Jenseits unserer Wahrnehmung

Die vergessenen Konflikte

Jenseits unserer Wahrnehmung- Die vergessenen Konflikte
 
Gegenwärtig toben an die 40 Kriege und bewaffnete Konflikte
in der Welt. Die meisten dieser Krisenherde spielen in den
Medien eine untergeordnete Rolle und sind der öffentlichen
Wahrnehmung entrückt: Sie werden vergessen. Der Autor
diskutiert die Gründe für diese Entrückung: klar und kritisch,
pointiert und provozierend.
 
Wie in jedem Jahr spielten auch 2008 „in der Öffentlichkeit
nur die wenigsten Kriege eine prominente
Rolle“. Mit dieser Feststellung beginnt der jüngste Bericht der
Arbeitsgemeinschaft Kriegsursachenforschung der Universität
Hamburg über das weltweite Kriegsgeschehen. Tatsächlich
wird das öffentliche Bewusstsein nur durch sehr wenige
Kriege bestimmt. Der Krieg in Afghanistan steht gegenwärtig
an oberster Stelle, die Gewaltakte in Teilen Sudans spielen
noch eine erkennbare Rolle, nicht zuletzt in Anbetracht des
Referendums über eine Abspaltung des Südens und der politischen
Ungewissheit, die sich mit dessen Ausgang in einem
der rohstoffreichsten Länder Afrikas verbindet. Gelegentlich
wird auch von Kampfhandlungen in der Demokratischen
Republik Kongo berichtet. Dort wurde Ende 2007 eine als
erfolgreich bewertete internationale Friedensmission der EU
beendet, ohne jedoch dauerhaften Frieden zu bringen. Der
Schwebezustand zwischen Krieg und Frieden im Irak schließlich
schafft es gelegentlich in die Schlagzeilen, allerdings
nur noch dann, wenn infolge von Terroranschlägen gleich
Dutzende an zivilen Todesopfern oder zumindest einige gefallene
ausländische Soldaten oder Experten zu beklagen sind.
Die glimmenden Kriege im Kaukasus und in Südasien, in
Teilen Afrikas, Ostasiens und Lateinamerikas kommen in der
Für den hier verfolgten Zweck erstreckt sich der Kriegsbegriff
auf alle länger anhaltenden, von organisierten
Parteien gegeneinander und systematisch geführten
bewaffneten Auseinandersetzungen mit
politischem Hintergrund, gleichviel ob zwischen
oder innerhalb von Staaten.
Auslandsberichterstattung der Medien kaum mehr vor. Vom
aktuellen politischen Radar der internationalen Gemeinschaft
scheinen sie sogar gänzlich verschwunden.
Die Gründe hierfür sind unterschiedlich. Einige können
durchaus als zynisch angesehen werden. Warum interessieren
sich Regierungen für einige Kriege mehr als für andere? Bei der
Beantwortung dieser Frage hilft ein Perspektivwechsel und der
Versuch, die Interessen der Staaten zu verstehen, kriegerische
Handlungen beeinflussen bzw. beenden zu wollen – oder eben
auch, sie wegen übergeordneter Ziele zu ignorieren.
Vom Primat der Eigeninteressen
Prinzipiell gilt, dass Kriegshandlungen für Staaten zumeist erst
von Belang werden, wenn deren Verlauf eigene strategische
Interessen negativ – oder aber auch zum eigenen Vorteil – beeinflusst.
Die USA unterstützten beispielsweise den Jahre später von
ihnen selbst bekämpften irakischen Diktator Saddam Hussein in
dessen Krieg gegen den Iran, weil Washington hoffte, dadurch
das Regime von Ayatollah Khomeini in Teheran zu schwächen.
Ein ähnliches Motiv lag den von der CIA organisierten Waffenlieferungen
an die Mudschaheddin in Afghanistan in den frühen
1980er Jahren zugrunde. Diese oft als „Stellvertreterkriege“
bezeichnete Einmischung in bewaffnete Konflikte zwischen
dritten Parteien war insbesondere aufseiten der beiden großen
Protagonisten des Kalten Krieges verbreitet. Sie hat seit dem Ende
des Kalten Krieges an Popularität eingebüßt ohne verschwunden
zu sein, wie die Waffenexporte einiger Staaten belegen.
Heute dominiert vor allem das Interesse, negative Effekte
für die regionale und globale Stabilität sowie für die internationalen
Wirtschafts- und Handelsbeziehungen zu vermeiden.
