Das Titelzitat aus dem Jahre 1993 stammt vom früheren deutschen Außenminister Klaus Kinkel. So hätte möglicherweise auch die Überschrift der drei wichtigsten deutschen Redebeiträge zur 50. Münchener Sicherheitskonferenz lauten können. Dabei dürfte wohl weder vom Bundespräsidenten Gauck noch von der Verteidigungsministerin von der Leyen und dem Außenminister Steinmeier wirklich erwartet worden sein, dass die im Dreiklang erfolgte vollmundige Aufforderung zur „aktiven deutschen Außenpolitik“ so kurze Zeit später schon auf den Prüfstand gestellt werden sollte. Die einseitige und blauäugige „Vermittlungsmission“ mit deutscher Beteiligung geriet im Eiltempo zum politischen Fiasko und die seither unternommenen hektischen Bemühungen um Schadensbegrenzung belegen konzeptionsloses und ohnmächtiges Krisenmanagement.
Klar ist: Das Verhalten Russlands in der Krimkrise ist weder politisch noch völkerrechtlich gutzuheißen. Die russische Führung hat keinerlei Absicht erkennen lassen, die rasante Zuspitzung des Konflikts aufhalten zu wollen und Verhandlungswege auch nur zu erwägen. Wer aber solcherart rüdes Vorgehen einordnen und sich ernsthaft darauf einstellen will, sollte nach den tiefer liegenden Motiven für dieses Verhalten suchen und sich nicht allein auf die Überzeugungskraft eigener Politik verlassen, zumal diese offenbar von vielen Russen nicht mehr verstanden beziehungsweise deutlich abgelehnt wird.
Die Kernfrage der europäischen und damit auch des deutschen Scheiterns der Ostpolitik nach 1990 hat der Westen zu keinem Zeitpunkt aufrichtig beantworten wollen: Soll Sicherheit in Europa mit, ohne – oder vielleicht sogar gegen Russland gewährleistet werden. Am Anfang standen russische Hoffnung und europäische Versprechen einer gemeinschaftlichen Friedensordnung, so wie in der Pariser OSZE Charta 1990 feierlich beschlossen. Anstelle dieser Ordnung weitete sich das Bündnis der NATO immer weiter ostwärts aus, und an die Stelle der Idee einer gemeinsamen Ordnung rückten Gedankenspiele über „rote Linien“ russischer Toleranz, die möglicherweise berücksichtigt oder eben zurückgedrängt werden müssten. Russland wurde faktisch an den sicherheitspolitischen Katzentisch verwiesen und seine Mitwirkung wurde nur erbeten, wenn für die zu lösenden Probleme sein Mitwirken für sinnvoll (zum Beispiel auf dem Balkan) oder zwingend (wie als Mitglied des UN-Sicherheitsrats) gehalten wurde. Im Übrigen wurde Sicherheitspolitik ohne Russland praktiziert. Im Windschatten dieser Ausgrenzung gediehen zunehmend Nationalismus und eine Europafeindlichkeit. Durch wiederkehrende Enttäuschung über ausbleibende Belohnungen russischen Entgegenkommens bei der Ausdehnung der NATO an die Grenzen Russlands, bei der nuklearen und konventionellen Rüstungskontrolle, aber auch bei Beschlüssen im Sicherheitsrat der UNO wurde die Entfremdung zwischen Russland und seinen westlichen Nachbarn befeuert und den neoimperialen Ambitionen der nationalistischen Führungseliten Zustimmung verschafft. Jetzt droht Sicherheitsvorsorge gegen Russland, die schlechteste aller vorstellbaren Perspektiven.
Damit steht der Westen vor den Trümmern seiner langjährigen fahrlässigen Geringschätzung russischer Interessen und keine Sanktionsdrohung vermag den Eindruck in Russland zu beseitigen, dass erneutes Nachgeben die Aussichten auf einen gleichberechtigten Platz in der europäischen Politik nicht verbessern würde. Anstelle einer selbstkritischen Revision der Ostpolitik, einer Rückbesinnung auf das Diktum der erfolgreichen Ostpolitik Willy Brandts und Egon Bahrs – des „Wandels durch Annäherung“ – hat eine selbstgerechte Neuordnung Europas in die Sackgasse drohender Konfrontation zwischen Ost und West geführt.
Deutschland könnte – und muss im eigenen Interesse – in der Tat die Verantwortung einer aktiven Außenpolitik annehmen. Allerdings sind deren Anforderungen andere als jene, die auf der Münchener Sicherheitskonferenz zu vernehmen waren. Die Aussichten auf Besinnung stehen nicht gut.
