Konfliktzone Südchinesisches Meer

Während unsere Aufmerksamkeit vor allem auf die Konflikte in Europa und dessen geografischer Nähe gerichtet ist, hat sich seit geraumer Zeit eine Auseinandersetzung um die Abgrenzung der Meereszonen im Südchinesischen Meer entwickelt, die durchaus das Potential zum Ausbruch eines militärischen Konflikts von überregionaler Dimension hat. Ein Vorfall von Anfang Mai dieses Jahres, bei dem China innerhalb der 200 Seemeilen breiten vietnamesischen Hoheitsgewässer nahe der Paracel-Inseln – eskortiert von zahlreichen bewaffneten Marineschiffen – ohne jegliche Konsultation eine Plattform zur Erkundung von Erdöl und Erdgas mit einer Verbotszone für fremde Schiffe errichten ließ und ein sich näherndes vietnamesisches Schiff von einem chinesischen Marineschiff gerammt und mit Wasserkanonen vertrieben wurde, zeigt exemplarisch, wie zugespitzt die Lage in diesem Raum ist, vor allem, wenn man die anschließenden antichinesischen Demonstrationen auf dem vietnamesischen Festland hinzunimmt.

Was sind die Ursachen für diese angespannte Situation?
Das Südchinesische Meer ist Teil des Chinesischen Meeres, eines großen Randmeeres des Pazifiks, und umfasst mehr etwa drei Millionen Quadratkilometer Wasserfläche mit rund 780 Inseln, Felsen und Riffen. Die bekanntesten Inselgruppen dort sind die Paracel- und die Spratly-Inseln. Jeder der zehn Anrainerstaaten des Südchinesischen Meeres hat nach dem Seerechtsübereinkommen (SRÜ) vom 10.12.1982 einen eigenen Anspruch auf jeweils ein Küstenmeer (bis maximal zwölf Seemeilen), eine ausschließliche Wirtschaftszone (bis maximal 200 Seemeilen) und einen Festlandsockel (prinzipiell bis 200 oder 350 Seemeilen).
Dass das Südchinesische Meer nicht nur für die Region, sondern weit darüber hinaus Bedeutung hat, erklärt sich daraus, dass dort reiche Öl- und Gasvorkommen vermutet werden, dass es sich um eine der meistfrequentierten Wasserstraßen der internationalen Schifffahrt handelt und dass von ergiebigem Fischreichtum gesprochen wird.
Die Spannungen in diesem Raum werden vor allem durch die Haltung der Volksrepublik China erzeugt. China beansprucht nämlich etwa 80 Prozent der Gesamtfläche des Südchinesischen Meeres und des Untergrundes als eigenes Hoheitsgebiet. Daraus entspringt nicht nur eine Konfrontation mit den anderen Anliegerstaaten, zu deren Lasten die chinesischen Ansprüche gehen, sondern – vor allem wegen der dadurch beeinträchtigten Freiheit der Schifffahrt – auch mit den Schifffahrtsnationen außerhalb der Region, vorrangig mit den USA, die dort mit ihren Marine- und Handelsschiffen präsent sein wollen. Das hat in jüngster Vergangenheit dazu geführt, dass die von dem chinesischen Großmachtstreben besonders betroffenen Anliegerstaaten die militärische Zusammenarbeit mit den USA vertieft oder – wie im Fall Vietnam – überhaupt aufgenommen haben. Angesichts der militärischen und wirtschaftlichen Überlegenheit Chinas sehen sich die kleineren Anrainerstaaten nicht in der Lage, sich allein gegen die chinesische Übermacht zur Wehr zu setzen. Das gilt umso mehr, als China seine Interessen rigoros mit Methoden durchsetzt, die es bislang bei der (noch) führenden Großmacht USA teilweise heftig kritisiert hatte. So bedient sich China zunehmend auch militärischer Drohungen zur Durchsetzung seiner Ziele, wofür der eingangs erwähnte Vorfall vom Mai nur ein Beispiel ist. Ähnliche Territorialforderungen erhebt China im Übrigen auch im Ostchinesischen Meer, was dort zu merklichen Spannungen mit Japan geführt hat.
