Die Schüler- und Studentenproteste 2011 haben Chile für immer verändert. Monatelang zogen Zehntausende, manchmal Hunderttausende für ein gutes, kostenloses Bildungssystem auf die Straße und wussten dabei die meisten ihrer Landsleute hinter sich. Es war die bemerkenswerteste Jugendbewegung Lateinamerikas seit langem. Damals schien die Kluft zwischen dem politischen Establishment und der Straße monatelang unüberwindbar. Die schöne Studentensprecherin Camila Vallejo, Mitglied der Kommunistischen Jugend, wurde als lateinamerikanische Ikone der weltweiten Jugendproteste gefeiert.
Doch die Regierung des rechtsliberalen Milliardärs Sebastián Piñera saß den Bildungsstreit einfach aus. 2012 ebbten die Demonstrationen ab, und nach wie vor ist Hochschulbildung nirgendwo auf der Welt so teuer wie in Chile. Trotz eines tiefgreifenden Legitimationsverlustes des politischen und wirtschaftlichen Systems scheint es auf den ersten Blick sogar, als stehe nun ein ganz normaler Regierungswechsel bevor. Das liegt vor allem an einer Person: Michelle Bachelet. Wie schon vor acht Jahren schickt sich die populäre Sozialistin an, Präsidentin zu werden. Eine rechnerisch durchaus mögliche Wiederwahl 2009 scheiterte an einem Verbot in der Verfassung.
Piñera beendete unterdessen die 20-jährige Ära, in der Chile nach dem Abgang des Diktators Augusto Pinochet (1973-90) von der „Concertación“ regiert wurde. Das technokratisch ausgerichtete Bündnis von Christ- und Sozialdemokraten hatte Pinochets neoliberales Wirtschaftssystem verfeinert und bei allen Fortschritten in der Armutsbekämpfung zugleich die tiefe Kluft zwischen Arm und Reich zementiert.
Piñeras Koalition aus Wirtschaftsliberalen und konservativen Katholiken sowie Ex-Pinochetistas, die „Allianz für Chile“, setzte den Kurs der Concertación fort, das allerdings mit bemerkenswertem politischem Ungeschick. Schamloser denn je bediente die „Regierung der Unternehmer“ ihre eigenen Interessen, vier Familienclans, darunter Piñeras eigenes Imperium, kontrollierten die Hälfte aller an der Wertpapierbörse in Santiago notierten Vermögenswerte. Diese und andere Oligarchien waren meist direkt in der Regierung vertreten, bildeten Kartelle und profitierten zudem von einem Steuersystem mit institutionalisierten Schlupflöchern für Großunternehmer.
Außerdem hängt Chile, ähnlich wie seine südamerikanischen Nachbarn, immer mehr vom Rohstoffexport ab, der 89 Prozent aller Ausfuhren ausmacht. Im letzten Jahrzehnt hat sich der Anteil des Bergbausektors auf ein Fünftel des Bruttoinlandsprodukts verdoppelt, und mehr als drei Viertel aller Sozial- und Umweltkonflikte werden durch Minen- oder Energieprojekte ausgelöst, die für den Bergbau erforderlich sind, etwa Staudämme oder Thermalkraftwerke. Allerdings haben sich – anders als in den fortschrittlich regierten Staaten Südamerikas – dadurch die Steuereinnahmen kaum erhöht, und auf den Bergbausektor entfielen 2011 gerade einmal 2,7 Prozent aller Arbeitsplätze. 2012 erzielten die ausländischen Konzerne in Chile Gewinne in Höhe von 16,4 Milliarden Dollar. Nach Angaben der UN-Wirtschaftskommission für Lateinamerika und die Karibik (CEPAL) wurde diese Zahl nur noch von dem 200-Millionen-Land Brasilien übertroffen.
Zwar wird Michelet Bachelet kaum in der ersten Runde der Präsidentschaftswahl am 17. November die absolute Mehrheit der abgegebenen Stimmen erzielen, denn unter den neun Kandidaten befinden sich weitere vier Progressive – die ausgewiesenen Linken Marcel Claude und Roxana Miranda, der Grüne Alfredo Sfeir und schließlich Marco Enríquez-Ominami, der vor vier Jahren immerhin auf 20 Prozent der Stimmen gekommen war. Doch spätestens im Dezember wird die Sozialistin triumphieren – Evelyn Matthei, die farblose Kandidatin der Rechten, ist chancenlos.