Eine Studie der Stiftung Wissenschaft und Politik und des German Marshall Fund of the United States formulierte den Rahmen für eine deutsche Sicherheitsstrategie kürzlich wie folgt: Deutschland spielt inzwischen selbst in der Liga globaler Akteure, „Deutschlands gewachsene Kraft verleiht ihm heute neue Einflussmöglichkeiten“, die „Anlass für die Neuvermessung seiner Internationalen Beziehungen“ seien. Und weiter: „Deutsche Außenpolitik muss die ganze Bandbreite außenpolitischer Instrumente – von humanitärer Hilfe über Entwicklungszusammenarbeit und Diplomatie bis hin zu militärischen Stabilisierungsmissionen – einsetzen. Unmittelbares Ziel ist dabei Konflikte zu beenden und Stabilität zu befördern; langfristig gilt es, die Bedingungen dafür zu schaffen, dass legitime und handlungsfähige Regierungen ihren staatlichen Aufgaben selbst nachkommen können.“ Einsatzbeteiligung mit den „Mitstreitern“ läge im nationalen Interesse Deutschlands und Europas.
Nun bedeutet dies nicht zwingend eine Hinwendung zur stärkeren Beachtung militärischer Optionen für die Außenpolitik, es schließt es aber auch nicht eindeutig aus.
Was aber bedeutet dies konkret? Die einen beschwichtigen noch und verweisen auf die Notwendigkeit eines vorangehenden völkerrechtlichen Mandats sowie eines Beschlusses des Deutschen Bundestages, und darauf, dass militärische Mittel nur im Ausnahmefall, das heißt als ultima ratio, zum Einsatz kommen sollten. Die anderen warnen davor, dass eine zunehmend zweckrationale Beurteilung der Effektivität militärischer Mittel in Bezug auf ihre Ziele, zu einer Absenkung der Einsatzschwelle führt. Militärische Mittel wären demnach nicht das letzte, sondern das äußerste Mittel, um politische Ziele durchzusetzen. Selbst der sogenannte Parlamentsvorbehalt, die Notwendigkeit einer mehrheitlichen parlamentarischen Zustimmung für Auslandseinsätze der Bundeswehr, stehe demnach zur Disposition.
Beide Positionen springen allerdings zu kurz: sie setzen daran an, ob und unter welchen Umständen die vorhandenen militärischen Fähigkeiten der Bundeswehr geeignet sind, das Erreichen außenpolitischer Ziele zu unterstützen oder eben auch nicht zu unterstützen. Sie verfehlen die Antwort auf die Frage, welche sicherheitspolitischen Herausforderungen eigentlich bestehen und wie und mit welchen Mitteln am besten mit diesen Herausforderungen umzugehen ist. Beide Argumente sehen militärische Mittel praktisch als einen normalen und verlängernden Teil des Leistungsspektrums deutscher Außenpolitik, sie erbringen jedoch nicht den Nachweis uneingeschränkter Eignung für deren Ziele. Sollten bewaffnete Einsätze zunehmend wichtiger Teil aktiver Außenpolitik sein?
Die Bilanz militärischer Einsätze in den letzten Jahren ist ernüchternd, aber das ist auch nicht überraschend. Streitkräfte können vielleicht gelegentlich Kriege entscheiden, sie sind aber unter keinen Umständen eine geeignete Institution, um zur Errichtung von Rechtsstaatlichkeit oder politischer Mitbestimmung beizutragen. Weder in Mali, Zentralafrika oder Somalia. Schon gar nicht im östlichen Europa. Hierfür sind Entwicklungszusammenarbeit, wirtschaftlicher Wiederaufbau und die Förderung eines funktionierenden Staatswesens gefragt. All dies sind keine neuen Erkenntnisse, sie scheinen in der Euphorie anstehender „Neuvermessung der internationalen Beziehungen“ allerdings aus dem Blick und zuweilen auch aus dem Verstand zu geraten.
Auslandseinsätze sind in der vielfach komplexen Realität unserer Welt kein Allheilmittel. Sie können gelegentlich unverzichtbar sein: etwa, wenn es um das Expertenwissen bei der Zerstörung der syrischen Chemiewaffen geht; oder um die Sanitätsversorgung in Krisengebieten zu unterstützen; oder Seewege gegen Piraterie zu schützen, oder Abrüstungsvereinbarungen zu überwachen, oder Soldaten nach rechtsstaatlichen Prinzipien auszubilden – um nur einige Beispiele zu nennen. Hier wäre aktiveres und entschlosseneres deutsches Engagement anzuraten. Das Risiko einer konzeptionslosen Verstrickung in militärische Missionen mahnt jedoch zur Vorsicht. Kluge Außenpolitik beschränkt sich heutzutage nicht darauf, mit der Feuerwehr auszurücken um vermeintliche Brände zu löschen, sondern stattdessen Brandschutz zu betreiben, durch zivile Krisenprävention, durch die Bekämpfung von Gewaltursachen und die bereitwillige Unterstützung der Konflikttransformation durch die Akteure vor Ort.