Problematisch wird es, wenn man an das Verhalten Chinas die Maßstäbe des Völkerrechts anlegt. Dies soll nachfolgend kurz skizziert werden:
1. China hat zu seiner Anwendung des SRÜ verschiedene Vorbehalte abgegeben. Darin wird der Anspruch auf souveräne Rechte über vier Fünftel des Südchinesischen Meeres verdeckt notifiziert, nämlich unter Hinweis auf ein innerstaatliches Gesetz vom 25.2.1992. Somit wird den anderen Vertragsstaaten des SRÜ praktisch zugemutet, sich dem innerstaatlichen Recht Chinas, das dieses damit über das Völkerrecht zu stellen versucht, zu unterwerfen. Malaysia hat – offenbar als Reaktion darauf – in seinem Vorbehalt zum SRÜ darauf verwiesen, daß es sich diesbezüglich an keinerlei innerstaatliche Gesetze eines anderen Vertragsstaates des SRÜ gebunden fühlt
2. Die Ausweitung seiner Souveränität auf große Teile des Südchinesischen Meeres will China – im Widerspruch zum SRÜ – auf zwei Wegen erreichen. Zum einen proklamiert China im Gegensatz zum Wortlaut des Artikels 121 Absatz 3 SRÜ um Felsen und Riffe, insbesondere der Paracel- und Spratly-Atolle, jeweils eigene ausschließliche Wirtschaftszonen und Festlandsockel, obwohl das SRÜ ausdrücklich festlegt, dass für menschliche Besiedlung und ein wirtschaftliches Eigenleben ungeeigneten Felsen nur ein Küstenmeer von maximal 12 Seemeilen erlaubt ist.
Zum anderen wird zur Begründung der chinesischen Ansprüche auf angeblich historisch erlangte Rechte verwiesen, die Jahrhunderte zurückreichen sollen. Das SRÜ hingegen lässt eine Berufung auf historische Rechte nur in ausdrücklich dafür vorgesehenen Regelungen zu, zum Beispiel in seinen Artikeln 10 und 15. Darin wird aber davon ausgegangen, dass derartige historische Ansprüche von den beteiligten Staaten übereinstimmend anerkannt werden. Die tiefgreifenden Meinungsverschiedenheiten zwischen China einerseits und den übrigen Anrainerstaaten andererseits verdeutlichen aber gerade, dass ein solcher Konsens fehlte und auch heute noch aussteht. Somit geht auch die Behauptung Chinas ins Leere, dass diese territorialen Ansprüche dem SRÜ vorausgingen und Vorrang vor diesem Übereinkommen von 1982 besäßen.
3. Für den Fall von Streitigkeiten zwischen den Vertragsstaaten sieht das SRÜ in Artikel 283 vor, einen Meinungsaustausch über die geeigneten Mittel und Methoden der Streitbeilegung zu führen. Für den Fall, dass direkte Verhandlungen ergebnislos bleiben, bietet das SRÜ in Artikel 286 ff eine Reihe obligatorischer Verfahren an wie den Weg zum Internationalen Seegerichtshof in Hamburg, zum Internationalen Gerichtshof der UNO in Den Haag oder die Einschaltung von Schiedsgerichten. China hebelt diesen Mechanismus der Streitregelung im SRÜ praktisch dadurch aus, dass es in einem Vorbehalt jegliche Verfahren der Streitbeilegung ablehnt, und zwar hinsichtlich aller Arten von Streitigkeiten. Nach Inkrafttreten des SRÜ hat China widerholt erklärt, es wolle in direkten Verhandlungen mit jedem Anliegerstaat gesondert die Streitigkeiten über die Abgrenzung der Meereszonen erörtern. Zugleich aber bekräftigt China, dass die in seinen innerstaatlichen Gesetzen festgelegten Seegrenzen nicht verhandelbar seien. Die Souveränität Chinas stünde nicht zur Disposition. Damit führt China die verbal bekundete Verhandlungsbereitschaft selbst ad absurdum.
Während einige Anliegerstaaten, wie unter anderem Vietnam, Malaysia und die Philippinen, untereinander Verträge über die Abgrenzung der Meereszonen geschlossen und damit einen Beitrag zur Befriedung des Raumes geleistet haben, setzt China weiter auf seine Macht statt auf das Recht . So begegnet China einem von den Philippinen 2013 vor einem Schiedsgericht eingeleiteten Verfahren gegen China mit Ignoranz und verweigert die Prozessteilnahme.
Lösungen zur Beilegung des weitgehend immer noch regional begrenzten Konfliktes können nicht von der ASEAN-Organisation erwartet werden, denn dort nimmt China eine dominierende Stellung ein; ihre bisher abgegebenen Erklärungen sind wenig konstruktiv. Im UN-Sicherheitsrat könnte China mit seinem Veto-Recht eine Erörterung der Angelegenheit ohnehin verhindern. So bleibt den anderen Staaten, auch außerhalb der Region, nur, das Großmachtstreben der Volksrepublik in geeigneter Weise zu zügeln. Es gilt zu verhindern, dass sich ein solches Verhalten, das längst nicht mehr nur als „selbstbewusstes Auftreten einer aufstrebenden Nation“ zu umschreiben ist, verfestigt. Anderenfalls würde dies letztlich zum Nachteil aller übrigen Staaten gereichen. Die Erfahrung hat gelehrt, dass Großmächte ungerechtfertigte Forderungen nur in dem Maße durchsetzen können, wie sie von den übrigen Staaten nicht daran gehindert werden.