Dieses Interesse kann sowohl Motive zur Einmischung als auch
der Zurückhaltung hervorbringen. Die von den UN mandatierten
Friedensmissionen in Irak, Sudan und Kongo oder auch das
Bemühen der OSZE um Stabilität in Berg-Karabach richteten
sich gegen den weiteren Verfall staatlichen Regierens und auf
die Errichtung eines stabilen Gewaltmonopols. Hier handelt es
sich um rohstoffreiche oder wichtige Transitstaaten, an deren
„Funktionieren“ viele andere Staaten eigene Interessen haben.
In anderen Fällen jedoch – z. B. in den Gebieten des Nordkaukasus,
in Kaschmir oder Tibet – hält sich die internationale
Gemeinschaft auffällig zurück, vor allem, weil das Interesse an
stabilen politischen und wirtschaftlichen Beziehungen mit den
mächtigen Patronen einer der involvierten Konfliktparteien
höher wiegt als eine aktive Parteinahme.
Schwacher Interventionismus
Darüber hinaus gibt es für Staaten weitere Gründe, bewaffnete
Konflikte zu ignorieren, selbst wenn eigentlich ein Interesse
an deren Beendigung bestehen müsste. Die Diffusion
von Gewaltakteuren und Gewaltaustrag in konfliktzerrissenen
Staaten mit unklaren Machtverhältnissen ist ein Grund. Afghanistan
hat auch die letzten Optimisten eines Besseren belehrt,
die daran glaubten, die bewaffneten Konflikte der Gegenwart
seien durch Intervention vonseiten militärtechnisch überlegener
Drittstaaten oder ihrer Koalitionen in dauerhaften Frieden zu
verwandeln. Die Asymmetrie der militärischen Potenziale sagt
heute nur noch wenig über die Erfolgsaussichten militärischer
Operationen aus. Dies mussten lange vor den Koalitionen der
Willigen im Irak und Afghanistan bereits die USA in Vietnam
und die Sowjetunion in Afghanistan erfahren. Die Erkenntnis
hoher militärischer Eigenrisiken wirkt sich zunehmend auf die
Bereitschaft zur Beteiligung an Interventionen aus, insbesondere
wenn durch die bewaffneten Konflikte keine Eigeninteressen
tangiert scheinen oder das Risiko einer Intervention höher
bewertet wird, als den Konflikt sich selbst zu überlassen. Die
Massaker in Ruanda und der Demokratischen Republik Kongo
mit ihren Hunderttausenden von zivilen Todesopfern waren nur
möglich, weil über die Tatsachen vor Ort über Jahre hinweggesehen
wurde. Wenn politische Konzepte fehlen, sind bewaffnete
Interventionen jedoch erst recht problematisch.
In den vergangenen Jahren gerieten vor allem Konflikte ins
Blickfeld, bei denen viele Staaten aus unterschiedlichen Kulturkreisen
ein starkes Interesse an der Eindämmung von Kriegshandlungen
besaßen. Der westliche Balkan war hierfür ein
europäisches, Afghanistan ein globales Beispiel – mit inzwischen
46 an der ISAF-Friedensmission beteiligten Mitgliedstaaten der
Vereinten Nationen. Wo dieses übergreifende Interesse fehlt,
setzen sich Gewalthandlungen unter Ausschluss der Öffentlichkeit
fort und es bleibt allein Nichtregierungsorganisationen
überlassen, nach Auswegen aus den Kriegen zu suchen.
Das Bündnisproblem
Ein weiterer Aspekt ist die „Bündnisloyalität“. Hierbei ist
zwischen aktiver Partnerschaft und faktisch erzwungener
Bündniskooperation zu unterscheiden. In der NATO etwa ist
jedem Staat überlassen, frei zu entscheiden, in welcher Form
er sich an bündnisgemeinsamen militärischen Operationen
beteiligt. Dies kann die Entsendung von Streitkräften, aber
auch nur verbale Unterstützung bedeuten. In der Integration
des Bündnisses können bestimmte Operationen heute nur
noch gemeinsam durchgeführt werden, weil die vorgehaltenen
Fähigkeiten arbeitsteilig organisiert sind. Die Probleme, die
dadurch entstehen können, zeigten sich in der Diskussion um
die deutschen Anteile in den AWACS-Flugzeugbesatzungen zur
Überwachung des türkischen Luftraums während der Irakinvasion
der US-geführten Koalition und auch bei der Entscheidung
über die Entsendung von ECR-Tornados zur Luftraumüberwachung
in Afghanistan.
