im Zwischenbericht wird weiter die schleppende Auslieferung angeforderter Unterlagen an den Untersuchungsausschuss – zum Teil musste eine solche Auslieferung per Gerichtsbeschluss erzwungen werden – sowie die deutlich kontraproduktive Rolle der Berliner Koalitionsfraktionen von CDU und SPD bemängelt. Beide Parteien sind maßgeblich in den BER-Skandal verwickelt und derzeit vorrangig bestrebt, die von ihrer Seite her Verantwortlichen Frank Henkel (CDU) und Klaus Wowereit (SPD) rechtzeitig vor der nächsten Wahl aus der Schusslinie zu bringen. Der Regierende Bürgermeister Wowereit trat im Dezember 2014 zurück und verließ zeitgleich auch den Aufsichtsrat, Innensenator Henkel will weiter in diesem vertreten bleiben. Zahlreiche für den Zwischenbericht verwendete Unterlagen erreichten die Piratenfraktion nicht auf dem regulären Dienstweg, sondern wurden Mitgliedern des Untersuchungsausschusses anonym zugespielt.
Sehr lesenswert sind die Passagen im Bericht, die die völlige Ahnungslosigkeit des Bundesverkehrsministeriums dokumentieren, welches sich bis zuletzt ungeprüft auf Aussagen der Geschäftsführung der Flughafengesellschaft verließ. Noch im Sommer 2012, als die Inbetriebnahme bereits geplatzt war, ging eine vom Minister ins Leben gerufene „Soko BER“ von einer erneuten Verschiebung um nur wenige Monate aus – mittlerweile ist dies drei Jahre her und vor dem Herbst 2017 wird sich in Sachen Inbetriebnahme keinesfalls etwas bewegen.
Die Autoren des Zwischenberichtes der Piratenfraktion streben für die Zukunft eine eindeutige und detaillierte Bewertung der Schuldfrage an. Es sollte geklärt werden, „welches Risiko für die Zahlungsfähigkeit der Flughafengesellschaft durch Aufsichtsrat und Geschäftsführung bewusst, unbewusst oder ungerechtfertigt in Kauf genommen wurde.“ Ob eine solche Bewertung für die Verantwortlichen dann tatsächlich finanzielle Auswirkungen haben wird? Hacken Krähen sich neuerdings gegenseitig die Augen aus? Nun ja…
Sämtliche maßgeblich Beteiligte am Flughafendesaster haben bisher öffentlich erklärt, sie seien sich keiner Schuld bewusst. Einer Klage des Geschäftsführers Rainer Schwarz auf über eine Million Euro Ausgleich wegen seiner im Juni 2013 ausgesprochenen fristlosen Kündigung – er musste damals seinem Nachfolger Hartmut Mehdorn Platz machen – hat das Landgericht Berlin jedenfalls stattgegeben.
Die Flughafengesellschaft wurde verurteilt, Schwarz sein Monatsgehalt von knapp 20.000 Euro zuzüglich Rentenversicherung bis Vertragsende weiter zu zahlen. Die Kündigung sei zu spät ausgesprochen worden und demzufolge unwirksam, meinten die Richter. Derzeit ist Schwarz Geschäftsführer des Flughafens von Rostock-Laage und nagt als solcher keinesfalls am Hungertuch.
Die Vernehmung weiterer Mitglieder des Aufsichtsrates – außer Wowereit und Henkel – durch den Untersuchungsausschuss steht wohl noch aus. Noch nicht abgeschlossen sind auch die Aufarbeitung des zum Teil desaströsen Krisenmanagements nach dem geplatzten Inbetriebnahmetermin von 2012 sowie der tatsächlichen Rolle des zwischenzeitig als vorgeblichem Retter des Projektes hochgejubelten Ex-Bahnchefs Hartmut Mehdorn. Dem Abschlussbericht des Untersuchungsausschusses, in dem Parlament und Bevölkerung umfassend über Gründe und Details des BER-Desasters informiert werden sollen, darf man jedenfalls gespannt entgegensehen. Vor dem Jahre 2016 – so schreiben die Autoren – ist mit ihm allerdings nicht zu rechnen.
Gerd Bedszent lebt und arbeitet als freier Autor in Berlin.
Dieser Artikel erschien zuerst in unserer Zeitschrift BIG Business Crime 03/2015.
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