Eine Steuerreform, ein kostenloses Bildungssystem sowie eine neue Verfassung – so lauten die drei Hauptpunkte in Bachelets Wahlprogramm. Damit greift sie zentrale Forderungen aus dem Protestjahr 2011 auf, doch der Teufel steckt im Detail. Aufschlussreich ist der ziemlich detaillierte Fahrplan, den die Sozialistin drei Wochen vor der Wahl vorstellte: Innerhalb von hundert Tagen nach ihrem Amtsantritt im März 2014 soll es einen Gesetzentwurf mit dem Ziel geben, die Geschäftemacherei „im gesamten Bildungswesen“ zu beenden, doch im Hochschulbereich werde es sechs Jahre dauern, bis die „effektive universelle Kostenfreiheit“ erlangt sei. Privatschulen soll es auch weiterhin geben.
Ermöglicht werden soll die Bildungsreform durch eine schrittweise höhere Besteuerung von Unternehmen. Stärken will Bachelet zudem die Verhandlungsposition der Gewerkschaften. Für einen Gesetzentwurf zur Homoehe soll es eine „offene Debatte mit breiter Beteiligung“ geben. Bisweilen scheint es jedoch, die künftige Staatschefin wolle es möglichst allen Recht machen, auch dem Unternehmerlager. Letzteres hat sich der Nueva Mayoría bereits demonstrativ zugewandt.
Eine Verfassunggebende Versammlung, wie sie von großen Teilen der Linken gefordert wird und auf breite Zustimmung bei der Bevölkerung stößt, bleibt unwahrscheinlich. Bachelet will sich auf einen „legalen und verfassungsmäßigen Weg“ konzentrieren, die Hauptrolle käme damit dem neugewählten Parlament zu. Das wiederum wird auch künftig vom Parteienestablishment der letzten Jahrzehnte dominiert werden, das gründlich diskreditiert ist: Vier Fünftel aller Chilenen wollen sich mit keiner Partei identifizieren.
Doch Pinochets eigenwilliges „binominales“ Mehrheitswahlrecht lässt politischen Kräften außerhalb der beiden dominierenden Machtblöcke keine Chance, es garantiert dem unterlegenen Lager fast dieselbe Anzahl von Abgeordneten und Senatoren wie den Siegern.
Für die kommende Wahl hat Bachelet die Concertación, die Umfragen zufolge selbst von der breiten Ablehnung von Piñeras „Allianz“-Regierung nicht profitieren konnte, nach links geöffnet. Das Mitte-Links-Bündnis „Nueva Mayoría“ (Neue Mehrheit) umfasst nun neben Christ- und Sozialdemokraten die Kommunistische Partei, zwei kleinere Linksparteien sowie linksliberale „Unabhängige“. Aus diesem Spektrum werden je zwei Kandidaten in einem komplizierten Aushandlungsprozess für die Wahlkreise ausgewählt, drunter auch Camila Vallejo.
Bereits vor vier Jahren hatten ähnliche Absprachen die Wahl dreier kommunistischer Abgeordneter ermöglicht. Diesen Pragmatismus setzte die KP-Führung fort, als sie einwilligte, ganz offiziell in die Nueva Mayoría einzusteigen – trotz lauten Grummelns an der Basis, an der diese Linie häufig als Abrücken von den sozialen Bewegungen oder Kooptierung durch die Concertación interpretiert wird.
Ein Indikator für das weitverbreitete mangelnde Vertrauen in die Institutionen ist die Wahlbeteiligung: Viele Chilenen, gerade auch junge und politisch engagierte, werden am Wahlsonntag zu Hause bleiben. Vallejos früherer Mitstreiter Francisco Figueroa, der wie weitere Ex-Studentensprecher ebenfalls für das Parlament kandidiert, ist skeptisch: In ihrer ersten Amtszeit habe Bachelet nichts erreicht, „und jetzt will sie Teile der Bewegung absorbieren“. Der Übergang von der Diktatur zur Demokratie sei erst vollbracht, „sobald dieses Staatsmodell, die Merkantilisierung des Lebens, am Ende ist.“