Bündnisräson kann zwar durch politischen Druck eingefordert,
aber durch öffentlichen Druck auch unterwandert werden.
Gerade in Demokratien spielt die öffentliche Wahrnehmung
und die Stimmung in der Bevölkerung eine wichtige Rolle,
wenn es für die Regierungen darum geht, Position zu beziehen.
Nimmt der öffentliche Druck zu, sehen sich Regierungen stärker
zum Handeln veranlasst. Andererseits müssen Regierungen aber
auch ihre Entscheidungen in der Öffentlichkeit immer wieder
neu verteidigen, insbesondere wenn in bewaffneten Missionen
Leib und Leben entsandter Soldaten gefährdet werden.
Ein Indiz für die Sensibilität politischer Gradmessung ist der
schwindende Rückhalt in der deutschen Bevölkerung für die
Beteiligung der Bundeswehr an der Mission Operation Enduring
Freedom, die mit NATO-Mandat zur Terrorbekämpfung nach
den Anschlägen vom September 2001 begonnen wurde und bis
heute geführt wird.
Mangel an Öffentlichkeit
Der Diskurs in demokratischen Gesellschaften ist ein Katalysator
für die Beständigkeit von Regierungshandeln. Dies kann
zur bewussten Abkehr von bewaffneten Konflikten führen, etwa
wenn das öffentliche Interesse nachlässt oder auch, wenn eine
Beendigung der Gewalthandlungen vor Ort für lange Zeit nicht
in Sicht scheint, wie dies bei der EU-geführten Friedensmission
in Kongo der Fall war. In anderen Fällen genügt mitunter schon
ein eingefrorener Zustand des Nicht-Krieges und mangelndes
Vertrauen in die zügige Erreichbarkeit eines stabilen Friedens,
um die Aufmerksamkeit auf die Lage im betroffenen Land aus
der öffentlich dargestellten Politik zu verbannen. Kosova und
Bosnien sind hierfür Beispiele. Die ernüchternde Einschätzung
der im Einsatz befindlichen Soldaten über die friedenspolitische
Situation in den beiden Ländern korrespondiert nicht mit dem
seit einigen Jahren zu beobachtenden Prozess einer sich allmählich
herausschleichenden friedenserhaltenden Präsenz. Eine
öffentliche Debatte hierzu wird erkennbar vermieden.
Je geringer die eigenen wirtschaftlichen oder sicherheitspolitischen
Interessen tangiert scheinen und je schwächer der öffentliche
politische Druck ausgeprägt ist, je höher die Eigenrisiken
einer Intervention beurteilt werden und je stärker das Interesse
zur Partnerschaft mit einer der Kriegsparteien oder der sie unterstützenden
Staaten ist, desto mehr drohen Gewaltkonflikte in
„Vergessenheit“ zu geraten. Hinzu kommt: In der Öffentlichkeit
haben bewaffnete Konflikte ein zunehmend volatiles Interesse.
Dimension und Neuwert der in den Medien behandelten
Gewaltakte prägen die Stimmung. Die mediale Berichterstattung
über den Krieg im Irak und in jüngster Zeit auch über
Afghanistan gleicht einer abflachenden Kurve mit zunehmend
geringer werdenden Ausschlägen. Mit andauernden gleichförmigen
Kampfhandlungen nimmt das mediale Interesse an regelmäßiger
Berichterstattung ab. Berichte gibt es nur noch, wenn
Opferzahlen gegenüber vorigen eine größere Dimension besitzen.
So unterschieden sich auch die zunächst ausführlichen
Berichte über die ersten gefallenen Soldaten der Bundeswehr in
Afghanistan deutlich von jenen über nachfolgende Todesfälle.
Kriege und bewaffnete Konflikte geraten auch aus dem Blickfeld,
wenn sie beendet scheinen – selbst wenn von Frieden nicht
die Rede sein kann. Die in diesem Heft behandelten Konflikte
stehen auf unterschiedliche Weise für das Bild der „vergessenen“
Kriege. Gemeinsam ist ihnen, dass sie jederzeit eskalieren
können, weil ihre Ursachen fortbestehen, und dass die internationale
Gemeinschaft in ihrer Schutzverantwortung politisch und
moralisch gefordert ist, sich dem Schicksal der Not leidenden
Menschen zu widmen.